
#8 - Jetzt war es raus
Nur war das nicht ganz so einfach, wie man sich das immer vorstellte.
Ich lag neben Pierre im Bett und starrte an die Decke. Ich konnte seinen ruhigen, gleichmäßigen Atem hören.
Alles verunsicherte mich. Die Welt verunsicherte mich.
Er verunsicherte mich.
Er hatte mich kurz geküsst, einen einzigen Kuss auf den Mund gedrückt und das war's. Einen einzigen Kuss. Wir hatten uns zwei Monate nicht gesehen, nicht berührt, nichts.
Ich drehte mich zur Seite und betrachtete Pierres schlafendes Gesicht. Beobachtete, wie er langsam atmete. Wie seine Lider ruhig über seinen Augen ruhten. Bemerkte, dass diese Falte zwischen seinen Augenbrauen sogar im Schlaf nicht verschwand.
Und dann drehte ich ihm den Rücken zu. Eine Träne lief über meine Schläfe und wurde vom Bezug meines Kopfkissens aufgesogen. Ich versuchte, tief durchzuatmen. Bloß nicht schluchzen. Nicht dass Pierre noch aufwachte.
War es normal, dass man nach nicht einmal drei Jahren Beziehung einfach nur noch nebeneinander her lebte? Dass man sich irgendwie liebte und irgendwie auch nicht? Dass man irgendwie nicht mehr zusammen sein wollte und es trotzdem war, weil man ohne den anderen doch irgendwie nicht konnte?
Das waren zu viele irgendwies.
Verzweifelt drehte ich mich wieder auf den Rücken. Dann richtete ich mich auf, glitt lautlos aus dem Bett und tapste aus dem Raum. Ich schloss die Tür hinter mir und ging in die kleine Küche unserer Wohnung. Keine Ahnung, wie viel Uhr es in Kalifornien war, aber der Jetlag haute gerade so richtig rein, denn müde war ich kein bisschen.
Ich fand im Kühlschrank einen ungeöffneten Weißwein und goss mir erst einmal ein Glas ein. Mein Handy, das auf dem Sideboard neben dem Kühlschrank lag und dort zum Laden angesteckt war, ignorierte ich.
Deprimiert und immer noch mit Tränen in den Augen setzte ich mich auf die Arbeitsplatte neben das Waschbecken.
Am liebsten hätte ich Sam angerufen. Hätte sie gefragt, was ich machen sollte. Doch das machte ich nicht. Erstens war es mitten in der Nacht – auch in London – und zweitens hatte sie mir schon mehrfach gesagt, was ich machen sollte. Und zwar nach richtigen Filmrollen streben. Und mir von ihr helfen lassen.
Ich konnte aber einfach nicht. Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber ich schaffte es einfach nicht.
Ich hatte es niemandem erzählt, aber ich war tatsächlich zu einer Audition für eine große Hollywood-Produktion eingeladen worden – und was hatte ich getan? Ich war nicht hingegangen. Und wieso nicht? Weil ... keine Ahnung.
Weil ich Angst hatte? Weil ich mir sicher war, dass das verlorene Lebenszeit war, weil ich die Rolle eh nicht bekam und nicht gut genug war?
Keine Ahnung.
Ich war an einem ziemlich dunklen Ort in meinem Leben, und da musste ich irgendwie rauskommen.
Ich kniff die Augen zusammen und schluckte schwer. Ich wollte es nicht laut aussprechen. Dieses eine Wort. Ich mied es schon seit Wochen, seit Ewigkeiten, doch es schlich sich rund um die Uhr durch meine Gedanken.
Depressiv.
Ich war depressiv.
So, jetzt war es raus.
Ich hatte Depressionen, und das schon seit einem geraumen Zeitraum, und sie wurden nicht besser, im Gegenteil. Ich wurde immer weiter in diesen Strudel gezogen. Nach unten. In die pure, beängstigende Dunkelheit.
Rauskommen tat ich da nicht mehr, hatte ich das Gefühl.
Ich tat ja auch nichts dagegen! Ich war wie versteinert, ich funktionierte nur noch, und das war's.
Eine Träne lief meine Wange hinab und ich presste mir die Hand auf den Mund, damit ich nicht laut losschluchzte.
„Jana?"
Schockiert sah ich auf. Pierre, in T-Shirt und Boxershorts und total verschlafen, stand im Türrahmen und sah mich besorgt aus seinen dunklen Augen an. Er rieb sich übers Gesicht und seufzte.
Diese Reaktion brachte mein Blut zum Wallen. Als wäre ich ein kleines Kind, das nicht gehorchte, und das einen nur noch zum Seufzen brachte.
„Was machst du hier?"
„Ich kann nicht schlafen", antwortete ich mit monotoner Stimme, drehte das Gesicht kurz beiseite und wischte die Träne unauffällig weg. Dann sah ich ihn wieder an. „Und was machst du hier?"
Es klang mehr wie eine Anklage als eine Frage.
„Ich bin aufgewacht und du warst nicht da und deine Seite vom Bett war ganz kalt, und dann habe ich dich gesucht."
Sein Blick sprang zu meinem Weinglas und dann zurück zu mir.
„Aha."
Wir schwiegen beide für einen Moment. Ich starrte auf meine nackten Knie, die von einer Gänsehaut überzogen waren.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Pierre.
„Nein." Ich war ausnahmsweise einmal ehrlich zu ihm. Ich hatte ihn schon oft genug an diesem Tag angelogen.
„Was ist los?", erkundigte er sich sanft.
„Ich bin einfach fertig vom Flug, der Jetlag hat eben richtig reingehauen."
Und vorbei war es mit der Ehrlichkeit, willkommen zurück, Lügen.
„Okay ..." Er räusperte sich. „Und du bist dir sicher, dass das das Einzige ist, was dich beschäftigt?"
„Nein." Ich sah ihn an und mein Blick brannte sich in seinen. „Warum fasst du mich nicht mehr an?"
„Was?"
„Du hast mich ganz genau verstanden", fuhr ich ihn an und spürte, wie die Wut wie ein magisches Elixier durch meine Adern schoss und mich mit Mut segnete. „Du hast mich einmal kurz geküsst und das war's. Wir haben uns seit zwei Monaten nicht gesehen, und du küsst mich für nicht einmal eine halbe Sekunde und das war's? Du erzählst mir, dass alle sagen, du sollst dich von mir trennen? Du fährst mich an, weil wir uns so wenig gehört haben in den letzten Wochen? – Und jetzt besitzt du die Dreistigkeit und fragst mich wirklich, ob der Jetlag das Einzige ist, was mich beschäftigt?" Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Nein, Pierre, es ist nicht das Einzige, was mich beschäftigt. Mir geht es scheiße. Ganz einfach."
„Jana, ich –"
„Ich will deine Entschuldigungen und Ausreden nicht hören, Pierre", schnitt ich ihm da Wort scharf ab. Er verstummte auf der Stelle. „Ich will sie nicht hören. Ich will auch nicht, dass du dich vor deinen Freunden und deiner Familie immer erklären musst, wieso du so eine Loser-Freundin hast."
Ich starrte ihn an und die Tränen waren wieder zurück. Verbissen hielt ich sie zurück. Ich würde nicht weinen. Auf keinen Fall.
„Es tut mir Leid, dass ich nicht so perfekt wie du bin", fuhr ich fort und warf die Hände in die Luft. Meine Stimme triefte vor Sarkasmus und wenn ich ein Hund wäre, hätte ich jetzt mit meinen Zähnen gefletscht. „Es tut mir Leid, dass ich kein wundervolles Bachelorstudium abgeschlossen habe und nun einen Master mache so wie du. Es tut mir Leid, dass ich nicht mal die Schule abgeschlossen habe und am Anfang der elften Klasse abgebrochen habe. Meinst du, ich bin blöd und habe deinen Blick nicht gesehen, als du erfahren hast, dass ich die Schule geschmissen habe?!"
„Ernsthaft, Jana? Das ziehst du jetzt hier rein?"
„Ja, Pierre, das ziehe ich jetzt hier rein, denn genau darum geht es mir!", rief ich erbost und sprang von der Arbeitsplatte. Meine Augen funkelten wütend und ich konnte mich kaum noch in Zaum halten. So viele Emotionen hatten mich schon lange nicht mehr gleichzeitig durchflutet. Wut, Verzweiflung, Stolz, Verletztheit, Angst. Ich war kurz davor, zusammenzubrechen.
„Mir geht es darum, dass ich mit allem unzufrieden bin, einfach allem, inklusive dir! Dass ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll, dass ich am Ende meiner Kräfte bin, dass ich einfach nicht mehr kann, aber das verstehst du nicht!"
Er sah mich einfach nur schweigend an.
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