
#35 - Es tut mir leid.
Für einen Moment sah ich ihn perplex an, dann zuckte ich mit den Schultern.
„Wie waren denn deine letzten fünf Jahre?", entgegnete ich und versuchte, möglichst lässig zu klingen, wobei ich zu 107 Prozent kläglich scheiterte. Luke war doch nicht doof, der hatte doch sicher schon gemerkt, wie nervös und dämlich und kleinkindmäßig ich hier vor ihm saß. Mutter Maria, wieso war ich nur so?!
„Diese Frage habe ich dir gestellt", sagte Luke und ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, während er mich weiterhin seelenruhig betrachtete.
Es war ungewohnt, dass jemand einen heute noch sah. Die Leute starrten so viel auf Bildschirme, hatten Musik auf den Ohren, wurden immer mit irgendwas zugeballert, dass es wirklich seltsam war, wenn man jemanden nicht nur anguckte, sondern ihn auch sah.
Unwillkürlich wand ich mich ein wenig unter dem intensiven Blick seiner strahlend blauen Augen.
Es war komisch.
Es war einfach urkomisch, dass ich hier in diesem wackelnden Flugzeug auf dem Weg in die USA gegenüber von Luke Hemmings saß und er Smalltalk mit mir betreiben wollte.
War das Smalltalk? War es nur Dahergerede, wenn man sich nach dem Leben einer anderen Person erkundigte? Eigentlich ja nicht, oder? Gerade noch konnte ich mich zurückhalten, nicht die Definition von Smalltalk zu googeln.
Ach, konnte ich ja eh nicht, ich befand mich ja hier ein paar Kilometer über der Erdoberfläche, da konnte ich ja gar nicht googeln.
„Meineeeeee letzten fünf Jahreeee..."
Ich zog die Worte lächerlich in die Länge, um mir ein wenig Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Ich hatte nämlich absolut keine Antwort parat. Keine spontane und schon dreimal keine vorbereitete. Er hatte mich mit dieser Frage wirklich eiskalt erwischt.
Ohne es zu bemerken, hatte ich die Luft angehalten. Auf einmal stieß ich sie wieder aus und sackte dabei ein wenig in mich zusammen. Ich zuckte mit den Schultern und sah ihn endlich wieder an.
„Keine Ahnung, Luke" – es fühlte sich so komisch an, seinen Namen auszusprechen und damit wirklich ihn zu meinen – „vor fünf Jahren war ich 16, da war mein Leben scheiße, dann wurde es noch beschissener, dann habe ich die Schule geschmissen, dann wurde es besser und besser, dann habe ich meine Schauspielausbildung gemacht, dann habe ich begonnen, mich als Schauspielerin durchzuschlagen, dann wurde es wieder beschissener, dann bin ich nach LA gezogen, dann wurde es noch beschissener, und jetzt bin ich fast 22 und es wurde..."
Ich stoppte.
Ja, was war jetzt?
Jetzt war ich das Elend in Person, wenn man es genau nahm. Ein kleines, mickriges Häufchen Elend.
„Jetzt weiß ich nicht so wirklich, wo ich im Leben stehe." Das war doch eine nette Zusammenfassung meiner beknackten Situation.
„Naja, grad sitzt du ja", zwinkerte er mir zu und ich verdrehte die Augen, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Luke wurde wieder ernst. Er zog die Kapuze seines 5SOS-Sweatshirts zurecht und sagte dann: „Das klingt nach einer ganz schönen Masse an Ereignissen, die du da durchlebt hast."
Unter seinem mitfühlenden und gleichzeitig interessierten Blick wand ich mich ein wenig. Ich hasste es, wenn die Aufmerksamkeit so auf mir lag und ich nicht wusste, was ich tun sollte.
„Ja. Aber nicht so viel wie du", gab ich zurück und spielte ihm ganz galant den Ball der Fragen zurück. „Drei Alben? Drei Welttourneen?"
„Hah, da hat jemand Wikipedia auswendig gelernt oder wie?", fragte er grinsend.
Wieder verdrehte ich die Augen. Allerdings konnte ich das nicht bestreiten.
„Ja, es war schon eine krasse Zeit für unsere Band", meinte Luke und starrte dabei ein wenig in die Ferne, als würde er gerade alles im Kopf Revue passieren lassen. „Unser erstes Album ist eingeschlagen wie eine Bombe, das zweite dann sogar noch mehr. Aber ich brauche dir ja nicht davon erzählen, das hast du ja wahrscheinlich sowieso mitgekriegt."
Ich sagte nichts.
Und immer noch nichts.
Verzog den Mund ein wenig in die Breite wie ein ulkiger Frosch – und sagte immer noch nichts.
Beinahe konnte man die Grillen leise zirpen hören.
„Warte."
Luke kniff ein wenig die Augen zusammen und lehnte sich nach vorne. Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich und fragte erstaunt: „Wieso guckst du so?"
„Wie gucke ich denn?", entgegnete ich.
„Naja, so...beschämt? Betreten? Belustigt?", schlug er vor.
„Okay, ehrlich gesagt habe ich einen riesigen Bogen um die Band 5 Seconds Of Summer gemacht, sodass ich bis vor ein paar Tagen absolut überhaupt nichts über euch wusste."
So. Jetzt war es raus.
„Ist nicht wahr."
Lukes Augenbrauen wanderten nach oben, und ich schob schnell hinterher: „Doch, ist es. Keine Ahnung, alles war so scheiße damals, und meine Art von Problembewältigung ist, die Probleme so lange von mir wegzuschieben, bis sie sich magisch von selbst auflösen. Oder zumindest versuche ich das, und manchmal klappt es sogar. Ich habe also die letzten fünf Jahre nichts von 5SOS mitbekommen und habe absolut keinen Plan, was ihr so in den letzten fünf Jahren gemacht habt."
„Okay. Ja. Versteh ich."
„Ehrlich?"
Ich war ganz erstaunt, dass er nicht über mich lachte und den Kopf schüttelte.
„Ja. Wieso solltest du dich noch mit meiner Band befassen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst."
Wow. Das kam jetzt aber unerwartet.
„Das war jetzt aber schon ein bisschen hart", meinte ich und meine Stimme klang ein wenig verschnupft. Mit reserviertem Gesichtsausdruck zog ich die Fleece-Decke wieder ein wenig höher und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
Luke verstand meine Abwehrhaltung bestens, doch er stand zu seiner Meinung und ruderte nicht zurück.
„Das hast du damals geschrieben, Jana", erinnerte er mich nämlich. „Du hast wortwörtlich geschrieben, du möchtest nichts mehr mit mir zu tun haben und dass ich dich in Ruhe lassen soll."
Ich senkte den Blick und vergrub dann das Gesicht in den Händen.
„Oh mein Gott, ich–"
„Das hast du geschrieben!"
„Pssscht!", kam wieder von irgendwo.
Wir hielten beide kurz inne, ich hob mein Gesicht aus meinen Händen und funkelte ihn an.
„Um Himmels Willen, Luke, ich war 16!", zischte ich und wedelte wild mit den Händen in der Luft herum. „Ich war jung und naiv und das tut mir leid, aber–"
„Was?"
Ich stoppte und starrte ihn mit großen Augen an.
„Was?", echote ich verwirrt.
„Was hast du gerade gesagt?", murmelte Luke und ich war mir nicht sicher, ob sein Blick flehend war oder ob er so weich war, weil er mich für meine behämmerte Dummheit bemitleidete.
„Was meinst du? Dass ich jung und naiv war?"
„Nein."
„Dass es mir leid tut?"
Ah. Natürlich wollte er darauf hinaus. Mann, Jana, manchmal war deine Leitung so lang wie Kylie Jenners Extensions.
„Ja."
„Glaubst du mir nicht?", wisperte ich. „Glaubst du mir nicht, dass es mir leid tut?"
Ein dicker Kloß war in meinem Hals entstanden.
Zu meiner Überraschung nickte Luke.
„Doch, das glaube ich dir", murmelte er. Er blickte nach unten und strich mit den Fingern über den Saum seines Pullovers, dann fanden seine Finger ein loses Fädchen, an dem sie herumzupften.
„Es ist nur einfach schön, dich das sagen zu hören."
Ich kapierte nur Bahnhof. „Wieso?"
„Jana." Er hob den Blick wieder und verhakte ihn mit meinem. Ich konnte nicht wegsehen. Hellblau. Hellblau. Hellblau. Hellblau. Hellblaaaau.
„Jana, nicht nur du hast an der Sache zu knabbern gehabt. Ich habe dich nie vergessen, du warst immer irgendwie präsent in meinem Kopf. Wahrscheinlich, weil ich nie abschließen konnte, weil für mich so vieles keinen Sinn ergeben hat. Ich habe nie wieder etwas von dir gehört, und das hat mich fuchsig gemacht. Ich habe zwar gelernt, mit dieser Last zu leben, aber jetzt..."
„Jetzt kannst du endlich mit mir abschließen, weil du eine aufrichtige Entschuldigung von mir gehört hast", schlussfolgerte ich tonlos.
Innerlich beglückwünschte ich mich für meine Blödheit und trat dem Schicksal kräftig in den Hintern, weil es mich natürlich wieder so weit von Luke wegkatapultierte, wie es nur konnte.
Aber wollte ich das nicht so? Wollte ich nicht Abstand zu ihm haben, weil es das Beste war? Wollte ich nicht, dass er mit mir abschloss und ich mit ihm abschloss und wir die nächste Zeit eine professionelle Berufsbeziehung führen konnten, damit das Musikvideo und der Film ein Erfolg wurden?
Ja.
Ja, natürlich wollte ich das.
Oder ich sollte es wollen.
Denn dass ich es wollte, war ehrlich gesagt nicht so klar.
Herz und Hirn, die beiden mal wieder. Keiner wollte das, was der Andere wollte. Oder beide wussten nicht einmal, was sie wollten.
„Jana?"
„Hm?"
„Hast du mir grad zugehört?"
„Ja. Die Antwort ist nein, ich werde dir nicht sagen, in was für Filmen ich mitgespielt habe, sonst googelst du sie und schaust sie dir an", beantwortete ich seine Frage mit hochgezogenen Augenbrauen.
Er grinste mich schelmisch an.
„Ach, ich frage einfach Sam oder Harry, die können mir das doch sicher auch sagen, oder?"
„Wehe, du machst das", grummelte ich. Ich hasste es, wenn Leute nach meinen bisherigen schauspielerischen Erfolgen fragten. Es erinnerte mich nur daran, dass es sie nicht gab.
„Sag mal" – ich wollte einfach auf Biegen und Brechen das Gesprächsthema wechseln, doch wenn ich gewusst hätte, was ich da gerade für ein Minenfeld an Emotionen betrat, hätte ich diese Frage nienieniemals gestellt und mich lieber weiter von ihm piesacken lassen – „was ist eigentlich der Titelsong des Films, für den wir das Musikvideo drehen?"
Sofort hellte sich Lukes Gesicht auf und er strahlte mich an. Uff, da wurden ein paar Schmetterlinge in meinem Bauch geboren, nein nein nein, nicht gut!
„Möchtest du ihn hören?"
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