It's not easy to be me #30
Ich wurde von einem lauten Rumoren aus dem Schlaf gerissen. Müde rieb ich meine Augen. Ich drehte mich um, doch das Bett neben mir war leer. Als ich mich aufsetzte sah ich endlich, woher der Lärm kam. Ally kramte in meinem Kleiderschrank herum.
"Was tust du da?", fragte ich schlaftrunken.
Ohne zu antworten zog sie den roten Pullover, den Ann mir vor Jahren gekauft hatte, aus dem Kasten und warf ihn mir zu. Verwirrt schaute ich das Kleidungsstück an, dann schaute ich sie an.
"Was soll das?", fragte ich, nachdem sie nur mit den Schultern gezuckt hatte.
"Na zieh ihn schon an", lautete die knappe Antwort.
"Bist du verrückt? Der ist hässlich." Ich warf das Ding von mir.
Sie zog eine Augenbraue hoch und kam auf mich zu. "Nur weil er rot ist?"
"Ähh.. ja? Du weißt, wie sehr ich Farbe hasse."
"Zieh ihn an, für mich. Nur einmal, wenn es dir nicht gefällt, kannst du ihn gleich wieder ausziehen."
Stöhnend verdrehte ich die Augen, griff jedoch trotzdem nach dem roten Kleidungstück und zog es widerwillig an. "Zufrieden?"
Ohne ein Wort zu sagen, wies Ally auf den Spiegel, der in meinem Zimmer hing. Ich stand auf und schaute mich hinein.
Es war ein ungewohntes Bild. Es sah komisch aus, ich mit einem roten Pullover. Seit Jahren hatte ich so etwas nicht mehr getragen. Dass es hässlich war konnte ich jedoch nicht behaupten, und auch das unwohle Gefühl war plötzlich viel weniger präsent als noch eine halbe Minute zuvor.
Es war komisch, ja, aber nicht so schrecklich wie erwartet.
Ich drehte mich zu Ally um. Sie stand lächelnd an meine Kommode gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. "Und?"
"Okay, ich geb's ja zu... es ist nicht so schlimm, wie ich erwartet hätte."
"Dann gehen wir's an." Sie stieß sich von der Kommode ab.
"Was gehen wir an?"
"Dein Zimmer."
Zielstrebig ging sie auf meinen Schreibtisch zu, der am Ende des Zimmers stand. Von dort aus musterte sie den ganzen Raum, das Mädchen wirkte wie eine Architektin, extrem konzentriert. Bei dem Anblick musste ich das Lachen zurückhalten.
"Die Wände sind ein wenig kahl, findest du nicht?", fragte Ally mit schiefgelegtem Kopf.
"Schon", lautete meine Antwort. Wäre vor zwei Monaten jemand in mein Zimmer gekommen, hätte meinen Kleiderschrank ausgeräumt, mich gezwungen, einen roten Pullover anzuziehen und hätte behauptet, meine Wände wären zu kahl, hätte ich ihn wahrscheinlich zusammengeschlagen.
Doch mittlerweile hatte das Blatt sich gewendet. Und ich wusste nicht einmal warum.
"Was hältst du von ein paar Bildern?"
Ich zuckte die Achseln.
Sie begutachtete die nicht ordentlich verputzte Wand. Ann hatte mir mehrmals angeboten, sie streichen zu lassen, doch ich war immer dagegen gewesen. Jetzt waren überall Risse und Schmierer.
"Oder du lässt es gleich frisch ausmalen", mutmaßte Ally.
Ich zuckte erneut nur mit den Achseln. Etwas Besseres viel mir als Antwort nicht ein, schon allein aus dem Grund, dass ich selbst überhaupt keine Ahnung hatte, warum ich es zuließ, dass sich jemand so sehr in mein Leben einmischte.
"Willst du das überhaupt?", fragte sie nun leiser, fast schon zögerlich.
Da hatten wir es schon. Ich wollte es schon, aber warum? Das verstand ich nicht ganz, eigentlich verstand ich es so gar nicht.
Als ich doch in ihre hellblauen großen Augen blickte, wusste ich es. "Ja."
"Wie willst du denn, wie es aussehen soll?"
"Ich weiß es nicht", gab ich zu, "Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht."
"Welche Farbe willst du es streichen?"
"Keine Ahnung. Grün? Blau? Wie streicht man denn ein Zimmer?"
Ich wusste, dass ich es nicht rot oder orange oder gelb oder so streichen wollte, schließlich war ich doch kein Mädchen. Früher hätte ich sowieso schwarz gesagt, doch jetzt nicht mehr. Trotzdem hatte ich keine Lieblingsfarbe außer eben grau und grau war es ja schon."
"Also ich finde rot steht dir ganz gut."
"Meine Zimmerwände müssen mir aber nicht stehen", entgegnete ich.
"Da hast du auch wieder recht." Sie lachte leicht. "Also ich finde blau und grün schön. Aber wir können ja mal bei einem Maler nachfragen."
Ich nickte. "Können wir machen. Aber später."
Ally ging wieder auf meinen voll geräumten Schreibtisch zu. "Brauchst du das alles noch?", fragte sie und zeigte dabei auf die Unmengen an Zetteln, die die Holzplatte restlos überdeckten.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, sind nur Hausaufgaben."
"Also brauchst du sie noch."
"Nein. Solange meine Arbeiten positiv sind, kann ich das Jahr sowieso nur bestehen und ob ich es mit Sehr gut oder Genügend minus bestehe ist mir relativ egal und Ann sagt auch nur, ich soll einfach durchkommen."
"Dann kann ich es also wegschmeißen?"
"Gerne."
Ally nahm einen Stapel Papierkram und stopfte ihn in den Mistkübel neben dem Tisch. Doch bevor sie das tat zog sie noch einen hellblauen Zettel heraus.
"Homecoming Ball", las sie laut vor, "Das ist doch cool."
"War letzten Freitag", entgegnete ich gleichgültig.
Nadja hatte mir diese Einladung mit einem breiten Fake-Grinsen und den Worten 'bring doch einen deiner Psycho-Freunde mit' zu gesteckt und war dann mit ihren schwarzen Klapper-Schühchen davon stolziert. Sobald ich das Haus betreten hatte, war das Blatt in den Müll gewandert.
"Bälle sind scheiße", fügte ich noch schnell als Erklärung hinzu, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatte, nachzufragen.
Ally hob die Schultern. "Ich würde gerne mal auf einen gehen."
"Echt jetzt?"
"Ja, warum nicht?"
Ich zuckte mit den Achseln. "Da gehen doch nur die Versager hin."
"Bist du dir da sicher? Oder sagst du das nur, weil du selbst nicht als Versager da stehen möchtest?"
Ich hob die Schultern. "Wie auch immer. Was machen wir jetzt aus dem Zimmer?"
"Mick", lachte Ally. Warum sie lachte, wusste ich nicht so genau. Mir war auf jeden Fall nicht zum Lachen.
"Willst du dir nicht auch mal neue Kleidung kaufen?", fragte sie nach einer Weile.
"Warum? Die alten sind doch noch gut."
"Schon, aber sie sind alle so... grau."
"Ja und?" Ich verstand nicht, was sie an meiner Garnitur schon wieder auszusetzen hatte. Klar, sie war nicht so bunt wie ihre, jedoch war das noch lange kein Grund, um massenweise Geld für neue Sachen auszugeben.
"Ich dachte, du wolltest dich verändern?"
"Hast du eigentlich vor nichts Angst?"
"Was?"
"Du spazierst hier herein, drehst mein Leben um, ohne jegliche Angst, dass da was schiefgehen könnte."
"Stört dich das denn?"
"Nein", sagte ich viel zu schnell, "ich will nur wissen, ob es nicht irgendwas gibt, vor dem du Angst hast."
"Um ehrlich zu sein, hab ich Angst vor allem."
"Ach ja?" Ich hatte immer das Gefühl gehabt, als wäre das Mädchen komplett furchtlos.
"Ich hab zum Beispiel Angst vorm Fliegen."
"Bist du noch nie geflogen?"
"Nein, wo sollte ich denn hin fliegen?"
"Keine Ahnung, auf Urlaub?"
"Mit Ashley, der dummen Bitch? Darauf kann ich verzichten."
Als ich merkte, was für eine Wunde ich gerade wieder aufgerissen hatte, wollte ich sofort wieder das Thema ändern, also sagte ich: "Um auf das ursprüngliche Gespräch zurückzukommen, von mir aus könne wir einkaufen gehen."
"Weißt du jetzt schon, welche Farbe du magst?", sie machte eine kurze Pause, "außer grau."
"Nein, aber ich will er herausfinden", antwortete ich.
"Also gehen wir?" Sie nickte in Richtung Tür.
"Ja, gehen wir."
"Hast du Geld?", fragte sie, als wir schon fast bei der Tür waren.
"Dritte Lade von oben, Regal beim Telefon", überlegte ich laut, während ich mir meinen Mantel schnappte. Ally hatte sich schon umgedreht und irgendeine Lade aufgezogen. Solange mein Konto gesperrt war, hatte ich schließlich keine andere Wahl, als Anns Geld auszugeben.
"Dritte Lade von oben", lachte ich. Doch als ich den Inhalt der gerade geöffneten Schublade sah, stockte mir der Atem. Es befanden sich haufenweise Sterbeanzeigen darin - was diese Frau alles in dieser Kommode aufbewahrte war schon verwunderlich.
Ich nahm den obersten Zettel heraus. Veronica Witherspoon - 15.3. 2015
Da erinnerte ich mich. Ann war zu dieser Zeit ständig traurig gewesen, hatte manchmal sogar geweint. Sie hatte oft gesagt, dass sie ihr fehlte, jedoch war mir nie klar gewesen, um wen es ging und ich wollte mir auch nicht die Mühe machen, nachzufragen. Die beiden waren wirklich beste Freundinnen gewesen, hatten manchmal stundenlang telefoniert. Wenn sie sich getroffen hatten, hatten ihre Gespräche Ewigkeiten gedauert, als ich noch kleiner gewesen war, hatte ich immer mitkommen müssen.
Warum hatte Ann mich angelogen?
Doch die viel wichtigere Frage war, wo war sie jetzt, wenn nicht bei Victoria?
"Was ist los?", fragte Ally, als sie den erstarrten Ausdruck auf meinem Gesicht sah.
"Ann ist nicht bei einer Freundin. Und ich habe das Gefühl, dass ihre Abwesenheit nichts Gutes bedeutet."
"Wo soll sie aber sonst sein? Hat sie andere Freundinnen oder Bekannte?"
"Nicht, dass ich wüsste. Ach, keine Ahnung! Ich habe die letzten Jahre so wenig auf sie geachtet, ich kenne sie überhaupt nicht mehr!" Meine Stimme war laut, ein Schreien. Obwohl ich nicht einmal wusste, warum ich so hysterisch war, musste ich wissen, wo Ann war.
"Was hat sie alles mitgenommen?", fragte Ally, die Stirn in Falten gelegt.
Ich fuhr herum. Alles sah eigentlich aus wie immer. Schnell stürmte ich die Stufen hinauf und rannte in ihr Zimmer. Auch dort wirkte alles wie immer. Ihr Kleiderschrank war mit tausenden Blumenkleidern gefüllt und daneben hingen ihre ungefähr zwanzig Mäntel - alle nach dem gleichen Model geschneidert. Auch der große, braune Lederkoffer stand wie üblich in der Ecke des Raumes. Anscheinend hatte sie wirklich keinen all zu langen Aufenthalt geplant - wo sie sich auch immer aufhielt.
Ich ging wieder hinunter zu Ally. Warum fing ich plötzlich an, mir um Ann Sorgen zu machen? Schließlich hatte ich sie die letzten Jahre praktisch ignoriert.
"Mick, der Anrufbeantworter blinkt!"
Mit schnellen Schritten ging ich auf das Telefon zu. Gott sei Dank hatten wir so ein altes Ding.
Ich drückte auf Abhören. Die Stimme, die ich zu hören bekam, erschreckte mich noch viel mehr, als die ganze präsente Situation. Ich erstarrte.
"Du weißt, ich will nichts von dem scheiß Bengel hören, aber ausreden kann ich dir die ganze Situation sowieso nicht mehr. Wenn es unbedingt sein muss, komm, aber lange werde ich nicht mehr bleiben. Und merk dir endlich meine Adresse!"
"Wer ist das?", fragte Ally zögerlich, als sie sah, wie steif mein ganzer Körper geworden war.
"Mein... mein.... Vater..." Meine Stimme war nur ein fast lautloses Flüstern.
"Dann ist Ann bei ihm", schlussfolgerte sie.
Ich nickte.
"Wir müssen auch dort hin."
"Was?!" Ich hatte mich wider gefangen. "Der Kerl hasst mich!"
"Und du ihn nicht?", ihre Stimme wurde milder, "Ich habe meine Mutter an einen anderen Mann verloren und meinen Vater an eine andere Frau. Du hast deine Mutter an den Krebs verloren und deinen Vater an ihn selbst. Hol ihn dir zurück! Deine Mutter wird genauso wie meine nicht mehr zurückkommen, aber du hast die Chance dir deinen Vater wiederzuholen, dir steht keine Ashley im Weg, sondern nur du selbst und er selbst. Komm schon Mick!"
Wieder standen ihr Tränen in den Augen.
"Ally, das kann ich nicht..."
"Doch, du kannst, das weiß ich. Du bist stark und mutig. Komm schon, hör auf, dir selbst im Weg zu stehen."
"Aber was, wenn..."
"...es nicht funktioniert? Dann fahren wir wieder zurück. Was hast du zu verlieren?"
"Wir?"
"Glaubst du, ich lasse dich im Stich?"
"Dann gehen wir! Die Frage ist nur, wohin?"
"Keine Ahnung, wo dein Vater wohnt."
"Und es ist schon wieder vorbei."
"Jetzt gib nicht so schnell auf."
Ich seufzte und ließ mich auf den Fußboden fallen, Ally setzte sich neben mich. Gemeinsam schauten wir uns im Raum um und plötzlich wirkte das Haus so fremd für mich. Vor uns stand das große, braune Regal mit dem Telefon und einem Haufen Zeitungen darauf, darüber hing ein Bild von Monet, das Seerosen zeigte. Daneben war ein Notizblock in Form einer Eule an die Wand gepinnt, den ich in der Volksschule einmal gebastelt und Ann zum Muttertag geschenkt hatte. Sie verwendete das Ding immer noch, weil sie sich während einem Telefonat ständig Notizen machte, um nichts zu vergessen.
Ich stand auf, um die aktuelle Notiz besser entziffern zu können. Es war eine Adresse. Tulsa - E 11th St, 34f/4
Da leuchtete es mir ein. Ich sprang auf. "Ally, das ist die Adresse! Da müssen wir hin."
"Tulsa, das ist in Oklahoma."
"Scheiße, wie kommen wir da hin?"
"Wir fliegen." Ally stand schon wieder und machte sich auf den Weg zur Tür.
"Aber du hast doch Angst vorm Fliegen, das hast du..."
"Mick", sie nahm lächelnd meine Hand, "Ängste sind da, um überwunden zu werden."
Sie zog den Umschlag mit dem Geld aus der Kommode und zog mich stürmisch hinaus in die kühle Herbstluft.
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