Kapitel 2 - Ismael
Ismaels Sicht
„Ey! Was machst du da?! Hau sofort ab, du Penner!", erschrocken fahre ich zusammen, als mich eine harsche Stimme anschreit. Schnell schaue ich vom Brief auf.
Ein grosser, muskulöser Mann kommt auf mich zu gerannt und will mich aus einem mir nicht bekannten Grund verjagen. Ich bleibe aber nur verwirrt am Tor zum Waldheim stehen. Karl Forster kennt mich doch? Vor drei Wochen hatte ich bei ihm ein Vorstellungsgespräch für das Praktikum und wurde offensichtlicherweise angenommen.
„Verschwinde! Sonst rufe ich die Polizei!", brüllt er schon wieder. Ich will verwirrt protestieren, aber da ist er schon so nahe, dass ich direkt in das wütende Gesicht meines neuen Chefs schaue.
Der ist ja sympathisch...
Plötzlich ändert sich Karls Ausdruck – seine Gesichtszüge entspannen sich und er grinst.
Ich weiss schon jetzt, dass ich diesen Mann nicht mag. Er ist respektlos, aggressiv und kann sich viel zu gut verstellen, als gesund für die Menschen in seinem Umfeld ist.
„Also wirklich Ismael, du solltest dort nicht so rumstehen", anscheinend hat Karl mich jetzt erkannt. „Hast ausgesehen wie einer dieser Flüchtlinge! Die stehen immer dort, glotzen und betteln. Gleich rausschmeissen sollten wir sie! Die haben hier einfach nichts zu suchen!", regt Karl sich auf. Fassungslos muss ich mich beherrschen ihn nicht einfach nur anzustarren. Was ist das denn für ein Rassist?!
„Übrigens: Wir duzen uns alle hier! Ich bin Karl."
Wir schütteln Hände und begrüssen uns formell, während ich noch immer geschockt über seine Aussagen bin. Aber ich sage nichts dazu, denn erstens ist er mein Chef und zweitens kennen wir uns erst seit kurzem. Zuerst muss ich mir ein genaueres Bild von ihm machen.
Er hat seine braunen Haare hochgegelt: Es sieht aus, als wäre er dafür 'ne halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden. Ich nehme ausserdem an, dass er mehrmals wöchentlich ins Fitnessstudio geht, so wie sein Oberkörper aussieht. Karl trägt figurbetonte Klamotten, sonst wären die vielen Stunden Fitness ja umsonst.
Vielleicht ist das ein Vorurteil, aber ich denke, er ist ein arroganter Frauenschwarm. Und ich muss sagen, der Name Karl passt echt gut zu ihm.
Wir gehen in das Hauptgebäude von Waldheim, wo Karl mir ein paar administrative Sachen erklärt. Danach führt er mich in einen Raum, der aussieht wie ein Pausenraum für Lehrer, in diesem Fall aber für Betreuer ist. Dort bekomme ich ein Fach, wo ich meine Unterlagen ablege. Eine Frau Mitte dreissig kommt auf uns zu und schüttelt mir die Hand. „Du musst dann wohl Ismael Kayn sein", stellt sie gelangweilt fest. „Ich bin Abigail Schmid und werde dir deine Gruppe Kinder vorstellen." Na da wundere ich mich doch, ob Abigail's Abi geil war.
Schnell verabschiede ich mich von Karl und lasse mir von Abigail Küche, Esszimmer, Toiletten und zwei Wohnzimmer zeigen. Dieses Kinderheim ist echt gross.
Dann sind endlich die drei Kinder an der Reihe. Ich bin aufgeregt, weil ich bisher noch nie so intensiv mit einzelnen Kindern gearbeitet habe. Bisher waren es immer grössere Gruppen.
Abigail sagt, die drei sind in ihren Zimmern, weshalb wir jetzt in den dritten Stock gehen. Alle ihre Zimmer sind anscheinend auf dieser Etage. Auf der rechten Seite die Jungs, auf der linken die Mädchen. Also nach rechts zu einem kleinen Zimmer. Wir bleiben in der Tür stehen und Abigail hält einen Monolog über das was schon im Brief stand. Ich höre mit einem Ohr zu und sehe mich ein wenig um. Das winzige Zimmer ist länglich, auf der einen Seite ein Kinderbett, auf der anderen schmale Einbauschränke. Gegenüber von der Tür ist ein Fenster, davor ein kleiner Schreibtisch.
Abigail macht gerade eine Verschnaufpause in ihrem Redefluss, was mir die Gelegenheit gibt, ein paar Fragen zu stellen: „Warum hat Elliot ein Einzelzimmer? Ich dachte, die meisten kleinen Kinder würden Zimmer teilen?" – „Tun sie auch. Nur er hat sich nicht wohl gefühlt, wurde immer gehänselt, weshalb Malea sich dafür eingesetzt hat, dass er ein Einzelzimmer bekommt. Was, wie du sieht, auch geklappt hat", antwortet Abigail gelangweilt.
Jetzt werde ich immer neugieriger auf diese Malea. Wie sie wohl ist?
Abigail streicht sich über den grauen Rock, zieht den braunen Pferdeschwanz straff und erzählt dann weiter weshalb Elliot im Kinderheim ist. Ich höre ihr nicht mehr zu, da ich es schon gelesen habe.
Elliot sitzt auf einer Spielzeugmatte, die einen Dschungel darstellt, inmitten seines Zimmers. Der blonde Junge bewegt kleine Plastik Tiere mit seinen Händen, ganz versunken im Spiel. Anscheinend hat er uns noch gar nicht bemerkt. Dies ändert sich allerdings, als die Gelangweilte mit ihrem Monolog fertig ist. „Elliot", sagt sie nicht mehr ganz so gelangweilt, sondern eher sanft. Er sieht auf und mustert uns aus süssen hellblauen Augen.
„Das ist Ismael, der neue Praktikant, von dem ich dir erzählt habe. Er ist nun zuständig für dich, Fiona und Malea", erläutert Abigail. Elliot nickt langsam, scheint nicht besonders froh über meine Anwesenheit zu sein. Hoffentlich ändert sich das, wenn wir uns besser kennenlernen.
Abigail erzählt ihm noch, dass er in fünfzehn Minuten unten im kleineren Wohnzimmer sein sollte, damit wir uns kennenlernen können. Dann spielt Elliot weiter und ich schliesse leise die Tür, damit wir zu Fiona gehen können.
Ihr Zimmer ist ein wenig grösser aber ähnlich eingerichtet wie das von Elliot. Ikea Möbel in schlichten Farben. Anscheinend ist das die Grundeinrichtung in allen Zimmern. Es ist knallgelb gestrichen und hat ein grosses Fenster, weshalb man sich sofort wohlfühlt. Als wir eintreten, sitzt Fiona auf ihrem Bett, starrt gebannt auf ihr Handy und spielt mit einer ihrer roten Locken, die unter den Kopfhörern hervorschauen. Im einfallenden Sonnenlicht sieht es aus als würden die vielen Sommersprossen auf ihrer Nase tanzen.
Abigail zitiert eine Weile weiter ihren Brief, bis sie zu Fiona geht und ihr die Kopfhörer abnimmt. Ich folge und sehe, dass Fiona sich ein Video über Klettertechniken angesehen hat.
„Fiona? Kannst du in einer Viertelstunde nach unten kommen? Heute lernt ihr den neuen Praktikanten Ismael kennen", die Betreuerin zeigt auf mich und ich will gerade etwa sagen, da unterbricht Fiona mich harsch. „Unterbrecht mich gefälligst nicht! Haut ab! Und du kannst gleich vergessen, dass ich nach unten komme, um dich kennenzulernen, Praktikant!" die Rothaarige dreht sich um, zieht die Kopfhörer wieder an und schaut in aller Seelenruhe weiter ihr YouTube Video.
Währenddessen stehe ich nur ein wenig verdattert von ihrem Ausbruch herum. Ich wollte doch nur Hallo sagen?
„Daran wirst du dich gewöhnen müssen", meint Abigail. „Sie ist eben sehr temperamentvoll."
Sie beginnt wieder zu reden, kommt aber nicht mal zwei Sätze weit, da schreit Fiona uns erneut an. „Was steht ihr da so rum?! Haut endlich ab!" Dieses Mädchen gebraucht definitiv zu viele Ausrufezeichen.
Wir gehen schleunigst aus ihrem Zimmer. Die Braunhaarige zeigt mir noch eine Putzkammer, weil ich dafür sorgen muss, dass meine Gruppe Kinder ihre Zimmer selbständig putzt und aufräumt. Ich werde immer nervöser und fahre mir ständig durch die dunkelblonden Haare. Hat mich Fiona so aus dem Konzept gebracht, oder ist es der seltsame Empfang von Karl?
Während ich darüber nachdenke, höre ich überhaupt nicht mehr zu. Alles, was ich noch mitbekommen habe, ist, dass wir jetzt zu Malea gehen und wie Abigail ihr Lebenslauf aus dem Brief zitiert. Das weiss ich doch alles schon, entsprechend bin ich froh, unbemerkt meinen eigenen Gedanken nachhängen zu können.
Als wir aber durch Maleas Tür gehen sehe ich auch hier: schlichte Möbel und ein kleines Zimmer. Das Doppelfenster an der gegenüberliegenden Wand steht offen, wahrscheinlich um zu lüften. Das Einzige, was mir sofort ins Auge springt, ist das Keyboard vor dem kleineren der beiden Fenster.
Mein Blick fliegt zu einem Mädchen, das mit dem Rücken zu mir auf einem Hocker vor dem Keyboard sitzt. Das ist dann wohl Malea. Sie ist ganz versunken in ihrem Stück, scheint uns gar nicht bemerkt zu haben. Schwarzes, glänzendes Haar fällt ihr in wilden Locken über den Rücken. Sie trägt einen himmelblauen Hoody und schwarze Hosen, was sie irgendwie klein aussehen lässt. Wahrscheinlich ist sie nur wenig grösser als ein Meter sechzig. Ich sehe ihre blassen Hände über die Tasten fliegen. Es ist faszinierend, ihr zu zuschauen und zu hören.
Das Gerede von Abigail rückt noch weiter in den Hintergrund. Ich kann nicht anders als Malea wie gebannt anzustarren, ihren lieblichen Duft einzuatmen und den wunderschönen klängen eines mir unbekannten Liedes zu lauschen.
Durch den Luftzug knallt das Fenster auf einmal laut zu. Malea wirbelt herum und sieht mich durch eine schwarze Brille aus schreckgeweiteten Augen an. Ihre wunderschönen Iris sind intensiv dunkelblau mit gelben Sprenkeln rund um die Pupille. Sie funkeln tatsächlich wie Schnee in der Sonne. Mit einem Schlag wird mir klar: Malea ist meine Mate!
Mein Herz klopft wie wild. Ich will zu ihr hingehen, sie umarmen oder wenigstens mit ihr reden, aber etwas hält mich davon ab. In ihren Augen sehe ich Hass und Angst.
Es gibt nichts Schlimmeres für einen Werwolf, als wenn ihn die eigene Mate hasst oder Angst vor ihm hat. Bei Malea sieht es aus, als wäre beides der Fall.
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1480 Worte
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