S i e b z e h n | G w e n d o l y n
Ich war noch nie außerhalb von Navar unterwegs gewesen. Ehrlich gesagt hatte ich in den neunzehn Jahren meines Lebens meine Heimatstadt noch nie verlassen.
Deswegen war ich auch ausgesprochen aufgeregt, als ich meine Schwiegerfamilie in Spe auf einen Ball in Krypthon begleiten durfte. Auch wenn die Gesellschaft sehr zu wünschen übrig ließ und ich das Anwesen der Comwoods lieber mit Eve an meiner Seite unsicher gemach hätte, als mit dem Blondkopf.
Aber immerhin war auch Josey mit von der Partie.
"Weißt du, wer gerade die amtierenden Herrscher in Krypthon sind?" Die Frage des Vollidioten ließ mich den Blick von der Landschaft nehmen, durch die uns die Kutsche gerade chauffiere.
Wir hatten vor ein paar Minuten den krypthochavischen Ozean überquert und waren nun auf den Weg in den Morbridge Palace, dem Anwesen der Comwoods, das im Herzen von Ceves lag, welches wir vermutlich erst in den Abendstunden erreichen würden.
Während die navarischen Herrscher alleine in einer Kutsche reisten, wurde ich mit dem Nachwuchs in ein deutlich kleineres Modell gesteckt. Kacey, die Glückliche, war nach der Überfahrt in das Transportmittel ihrer Familie gewechselt, die bereits am Hafen auf die Thronfolgerin gewartet hatten.
"Nein, darüber hat mich Lady Bylon gar nicht unterrichtet. Ist das etwa wichtig?", erwiderte ich auf Jayces dumme Frage und verdrehte dabei genervt die Augen.
Der Blondkopf hatte sich in den letzten Tagen verändert. Merkwürdig verändert.
Die Anzahl der Beleidigungen, die über seine Lippen kamen, war immens geschrumpft und generell verhielt er sich nicht mehr wie ein kopfloser Neandertaler in meiner Nähe.
Er bemühte sich redlich darum, freundlich zu sein, egal wie viele Provokationen ich ihm um die Ohren knallte. Und es trieb mich in den Wahnsinn.
Mit dem arroganten Prinzen konnte ich umgehen. Ich wusste, wie ich auf seine Anwesenheit und seine Dummheit zu reagieren hatte und konnte auch seine Reaktion halbwegs voraus deuten.
Davon war nicht mehr viel übrig geblieben. Überhaupt nicht.
Seine ungewohnte Herzlichkeit verunsicherte mich. Zwar bemühte ich mich darum, ihm dieselbe monotone Schlagfertigkeit wie zuvor entgegen zu bringen, aber es war dennoch merkwürdig, dass er dafür kein sarkastisches Lächeln übrig hatte, sondern sich tatsächlich an einer Streitschlichtung versuchte.
SCHLICHTUNG!
Auch jetzt hatte er für meine Ironie nur ein knappes Schulterzucken übrig und begann mit einer nervtötendes Gelassenheit, die Thronfolge der Comwoods-Familie herunterzuleiern, als hätte ich zuvor noch nie etwas von den Gastgebern des heutigen Balls gehört.
Von König Stanley, über seine Kinder bis hin zu dem angeheirateten Herzog Ethan erzählte er mir all die unnützen Dinge über die Königfamilie, die ich nie wissen wollte. Wie ihren Verwandtschaftsgrad und ihren Beziehungsstatus.
Erneut drehten sich meine Augen verzweifelt einmal im Kreis. Konnte er mich nicht einfach beleidigen?
Auch Josey und Rosalie schienen nicht besonders begeistert über unseren heutigen Ausflug zu sein. Die Prinzessinnen zwirbelten gelangweilt an ihren blonden Strähnen herum und während Rose auf die Stadt hinausstarrte, bemerkte ich, wie ihre Schwester uns mit interessiert funkelnden Augen beobachtete.
Als sie meinen Blick auffing, runzelte sie kurz die Stirn. Natürlich war ihr das seltsame Verhalten ihres Bruders ebenfalls aufgefallen, doch ich schüttelte nur den Kopf, um ihr zu signalisieren, dass ich keine Ahnung hatte, was hier vorging.
Würde ich es nicht besser wissen, würde ich glatt behaupten, der Dummkopf bemühte sich tatsächlich um mich. Aber warum?
Nachdenklich wandte ich den Blick von dem Mädchen ab und fokussierte mich stattdessen wieder auf Jayce. Irgendwie musste dieser Blaublütler doch aus der Reserve zu locken sein, oder nicht? Er wurde doch nicht von heute auf morgen zu einem angenehmen Zeitgenossen!
Eine Schlammschlacht machte ihn doch noch lange nicht zu einem guten Menschen.
"Danke für die ausschweifende Erklärung", sprach ich ihn deshalb erneut an, obwohl unsere knappe Unterhaltung bereits einige Minuten zurücklag. "Ich weiß deine Bemühungen wirklich zu schätzen, aber habe ich dir schon einmal anvertraut, dass ich deine Gesellschaft mehr genieße, wenn dein Mund zu ist und nicht diese Unfälle an Sätzen daraus hervorbrechen?"
Ich lächelte den Blondschädel an und neigte in einer unschuldigen Manier den Kopf zur Seite.
Jayces Kiefermuskeln spannten sich an, als er die Zähne zusammenbiss und seine Lippen derart aufeinander presste, dass sie jeglichen Farbton verloren.
Seine Mundwinkel bogen sich nach unten, doch das arrogante Lächeln und der Hochmut in seinen blauen Augen blieb aus, als er kurz den Kopf vor mir neigte. "Verzeihung."
Mir blieb beinahe der Mund offenstehen. Das wars? Das war seine Reaktion? Mehr kam nicht?
Ich hatte mit einer verbalen Attacke oder einem sarkastischen Gegenschlag gerechnet, aber doch nicht damit, dass er einfach nachgab!
Meine Stirn legte sich in Furchen und ich starrte den Blondkopf eine Weile irritiert an. Dieser erwiderte das Blickduell und ich begann unruhig auf meinem Platz hin und her zu rutschen, als sich seine Augen wie Eisflammen in meine Haut brannten.
Irgendetwas war hier faul. Definitiv.
Leider kam ich nicht mehr dazu, allzu groß darüber nachzudenken, denn schon im nächsten Moment hielt unsere Kutsche und die Tür wurde von einem der Bediensteten geöffnet.
Zuerst wurde Josey, dann Rosalie und schließlich mir aus dem Fortbewegungsmittel geholfen, während der Blondkopf alleine die Kutsche verließ und hinter mir zum Stehen kam.
König Cedrik und Königin Cathrin erwarteten uns bereits.
Nacheinander folgten wir den Angestellten der Comwoods, die uns in den Morbridge Palace geleiteten, um uns auf unsere jeweiligen Gästezimmer zu verfrachten.
✾
Von meinen körperlichen Fähigkeiten enttäuscht und von der langen Überfahrt ausgelaugt, tummelte ich mich Stunden später mies gelaunt zwischen den vornehmen Gästen der Commwoods im Ballsaal herum.
Die Bediensteten hatte mich und den Blondkopf in ein und dasselbe Zimmer gesteckt - offenbar teilte man sich als verlobtes Pärchen das Schlafgemach - und ich hatte diesen Idioten einfach nicht aus meinem Zimmer bekommen.
Ich hatte geschoben, getreten, gezerrt und dabei die merkwürdigsten Geräusche von mir gegeben, doch der Blondschädel hatte sich nicht von Ort und Stelle bewegt.
Nein, er hatte sogar noch den Nerv besessen, in ein lautes Gelächter auszubrechen.
Weiß Gott, was sich die Bewohner vom Morbridge Palace gedacht hatten, als sie dieser seltsamen Geräuschkulisse ausgesetzt waren.
Irgendwann hatte ich schließlich aufgegeben und mich mit Jayce darauf geeinigt, eine Kissenwand zwischen uns aufzustellen, während wir so viel Schlaf wie möglich nachholten, bis die Stylisten schließlich in unserem Zimmer aufgekreuzt waren und uns in edle Gewänder gepresst und uns teuren Schmuck umgelegt hatten.
Eine Dame namens Jen hatte es tatsächlich geschafft, meine widerspenstigen Haare zu zähmen und in einen kunstvollen Knoten zu zwängen. Ein paar Strähnen hatten sich zwar prompt wieder gelöst, aber es sah trotzdem tausend Mal besser aus als alles, was ich bisher mit meiner Mähne angestellt hatte.
Ich sah in dem blutroten Abendkleid wirklich gut aus! Anders als der Schnösel.
Der arme Kerl sah aus, als hätte man eine Horde von leckwütiger Welpen auf ihn losgelassen, die ihn mit ihrem Sabber benetzt und gefoltert hatten.
Ein bisschen erinnerte mich seine Erscheinung an unsere erste Begegnung. Lediglich der dunkle Anzug und die rote Fliege waren halbwegs akzeptabel.
Ich hatte mich, genötigter Weise, bei Jayce untergehakt und so nahmen wir, als das glückliche Paar das wir ja waren, die zahlreichen Glückwünsche zu unserer Verlobung entgegen. Meine Mundwinkel schmerzten schon von dem dämliches Dauerlächeln, das ich mir ins Gesicht gepflastert hatte. Überraschenderweise nahm man hier nämlich an, das unsere künftige Vermählung auf einer freiwilligen Entscheidung basierte.
Das ich nicht lache. Doch als ich die erste Dame, die uns mit neugierigen Augen über unsere junge Liebe ausgequetscht hatte, darauf hinweisen wollte, dass mich lediglich die Angst vor dem königlichen Henker an diesen Idioten neben mir band, hatte mich der Blondkopf mit einem kräftigen Seitenhieb zwischen meine Rippen zum Schweigen gebracht.
Dann weiß ich ja, wer dieses dämliche Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Offenbar kamen Zwangsehen in der Öffentlichkeit nicht besonders gut an.
Und so mimte ich die perfekte Vorzeige-Verlobte, da ich einen weiteren Zusammenstoß mit Jayces Ellbogen verhindern wollte und mir ohnehin die Kraft für eine nervenaufreibende Auseinandersetzung fehlte.
Immerhin erwartete hier niemand, dass ich den Gesprächen lauschte oder hin und wieder eine Antwort in die Konversation warf. Zwar hatten sich der Blondkopf und ich einem kleinen Grüppchen angeschlossen, doch war er Derjenige von uns Beiden, der sich aktiv am Gespräch beteiligte, während ich auf Durchzug schaltete.
So konnte ich über das Tagebuch nachdenken, über dessen Seiten ich seit meinem Fund jeden Abend gebrütet hatte.
Wer zur Hölle war A. Warrington? Warum befand sich ihr Tagebuch, das all ihr Leid und ihre Qualen verbarg, im Besitz der Bairnslams? Warum war diese Aufzeichnungen von Hoffnungslosigkeit noch nicht verbrannt worden?
Das Leben im Schloss war dermaßen eintönig, dass mich diese Fragen nicht mehr los ließen. Es war das Einzige, womit ich mich halbwegs bei Verstand halten konnte und merkwürdigerweise fühlte ich mich mit dieser A. Warrington und ihrem Leid verbunden.
Vermutlich, weil ihre Erfahrungen im Elverstone Palace genauso freudlos gewesen waren, wie meine. Vielleicht mit einem Ticken mehr Brutalität, aber dennoch vergleichbar, wie ich befand. Immerhin war sie nicht zwangsverheiratet worden. Oder?
Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten, schüttelte aber dann entschieden den Kopf. Hätte sie in die Königsfamilie eingeheiratet, wäre mir ihr Name bekannt.
Ein lautstarkes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken und kurz war ich versucht, genervt die Augen zu verdrehen. Chris war in einem Alter, indem er es unfassbar witzig fand, seine Familie und Freunde diversen Stinkbombenangriffen auszusetzen und mit erwartungsfreudigem Grinsen ihre Reaktion zu beobachten.
Aber hier war kein Chris.
Neben mir stand nur ein Prinz, dem eine verdächtige Schamesröte ins Gesicht stieg. Doch anstatt sich zu entschuldigen und ein verlegenes Lächeln in die Runde zu werfen, erwiderte er meinen Blick und hatte tatsächlich den Nerv, ein geschocktes: "Liebling" von sich zu geben.
Ich konnte es nicht fassen! Da furzte dieser Kerl unverschämt in der Gegend herum und anstatt seinem Mann zu stehen, wollte er es tatsächlich mir in die Schuhe schieben!
Ungläubig starrte ich ihn an und bemerkte nur aus dem Augenwinkel, wie sich irgendein Lord amüsiert durch die Haare fuhr, während seine Gattin angeekelt das Gesicht verzog.
"Verzeiht meine Verlobte. Sie hat einen nervösen Magen", versuchte der Idiot mein Verhalten zu entschuldigen, dass ich nie begangen hatte.
Leider war ich viel zu perplex, um auf die Situation angemessen zu reagieren und ehe ich mich versah, hatten sich die beiden Adelsvertreter schon von uns verabschiedet und entfernten sich eiligst aus unserem Sicht- und Geruchsfeld.
"Du Feigling!", zischte ich dem Blondkopf aufgebracht zu, nachdem ich mich endlich soweit gefasst hatte, dass ich richtig verarbeiten konnte, was soeben passiert war.
"Ich muss gestehen, das war eine Kurzschlussreaktion", erwiderte der Vollidiot und schenkte mir ein dämliches Grinsen. "Tut mir leid."
Schwachkopf.
"Was sollen die jetzt von mir denken?", schimpfte ich weiter und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Wie peinlich! Bestimmt eilte diese Lady gerade wie ein aufgescheuchtes Huhn von einer Gruppe zur nächsten, um ihren adeligen Freundinnen zu berichten, dass die Verlobte des Thronfolgers von Navar eine wie wild furzende Bürgerliche war.
"Ach komm. Immerhin entsprichst du jetzt ihren Erwartungen", versuchte Jayce zu retten, was noch zu retten war - Also im Grunde Garnichts. Vor allem nicht nach seinen geschmacklosen Worten.
Ich runzelte die Stirn und zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. "Was soll das jetzt heißen? Dass ich, nur weil ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, meine Gesäßöffnung nicht kontrollieren kann? Anders als du, ja?"
Der Blondschädel setzte zu einer Antwort an, doch ich warf nur genervt die Hände in die Luft. "Weißt du was? Ich will gar nicht wissen, was ihr Lackaffen von uns denkt. Ich brauche eine Pause von dieser ganzen Scheiße."
Und damit kehrte ich ihm und dem Rest der feinen Gesellschaft den Rücken zu, um auf der Terrasse des Morbridge Palaces, welche am Ballsaal angrenzte, frische Luft zu schnappen.
Schnaubend wie ein Stier lehnte ich mich dort ans Geländer und blickte hinab in den gut bepflanzten Garten der Familie Comwoods.
Die kühle Nachtluft strich über meine erhitzen Wangen, die, dank der Blamage, der mich der Blondkopf ausgesetzt hatte, einer überreifen Tomate Konkurrenz machten. Ich schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen, um die erfrischende Brise auf meiner Haut zu genießen.
Die Klänge der Musik drangen nur gedämpft aus dem Ballsaal hervor und erstaunlicherweise war ich die Einzige, die sich der anstrengenden Gesellschaft entzogen hatte, um einen kurzen Moment der Stille zu riskieren.
Zumindest dachte ich das, bis sich ein Schatten von der Backsteinmauer löste.
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