F ü n f z e h n | G w e n d o l y n
"HATSCHI!"
Meine Augen tränten und ich blinzelte hektisch, während ich mir selbst wie wild Luft zufächelte, in der Hoffnung, meinen nächsten Niesanfall somit auszubremsen.
Eigentlich hatte mein Körper noch nie eine allergische Reaktion gezeigt, aber die Bibliothek des Elverstone Palace war vermutlich in den letzten Jahrzehnten nicht mehr abgestaubt worden, sodass es selbst in meiner Nase unangenehm kitzelte.
Zumindest im hinteren Teil des beachtlich großen Raumes. Der Abschnitt, der von der Königsfamilie offenbar nicht allzu oft aufgesucht wurde.
Vielleicht war gerade das der Grund, warum ich mich in die dunkle Ecke hinter den großgewachsenen Regalen, nicht einsehbar vom vorderen Bereich, zurückgezogen hatte.
Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich nicht gerade versteckte. Vor was, wusste ich allerdings auch nicht so genau.
Vielleicht von der penetranten Freundlichkeit des Blondschädels, die mich mehr abschreckte, als es sein großspuriges Gehabe je könnte. Oder vor Rosalie und ihrer irrwitzigen Perfektion, die mich, seit sie Lady Bylon versprochen hatte, tagtäglich mit mir die Tanzschritte für den Ball bei den Comwoods zu üben, geradezu verfolgte und schier in den Wahnsinn trieb.
Vielleicht aber auch vor Joseys Neugierde, die sie neuerdings für die nicht vorhandene Beziehung zwischen mir und ihrem Bruder hegte, und die stets mit einer tiefen, nachdenklichen Furche auf ihrer Stirn begleitet wurde. Oder auch einfach vor Königin Cathrines kühler Ignoranz, die nebenbei bemerkt wahrlich eine Meisterin darin war, mich wie Luft zu behandeln.
Ich wusste es wirklich nicht, aber Fakt war, dass ich es gerade tat. Ich versteckte mich wie ein kleines Kind vor den Monstern unter meinem Bett.
Nur, dass ich anstatt der schützenden Decke die Stille der Bibliothek gewählt hatte.
Die Bairnslams hatten wahrlich eine beachtliche Ansammlung an Büchern und ich bezweifelte, dass der Blondkopf je eine Nase in eines dieser Lektüren gesteckt hatte. Die geschwungenen, goldenen Titel auf dem alten Einband zeugten von kostbarem Wissen und angelernter Intelligenz - Zwei Eigenschaften, die dem Idioten gänzlich fehlten.
Ob es überhaupt jemanden im Elverstone Palace gab, der all diese Worte und Sätze verschlungen hatten, oder war die Ansammlung an Geschichten lediglich der Deko gedient?
Gerne hätte ich mir eins der Bücher geschnappt, damit ich in meinem Versteck zumindest etwas zu Tun hatte, jedoch wurde ich aus der veralteten Schrift nicht schlau und hatte Mühe, mir bekannte, Buchstaben aus den Schlingen zu entziffern.
So begnügte ich mich damit, die mächtigen Bögen und Balken der Bibliothek zu bewundern und mich zu fragen, wie das alte Holz die Last der Bücher überhaupt noch tragen konnte.
Mein Blick zuckte zu den bodentiefen Fenstern, die den Raum mit spärlichem Sonnenlicht fluteten, welches die aufgewirbelten Staubkörner in seinem Schein tanzen ließ. Man hatte einen wunderschönen Ausblick auf das Anwesen der Bairnslams, das musste ich neidvoll anerkennen.
In der Ferne konnte man sogar den See glitzern sehen, an den mich der Schnösel bei unserem zweiten Aufeinandertreffen entführt hat.
Der Ritt dorthin war mir deutlich länger vorgekommen, als der Weg scheinbar wirklich war.
Vorsichtig trat ich an die riesige Fensterfront und blinzelte mir den Staub aus den Augen, während ich die warmen Strahlen auf meinem Gesicht und die einhergehende Ruhe genoss.
Ich denke, so friedlich hatte ich mich in den vergangenen Wochen nicht mehr gefühlt. Um genau Zusein, seit meinem Einzug in das Schloss.
Ich vermisste meine Freunde. Eve fehlte mir wohl am Meisten in meiner Zeit bei der Königsfamilie. Zac vielleicht auch ein bisschen, aber das würde ich dem Dummkopf niemals sagen. Genauso wenig wie ich meinen Eltern oder Geschwistern gestehen würde, dass mich ihre Abwesenheit zunehmend schmerzte, je länger ich von Zuhause fernblieb.
Solange war ich von meinem Umfeld noch nie getrennt gewesen. Selbst Lynns Gehässigkeiten gingen mir irgendwie ab und das musste etwas heißen!
Ob ich sie wohl einmal besuchen sollte? War mir das überhaupt erlaubt? Durfte ich sie auf das Anwesen einladen?
Nach meiner Eheschließung mit diesem Vollidioten würde ich ja quasi die zukünftige Königin von Navar sein - Hatte man da nicht irgendwelche Privilegien?
Ich hätte nicht gedacht, dass meine Zeit im Elverstone Palace über einen Monat hinausgehen würde, aber mittlerweile war ich tatsächlich ein fixer Bestandteil der Anwohner dieses Anwesens. Die Bediensteten kannten mich ebenso gut wie die Brut dieser Blaublütler und brachten mir denselben distanzierten Respekt entgegen, wie den restlichen Familienmitgliedern.
Irgendwie war das Alles so unfassbar merkwürdig.
Wer hätte gedacht, dass ich dermaßen sympathisch sein konnte, dass mich der König nicht bereits eigenhändig aus dem Elverstone Palace geschmissen hatte? Eve und ich hatten fest damit gerechnet, dass ich spätestens nach drei Wochen wieder in mein gewohntes Leben einkehren würde und der Blondkopf sich mit einer hirnlosen, arroganten Adelsvertreterin verloben würde, die viel besser zu seinem großspurigen Gehabe passte.
Ich wusste nicht was ich falsch gemacht hatte, um immer noch die Gastfreundschaft der Herrscher Navars genießen zu dürfen. Immerhin hatte ich ihren Sohn dreimal geschlagen und womöglich dafür gesorgt, dass das Königreich keinen Erben aus erster Linie erhalten würde. Was wurde denn noch von mir erwartet? Musste ich erst einen Mord vornehmen, um endlich in mein geliebtes, altes Leben zurückkehren zu dürfen?
Nachdenklich runzelte ich die Stirn und wandte mich von dem Ausblick ab, als ich bemerkte, dass ich mich in meiner eigenen Gedankenwelt verloren hatte.
Ich kehrte dem Fenster den Rücken zu und ließ meinen Blick stattdessen erneut über die Ansammlung von Büchern schweifen, als mir ein abgenutzter Einband ins Auge sprang. Die Sonne traf den goldenen Knopf, der das Leder geschlossen hielt, in einem perfekten Winkel, sodass das aufmerksamkeitsheischende Funkeln seine Wirkung nicht verfehlte und meine Neugierde anstachelte.
Das Buch sah nicht wie die anderen Lektüren aus, zwischen denen es fast schon verloren wirkte. Kein Titel, der etwas über den Inhalt verriet, und keine goldenen Verzierungen, die nach Interesse verlangten.
Es sah wie ein schlichtes Notizbuch aus, das jemand fälschlicherweise ins Regal der Bibliothek gestellt hatte, obwohl es eigentlich seinen Platz auf einem Arbeitstisch oder einem Nachtkästchen hatte.
Und es sah so aus, als würde ich es lesen können.
Neugierig verließ ich meinen Platz vor dem Fenster und ging zu dem besagten Regal hinüber, um den ledrigen Einband zwischen meine Finger zu nehmen. Es fühlte sich rau an und als ich meine Kuppen darüber wandern ließ, spürte ich zahlreiche Risse und Einkerbungen, die von einem stolzen Alter zeugten.
Unschlüssig ließ ich das Buch in meinen Händen hin und her wandern. Normalerweise war ich niemand, der mit Vorsicht an eine Sache heranging, aber irgendwie sah die Ansammlung von Schriften zwischen meinen Fingern doch persönlich aus. Zu persönlich, als dass ein Außenstehender einfach seine Nase zwischen den Seiten vergraben konnte.
Aber würde es denn in der Bibliothek stehen, wenn dieses Buch streng gehütete Geheimnisse verbarg? Vermutlich nicht.
Also gab ich mir schließlich einen Ruck und schlug die erste Seite auf. Ein verschmierter Tintenklecks starrte mir entgegen und gleich daneben ein Datum. Ein Datum, dass mindestens hundert Jahre in der Vergangenheit lag.
Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. Ja, das Buch hatte auf mich einen alten Eindruck gemacht, aber dass es bereits über hundert Jahre auf dem ledrigen Buckel hatte, hätte ich nicht gedacht.
Da nun der erste Schritt bereits getan war und meine Hemmschwelle dementsprechend gesunken war, flogen meine Augen bereits über die nächste Zeile, die in mir aber genauso viele Fragen aufwarf, wie das Buch selbst. Das war ein Tagebuch!
Hier hatte jemand seine intimsten Gedanken und Zweifel auf dem vergilbten Papier in einer atemberaubend schönen, feinleserlichen Handschrift niedergeschrieben.
Mein erster Impuls war es, das Buch mit einem lauten Knall zu schließen und zurück ins Regal zu stellen. In einem Tagebuch herumzuschnüffeln gehörte sich immerhin nun wirklich nicht!
Aber, wenn der Besitzer die Hundert nicht geknackt hatte, war er wohl kaum dazu in der Lage, sich über meine Dreistigkeit zu beschweren.
Mein Blick zuckte zum Ende der ersten Seite, wo in schwungvollen Buchstaben ein Hinweis auf den Verfasser dieses Schriftstücks stand. A. Warrington.
Ich runzelte die Stirn und überlegte, ob Lady Bylon dieses Nachnamen vielleicht schon einmal erwähnt hatte. Vielleicht eine tiefrangige Adelsfamilie? Warum sonst sollte sich dieses Tagebuch im Besitz der Bairnslams befinden?
Der König und die Königin fuhren wohl kaum in ihrer edlen Kutsche durch ganz Navar, um sämtliche Tagebücher ihrer Untertanten einzufordern.
Unwillkürlich sah ich mich in der Bibliothek um, in der Hoffnung, einen weiteren Einband zu finden, der dem Buch in meiner Hand ähnelte und somit meine wahnwitzige Vorstellung von Königin Cathrine mit einem Tee in der Hand und einem amüsierten Lächeln auf ihren Lippen bestätigen würde. Die Herrscherin hatte doch bestimmt Besseres zutun, als sich an dem eintönigen Leben der Unterschicht zu erfreuen. Oder?
Verunsichert über meine eigenen Gedankengänge überflog ich die Zeilen erneut und erst jetzt wurde mir der Sinn hinter den Wörtern bewusst. War das etwa die Hinterlassenschaft eines Gefangenen? Einer Frau, wie mich ihre Erzählungen vermuten ließen. Und wenn ich den Sätzen Glauben schenken konnte, dann hatte sie in ihrer Zelle große Schmerzen erlitten.
Gab es im Elverstone Palace einen Kerker? Sperrte König Cedrik seine Gegner in seinem Keller ein, wo er sie auspeitschen und quälen ließ?
Augenblicklich sprang mein Blick zu dem Boden unter meinen Füßen. Lebte ich unter dem Dach einen geisteskranken Psychopathen?
Stopp! Ich unterbrach mein Gedankenkarussell mit einer harschen Kopfbewegung. Dieses Tagebuch war über hundert Jahre alt. Natürlich waren die Umstände damals anderes gewesen und die Bevölkerung Navars hatte noch weniger Rechte vorzuweisen gehabt, wie heutzutage.
Andersdenkende und Gegner der Monarchie wurden einfach zerquetscht, als wären sie nicht mehr wie lästige Fliegen. Bestimmt hatten auch die Bairnslams vor den Gräueltaten der Vergangenheit nicht Halt gemacht - Diese Niederschrift bewies das wohl.
Dennoch war ich neugierig, was an dieser A. Warrington so besonders gewesen war, dass die Vorfahren des Blondschädels beschlossen hatten, sich ihr Tagebuch anzueignen und sogar zu behalten. Hätten sie es nicht lieber verbrennen sollen? Diese Dame ließ in ihren Erzählungen kein gutes Haar an ihren Peinigern.
Kurz überlegte ich, doch dann trat ich von dem Regal zurück, das Tagebuch fest an meine Brust geklemmt. Die Königsfamilie hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich mir A. Warringtons Gedanken für ein paar Wochen ausleihen würde.
Immerhin hatte sich auf dem ledernen Einband mehr Staub angesammelt, als in den restlichen Ecken der Bibliothek. Dieses Buch hatte also schon lange keiner mehr zwischen den Fingern gehabt.
Außerdem interessierte es mich zu sehr, wer diese A. Warrington war.
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