Liv
Wir haben gerade Mathe, als plötzlich eine Durchsage ertönt.
Ich kaue wie immer gelangweilt an meinen Bleistift herum und kritzele irgendetwas Unzusammenhängendes in mein Matheheft.
Können wir nicht einfach weiter Mathe machen?, denke ich genervt, bis ich bemerke, dass ein komischer Unterton in der Stimme unseres Direktors mitschwingt, den ich nicht ganz deuten kann.
Ich weiß nicht warum, aber irgendwie beunruhigt dieser Unterton mich und ich höre sofort auf, auf meinem Stift herum zu kauen und lasse ihn langsam sinken.
Ich starre an die grau-weiße Wand unseres Klassenzimmers, direkt zum Lautsprecher.
"Meine lieben Schüler und Schülerinnen", sagt unser Direktor, "Heute Morgen ereilte uns eine schreckliche Nachricht"
Ich halte gespannt den Atem an.
Was war passiert?
"Eure Mitschülerin Johanna Backhaus aus der 9e hat sich heute Morgen das Leben genommen"
Seine Stimme zitterte.
Und ich brauche erstmal einen Moment, um mich zu besinnen.
Johanna. Tot.
Wie kann Das sein?
"Das ist ein schlimmer Verlust, den unsere Schule nicht so einfach begleichen kann. Ich kann ihnen nur mein größtes Beileid aussprechen. Meine Kollegen und ich sind untröstlich, aber es wird uns vermutlich nichts anderes übrig bleiben, als diese Nachricht so hinzunehmen. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit"
Sie hatte doch so ein gutes Leben. Sie musste nie für etwas kämpfen oder Hass über sich ergehen lassen.
Warum hat sie sich umgebracht? Sie hatte keinen Grund dafür!
Diese Gedanken überrollen mich und ich schenke den Worten unseres Direktors keine weitere Aufmerksamkeit.
Plötzlich höre ich, wie ein Stuhl über den Boden geschoben wird und dabei knarzt.
Ich drehe mich um.
Julius ist aufgestanden und verlässt eilig den Raum.
Er will wahrscheinlich nicht, das jemand ihn weinen sieht.
Ich schaue an die Tafel zu unserem Mathelehrer. Er ist wie in der Bewegung erstarrt.
Wie eingefroren, denke ich.
Komischerweise erschüttert mich die Nachricht, dass Johanna Backhaus tot ist, nicht im Geringsten.
Johanna und ich gingen zwar in eine Klasse, aber mehr hatte wir auch nicht miteinander zu tun. Sie war herablassend zu mir, schien mich nie wirklich zu mögen. Es war so, als wäre ich ein Dorn in ihrem Auge. Ich weiß nicht wieso. Ich habe ihr nie etwas getan; noch nicht einmal wirklich mit ihr geredet.
Trotzdem sollte ich traurig sein, schließlich ist jemand aus meiner Klasse tot.
Ich schätze, Johanna Backhaus ist eine dieser Personen, die niemand wirklich kennt, aber alle denken trotzdem, sie würden sie kennen. Wahrscheinlich verstehen sie erst jetzt, dass sie sich geirrt haben; oder wie immer nicht.
Sie ist eine dieser Personen, die unberechenbar sind. Du weißt nie, was sie als Nächstes machen wird. Du weißt nur, dass sie etwas tun wird und das reicht nie ganz.
Letztendlich hat wahrscheinlich niemand von uns Johanna wirklich gekannt.
bIch sehe mich wieder im Klassenzimmer um und mein Blick gleitet sofort zu Louisa.
Johannas beste Freundin.
Sie weint nicht.
In meinem Klassenzimmer war es plötzlich so unerträglich still, doch es gab nichts, womit man diese Stille hätte aufhalten können.
Meine restlichen Klassenkameraden weinen leise.
Manche haben das Gesicht in den Händen vergraben und andere den Kopf zwischen den Armen auf dem Tisch.
Ich schäme mich sehr, dass ich einfach nicht weine und nicht den leisesten Funken von Trauer vernahm oder vernehmen konnte.
Die Stille macht mich aus irgendeinem Grund ziemlich zappelig, weshalb ich mich von meinem Stuhl erhebe und eilig aus dem Raum gehe.
Ich gehe den Gang herunter und schweige dabei. Hier ist es auch so still!
Ich laufe weiter und beschleunige dabei meine Schritte.
Wenigsten mache meine Schuhe Geräusche, denke ich.
Als ich um die nächste Ecke, zu meinem Spind gehen möchte, höre ich plötzlich ein lautes Schluchzen.
Ich fahre mit meinem Kopf herum und blicke in den Flur, aus dem das Schluchzen gekommen ist.
Dort, sehe ich auf dem Boden Julius sitzen. Zusammengekauert, das Gesicht in den Armen vergraben, die Arme um die Knie geschlungen.
Ohne zu zögern gehe ich auf ihn zu.
"Hey Julius", flüstere ich zärtlich und hocke mich neben ihn.
"Geh weg!", sagt er, "Geh weg!"
Aber ich bleibe.
Und tue etwas, was ich wirklich niemals unter normalen Umständen getan hätte.
Ich nehme Julius vorsichtig in den Arm und drücke ihn an mich.
Ich habe das dringende Gefühl ihn trösten zu müssen und für ihn da zu sein.
Er vergräbt seinen Kopf an meiner Brust und weint, wie es mir scheint, nur noch mehr.
Sein Geruch dringt mir in die Nase. Kamille und Zimt.
"Wieso ist sie nicht mehr da?", schluchzt er plötzlich, "Was habe ich falsch gemacht?"
"Ich weiß es nicht", sage ich leise, was eine Antwort auf beide Fragen ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit Julius auf dem kalten Pakett unserer Schule gesessen habe und ihn getröstete habe.
Irgendwann stehe ich allerdings auf, drücke nochmal seine warme Hand.
"Es wird alles gut", lüge ich und mache mich auf den Weg zu meinen Spind.
Ich weiß auch nicht genau, warum ich da unbedingt hinmuss und was ich dort überhaupt will. Ich habe schließlich alle Schulsachen, die ich für heute brauche.
Doch ich habe da so ein Gefühl oder vielleicht auch Ahnung, dass bei meinem Spind irgendetwas seien muss.
Ich drehe an dem Zahlenschloss meines Spindes.
0,3,7,6
Ich öffne meinen Spind und heraus fällt ein kleiner Zettel.
Als hätte ich es gewusst.
Ich hebe den Zettel auf.
In roter Tinte steht dort in einer eleganten Schrift:
Mach das Beste aus deinem Leben. Mach es nicht wie ich.
Ich erwarte nicht, dass du verstehst, was ich warum getan habe.
Schließlich kennen wir uns so gut wie gar nicht.
Wer weiß, vielleicht hätte alles anders laufen können. In einem Paralleluniversum sind wir vielleicht die allerbesten Freundinnen.
Doch das spielt keine Rolle mehr. Weder für dich noch für mich.
Aber tu mir einen Gefallen, sei für Julius da. Sei für ihn mehr, als ich je für ihn sein konnte.
Es ist dir wahrscheinlich nie aufgefallen, aber Julius schaut dich in der Pause so oft an, dass es mir im Herzen wehtut.
Immer, wenn er auf seine Art in die Leere starrte, waren seine Gedanken bei dir. Und in diesen Momenten, dass muss ich zugeben, habe ich die gehasst, Liv.
Aber jetzt bin ich nicht mehr sauer. Es war zwar schwer zu realisieren, dass Julius und ich keine Zukunft mehr haben, aber letztendlich muss jeder der Wahrheit ins Auge blicken.
Auch, wenn es sich einerseits völlig übergeschnappt und dumm anhört und du mir andererseits wahrscheinlich sowieso nicht glaubst, will ich diesen Gedanken mit dir teilen:
Julius und du, ihr gehört zusammen.
Ich weiß sofort von wem diese Nachricht ist.
Dafür muss man nun wirklich einfach kein Genie sein.
Diese Wortwahl und diese elegante Schrift schreien einfach nur nach Johanna.
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Hallo, vielen Dank dafür, dass du auf meine kleine Kurzgeschichte draufgeklickt hast! Ich hoffe, dass sie dir bisher gefällt :)!
Was haltet ihr von Liv?
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