Kapitel 1 | Athos
Spätsommer 1905.
Die Nacht hatte ihre Fittiche mit endgültiger Schwärze über das Dorf gelegt. Die Straßen waren wie leergefegt. In keinem Fenster der umstehenden Fachwerkhäuser brannte Licht. Es schien als wären alle Seelen, die Godric's Hollow sonst Leben einhauchten, in die Welt der Träume abgedriftet, und hätten die Straßen den Verlorenen und Seelenlosen überlassen.
Mein Blick fiel hinab auf die Karte, die ich mit den wenigen Beschreibungen, die ich finden konnte, notdürftig zusammen gebastelt hatte. Muggelbibliotheken waren leider nur eine geringe Hilfe gewesen, doch ich hatte es nicht gewagt einen Fuß in eine magische Bibliothek zu setzen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob man mich hineingelassen hätte.
Scharf sog ich die lauwarme Augustluft ein, bevor ich mich in Bewegung setzte. Meine Glieder waren vom Warten schwer wie Blei, doch mein Verstand war scharf wie bei jedem neuen Versuch, den ich wagte.
Während ich den Marktplatz von Godric's Hollow überquerte, blinzelte ich mehrfach, um das Bild meiner Eltern, welches vor meinem inneren Auge entstand, fort zublinzeln. Nicht die Eltern, die mich seit ich sieben Jahre alt war, in der Welt der Muggel aufgezogen hatten. Nein. In Gedanken war ich bei jedes Mal, wenn ich mich auf die Suche nach dem Elderstab begab, bei den Eltern, an deren Erinnerung ich mich krampfhaft klammerte aus Angst ihre Gesichter zu vergessen. Bei den Eltern, die mich aufgegeben hatten, damit ich leben konnte, und die ich seit sieben Jahren jede Nacht in meinen Träumen sterben sah.
Es kostete mich mehrere Anläufe den Kloß, der sich in meiner Kehle breit machte, herunterzuschlucken als sich der riesenhafte Schatten der Kirche über mich legte. Die Kerzen in den Straßenlaternen, die den Platz vor dem Gebäude säumten, flackerten unheimlich. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken, der nicht den fallenden Temperaturen geschuldet war.
Meine Finger verkrampften sich in den Taschen meines Mantels zu Fäusten, als ich auf den unbeleuchteten Pfad trat, der um das alte Kirchengebäude herum zum Friedhof führte. In Momenten wie diesen bereute ich weder einen Zauberstab noch magische Grundkenntnisse zu besitzen. Denn obwohl ich beinahe täglich magische Bücher konsultierte, hatte ich keinerlei praktische Erfahrung. Und das aus gutem Grund. Denn so viel Schutz mir Magie auch vermeintlich bieten mochte, würde sie mich in mindestens genauso viel Gefahr bringen und mich aus meinem Leben in den Schatten, ins Licht zerren, wo ich vor anderen Zauberern völlig ungeschützt war. Nein, das konnte ich nicht riskieren. Ich musste das hier aus eigener Kraft, ganz ohne die Hilfe von Magie, schaffen.
Ich bemühte mich meine Atmung ruhig zu halten, als die Entfernung zwischen den Laternen immer größer wurde und sich die knochigen Äste eines alten Baumes, der den Eingang zum Friedhof zu bewachte, wie Klauen in den Himmel reckten. Dahinter zeichneten sich Reihen von Grabsteinen gegen die Dunkelheit ab.
Vorsichtig zog ich eine Hand aus der Tasche, um das Eingangstor aufzudrücken. Das schwarze Metall war für so eine warme Nacht ungewöhnlich kalt gegen meine Finger und ein verräterisches Knarren war zu vernehmen, als ich es weit genug aufschob, um mich hindurchquetschen zu können.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich auf meine Karte, deren Farbe in der Dunkelheit zu verschwimmen drohten. Offensichtlich würde sie mir hier keine großartige Hilfe sein, weshalb ich sie resigniert in meine Tasche zurückstopfte in der Hoffnung auch so den Weg zu dem Grab zu finden, das mich nach Godric's Hollow geführt hatte. Dabei war nicht einmal klar, ob es tatsächlich existierte oder bloß dem Geiste eines besonders einfallsreichen Geschichtenerzählers entsprungen war.
Schnellen Schrittes setzte ich mich geradeaus in Bewegung und ließ den Blick dabei methodisch über die Grabreihen links und rechts von mir wandern. Das Buch, welches mich auf diese Fährte geführt hatte, sprach davon, dass ich Antioch Peverells Grab irgendwo am hinteren Ende des Friedhofs, im ursprünglichen Teil vor der Erweiterung, befinden musste. Immerhin sollte er mit seinen Brüdern einer der Ersten gewesen sein, der hier zu Grabe getragen worden war.
Der Gedanke versetzte meinem Herz einen schmerzhaften Stich. Wie konnte es sein, dass die Taten eines so weit zurückliegenden Vorfahren noch immer so einen Einfluss auf mein Leben hatten. Hin und wieder erlaubte ich mir zu erträumen wie mein Leben aussehen könnte, hätte meine Familie niemals die Gegenstände in Empfang genommen, die später als Heiligtümer des Todes in die Geschichte eingehen sollten. An den meisten Tagen verbot ich mir diesen Gedanken allerdings, um mich nicht in den Träumereien an ein Leben zu verlieren, das ich niemals würde leben können.
Ich würde immer die verfluchte Erbin von Antioch Peverell sein, dazu bestimmt dem Tod irgendwann nicht mehr einen Schritt voraus zu sein. Außer es gelang mir endlich zu finden, was meiner Familie vor so langer Zeit genommen worden war und damit den Fluch zu brechen, der auch mich eines Tages einzuholen drohte. Wenn ich hier heute Nacht den Elderstab fand, konnte alles das ein Ende haben.
Der Gedanke führte mich schneller über das weitläufige Gelände bis vor mir ein riesenhafter Baum aufragte, an dessen Ästen weiße Blüten wie Geister vor dem schwarzen Himmel auf und abtanzten. Ein süßlicher Geruch wurde von der warmen Nachtluft zu mir herangetragen und zog mich wie magisch weiter in Richtung des Baumes.
Als ich näher kam, entdeckte ich an dessen Fuße einen schiefen Stein. Die starken Wurzeln des Baumes hatten sich darum geschlungen, als würden sie das Grabmal mit ihrer uralten Stärke beschützen wollen. Mir stockte der Atem als ich davor zum Stehen kam und den Namen erkannte, der in schiefen Lettern in den Stein gehauen war.
Antioch Peverell
fl. 1214
Auf, dass dich die Habgier Anderer hier nicht zu berühren vermag.
Als hätte ein fremder Wille von mir Macht ergriffen, fiel ich vor dem Grab auf die Knie. Ehrfürchtig streckte ich die Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger die Buchstaben nach, während mein Herz in meiner Brust zu verbluten drohte. Ich mochte ihn nicht selbst gekannt haben, doch sein Leben so lange so intensiv zu studieren, dass ich meines dabei fast vollkommen vergaß, hatte mich ihm so nah gebracht als würden uns nicht beinahe sechshundert Jahre trennen.
Einige Minuten verharrte ich in dieser Position, bevor ich mich dessen bewusst machte, was mich hierhergeführt hatte, und meine Hände widerwillig zurückzog. Viel Zeit blieb mir nicht, bevor sich die ersten Sonnenstrahlen zeigen würden und ich hatte für diese Nacht viel geplant.
Ich rutschte auf den Knien rückwärts bis die Grabplatte vor mir lag und begann mit den Fingern an den Seiten entlangzufahren. Irgendwo musste es doch möglich sein, sie anzuheben. Selbst wenn sie mehrere Jahrhunderte alt war, konnte sie sich nicht so sehr von den Gräbern meiner Zeit unterscheiden. Irgendwie hatte man die sterblichen Überreste schließlich auch hineinbekommen. Dann musste man sie auch irgendwie wieder hinausbekommen können. Wenn der Elderstab wirklich mit ihm vergraben worden war, würde ich mich nicht von einer Steinplatte aufhalten lassen.
Einige Minuten lang tastete ich in der Dunkelheit den Stein ab bis meine Finger braun vor Erde und meine Knie wund waren. Gerade als ich mich zwingen wollte aufzugeben und etwas anderes zu versuchen, glitt mein Zeigefinger über etwas Spitzes an der Unterseite eines hervorstehenden Vorsprungs.
Mit einem Zischen zog ich meinen Finger zurück und wischte den Dreck an meiner Hose ab. Im Dunkeln konnte ich die dicke Flüssigkeit, die sich langsam von der Einstichstelle über meine Haut schlängelte, kaum erkennen, doch das musste ich auch nicht, um zu wissen, dass es Blut war. Gerade es ebenfalls an meiner Hose abwischen wollte, zuckte ein lähmender Schmerz durch meinen Kopf und ich fasste mir reflexartig an die Stirn.
Verwackelte Bilder übermannten meinen Verstand und rissen mich aus der Realität. Wie in einem Film, der sich vor mein inneres Auge schob, war ich gezwungen mir selbst dabei zuzusehen wie ich über den Friedhof rannte und meinen Kopf mit den Armen schützte, als könnte mich das vor den weißen, durchscheinenden Kreaturen retten, die mir dicht auf den Fersen waren. Ein Schrei durchdrang das Bild und ließ es vor meinen Augen zittern wie einen See, dessen Spiegelbild ein Kind mit einem Stein zerrüttet hatte.
Erst die Übelkeit, die mich zu übermannen drohte, riss mich ruckartig aus der Vision. Der Schrei dauerte jedoch an und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass es mein Mund war, aus dem der Laut gedrungen war. Instinktiv presste ich mir die Hand auf die Lippen, während ich am ganzen Körper zitterte. Panisch auf dem Boden kauernd, ließ ich den Blick über meine Umgebung wandern.
Ich hatte in unzähligen Mythen von den Geistern gelesen, die den Friedhof angeblich bewachen sollten. Trotzdem hatte ich sie nicht eine Sekunde lange für bare Münze genommen. Vielleicht sollte ich mir auch dieses Mal nichts dabei denken. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass mein Verstand von Bildern heimgesucht wurde, die noch nicht passiert waren und oft genug auch nie passieren würden. Auch wenn das hier das erste Mal war, dass ich mich selbst in diesen Visionen sah, konnte ich mich davon nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, richtig? Oft genug hatten sie mich bereits in die Irre geführt und an Dinge glauben lassen, die niemals tatsächlich eingetroffen waren. Trotzdem fiel es mir schwer den Schreck, der mir noch immer tief in den Knochen saß, abzuschütteln.
Mit rasselnden Lungen sog ich tief Luft ein, in der Hoffnung mir einen klaren Kopf zu verschaffen, bevor ich mich wieder zu der Stelle herunterbeugte, an ich mich verletzt hatte. Das plötzliche Gefühl von Blicken, die sich heiß in meinen Rücken brannten, konnte ich dabei allerdings nicht abschütteln.
Mit klopfendem Herzen fuhr ich erneut, dieses Mal deutlich vorsichtiger über die Stelle. Die nasse Feuchtigkeit meines Blutes hatte sich auf dem Stein ausgebreitet und benutzte die Kuhle im Vorsprung, die bei genauerem Hinsehen ein Symbol umfasste.
Gerade als ich mich näher herunterbeugen wollte, um es genauer zu betrachten, vernahm ich das Knarren des Eingangstores. Ich verharrte mitten in der Bewegung. In Gedanken zählte ich mit klopfendem Herzen bis drei, bevor ich es wagte einen Blick über die Schulter zu riskieren.
Dort am Eingang stand zwar definitiv kein Geist, doch mich ergriff mit einer erschreckenden Klarheit das Gefühl, dass mein Besucher keine bessere Alternative war. Von meinem Platz unter dem Baum konnte ich lediglich seine hochgewachsene Gestalt erkennen, die sich wie ein langer Schatten zwischen den Steinen entlang schlängelte. Das Gesicht wurde von einer dunklen Kapuze verborgen, die dem Fremden den Anschein verlieh, als wäre er geradewegs aus meinen schlimmsten Albträumen getreten. Seine schweren Schritte wurden vom harten Erdboden gedämpft, als er zwischen den Grabreihen entlang wanderte und sich mir dabei immer weiter näherte.
Ich drückte mich weiter in den Schatten des Baumes, während ich dabei zusah wie die Gestalt etwas unter ihrem Umhang hervorzog. Was es war, erkannte ich erst als das grüne Leuchten an der Spitze des Zauberstabes immer größer wurde, als würde dessen Träger wissen, dass er hier nicht alleine war und wäre bereit das jederzeit zu ändern.
Mir rutschte das Herz in die Hose und ich ließ den Blick fieberhaft über das Gelände wandern. Da der Fremde mit dem Rücken zum Eingangstor stand, würde ich an ihm vorbeimüssen, wenn ich auf dem Weg entkommen wollte. Das war also keine Option mehr. Eine weitere Möglichkeit wollte sich jedoch einfach nicht auftun.
Verzweiflung drohte mich zu übermannen, während meine Hände neben meinem Körper unkontrolliert zu zittern begannen. Der Fremde nicht der erste Zauberer sein, dem ich bei meiner Suche über den Weg lief. Dieser strahlte jedoch so eine Gefahr aus, dass keine Sekunde darauf zweifelte, dass ich diesen Friedhof nicht unbeschadet verlassen würde, wenn ich mich fand. Besonders da mich das Gefühl beschlich, dass er aus dem gleichen Grund hier war, wie ich.
Als mein Blick Hilfe suchend zurück auf die Grabplatte fiel, bemerkte ich die Veränderung sofort. Ein hellgrünes Leuchten ähnlich dem, das der Zauberspruch des Fremden abstrahlte, schien um das Grab herum zu wabern. Wie ein Leuchtturm, der dem Zauberer den Weg zu seinem Ziel wies.
Ich fröstelte. In den letzten Minuten war die Temperatur aus unerklärlichen Gründen drastisch gefallen. So drastisch, dass sich die Luft bei jedem meiner Atemzüge vor meinem Mund in einem dünnen Nebel kräuselte. Panik packte mich. Was ist hier los?, formte ich wortlos mit den Lippen, während mein gesamter Körper von einem Zittern erfasst wurde.
Ein unverständliches Flüstern wurde vom Wind an meine Ohren getragen. Der Zauberer, der mittlerweile nicht mehr als zwei Grabreihen von meinem Versteck entfernt war, hielt in seiner Suche inne, als hätte er es ebenfalls gehört. Im selben Moment, in dem er den Zauberstab hochriss, tauchte eine durchscheinende Gestalt mitten vor ihm auf.
„Eindringling!", kreischte der Geist und riss die Hände in die Höhe. Wie auf sein Kommando stiegen immer mehr wabernde Geister aus dem Boden hervor.
„Avada Kedavra", brüllte der Unbekannte. Im nächsten Moment explodierte das grüne Leuchten an der Spitze seines Zauberstabs und raste in Richtung des Geistes, der durch die Luft auf ihn zu sauste. Ein spitzes Lachen war dessen einzige Antwort, als der Zauber vollkommen wirkungslos durch ihn hindurch glitt.
Vor mir leuchtete Antiochs Grab immer heller, doch ich wusste, dass jegliche Chance dem Geheimnis dieses Ortes heute Nacht auf die Schliche zu kommen, verstrichen war. All meinen Mut zusammennehmend, zog ich mir die Kapuze meines Mantels über den Kopf und trat aus meinem Versteck hervor.
Die Ablenkung nutzend, sprintete ich so schnell ich konnte zwischen den Gräbern hindurch auf das Tor zu. Meine Schenkel brannten und meine Hüften stachen, während meine Lungen nach Luft flehten, doch ich wagte nicht langsamer zu werfen. Hinter mir vernahm ich die Rufe des Zauberers und immer wieder rissen Zaubersprüche, die mich nur um ein Haar und aus reinem Glück verfehlten, Löcher in die Erde.
Mein Herz wummerte so schnell, dass ich fürchtete, es würde jeden Moment in meiner Brust explodieren. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf und gab den Blick auf mein blondes Haar frei, das im Wind peitschte. Obwohl mein ganzer Körper danach schrie, dass ich langsam wurde, zog ich mein Tempo weiter an bis das Tor in Sicht kam.
Gerade als ich meine Geschwindigkeit verlangsamte, um nicht mit dem Gesicht zuerst hinein zu knallen, tat sich ein Strudel mit einem Rauschen direkt vor mir auf, der die Realität um sich herum zu verzehren schien. Ein Schrei entrang sich meiner Kehle als ich beinahe ungebremst in den Mann rannte, der an der Stelle des Strudels aufgetaucht war.
Seine Hände schlossen sich so fest um meine Oberarme, dass jeder Versuch sich hinaus zu winden, umsonst wirkte. Für einen Moment ließ er den Blick über die Szene wandern, die sich hinter mir abspielen musste, bevor er mich zum ersten Mal seit seinem Auftauchen richtig ansah. Im nächsten Moment ertönte das Rauschen erneut und Übelkeit überkam mich als sich die Realität um mich herum in einem Strudel verlor.
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