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Namjoon unterrichtet an der Seoul National University. Ganz ehrlich, bereits sein Überflieger-Dasein in der Schule hat ihn dafür prädestiniert, irgendwann als Dozent an einer der renommiertesten Universitäten Südkoreas zu lehren. Er ist im College of Fine Arts eingesetzt und übernimmt das Seminar zum Thema Kunsttherapie. Mit seinen frischen 29 Jahren gehört er zu den jüngsten Dozenten Südkoreas und ist damit auf eine ganz andere Art und Weise als Yoongi ein Teil des nationalen Stolzes.
Die Universität benutzt ihn gerne als Aushängeschild. Aber wer würde das nicht tun? Mit seinem charismatischen Auftreten und seinem einnehmenden Wesen ist er fast schon dazu auserkoren junges Leben zu berühren und zu bereichern. Namjoon ist mitreißend und bewegend. Seine Studenten verehren ihn. Weil seine Vorträge von Leidenschaft und Fachkenntnis zerfressend sind, seine Ansprüche human und seine Bewertung fair. Vermutlich könnte er auch in jedem anderen Kurs als Gastdozent eingesetzt werden – wirklich, sein Allgemeinwissen ist enorm - aber er referiert am liebsten über Sachinhalte, die ihn selbst am meisten berühren.
Kunsttherapie. Vielleicht wusste er damals schon, dass sie der einzige Weg für Yoongi sein wird, aus den Schatten zu treten und einen Ort zu finden, der sich warm für ihn anfühlt. Er verdankt ihm so viel. Viel mehr, als er jemals wird zurückzahlen können.
Dieses undefinierbare Gefühl, dass sich in seinem Herzen irgendwo zwischen der rechten und linken Kammer festgesetzt hat und nach Schuld und Dankbarkeit gleichzeitig schmeckt, hat Yoongi auch dieses Mal zurück in die Hauptstadt getrieben. Er möchte Namjoon etwas zurückgeben. Deswegen willigt er immer und immer wieder ein, wenn dieser die Anfrage stellt, ob Yoongi als Gastdozent in seinem Seminar auftreten könnte. Er macht es gerne. Vielleicht ist es das Mindeste, was er tun kann, um Namjoon zu zeigen, wie dankbar er ihm wirklich ist.
Deswegen steht er auch jetzt vor rund einhundert Studenten, die ihn mit Hoffnung, Anerkennung und Bewunderung in den Augen anleuchten. Obwohl Yoongi die halbe Nacht nicht geschlafen hat, weil seine Gedanken von blutroten Schatten und der Frage verfolgt wurden, ob er wirklich hätte gehen sollen und überhaupt, ob es nicht viel mehr eine Flucht als ein Gehen gewesen ist und was denn passiert wäre, wenn er doch nur geblieben wäre.
Yoongi bereitet seine Unterlagen vor und wirft einen rückversichernden Blick in Namjoons zuversichtsspendende Augen. Immerhin fühlt sich Yoongi in dem ausgeleuchteten Vorlesungssaal relativ wohl. Die Schatten werden von hellen Neonröhren zurückgedrängt. Es ist der hellste Platz in Seoul, dem er bisher begegnet ist und den man nicht mit Gold bezahlen musste. Das steht vermutlich ebenfalls im Zusammenhang mit Namjoon. Er kann wirklich Licht in ein Leben bringen.
- Wie auch immer dieses aussehen mag. In Yoongis Fall ist Licht der Stift in seiner Hand oder auch die wirre Benutzeroberfläche einer Produktionssoftware. Die Musik hat ihn gerettet. Er berichtet in seinen Liedern, in seinen Texten und wenn Namjoon ihn darum bittet, dann auch in seinen Kursen davon.
Die Studenten hängen immer an seinen Lippen, als wäre er selbst Gelehrter, obwohl er nur ein billiger Superstar ist.
Einerseits ist diese stumme Aufmerksamkeit wohl Yoongis unleugbaren Attraktivität geschuldet. Er weiß, dass er gut aussieht. Die schwarzen Haare, die dunklen Augen und die weiße Porzellanhaut verleihen ihm einen verruchten Touch. Er ist gleichzeitig der geheimnisvolle bad boy als auch der verletzliche junge Mann, der auf der Suche nach seinem Platz in der Welt an zu vielen Ecken angestoßen ist und die blauen Flecken mit einem stolzen Lächeln versucht zu überspielen. Sie wollen ihn retten und von ihm gerettet werden. Sein Aussehen gibt ihnen das, was sie in ihm sehen wollen.
Andererseits hängen sie aber auch seinen Lippen, weil sie darin die Wahrheit erfahren wollen. Die Wahrheit über ihn, sein Leben, sein Herz, seinen Erfolg. Wie lernt man mit so viel Schmerz im Inneren umzugehen? Aber natürlich auch: Wie wird man so berühmt, dass man Hoffnung in Goldbarren aufwiegen kann? Es ist der unerreichbare Traum von so vielen jungen Koreanern. Yoongi kann sich nicht daran erinnern, ob er ihn jemals selbst aktiv geträumt hat.
Wenn er zurück an seine Vergangenheit denkt, dann ist da an den meisten Tagen nur hungrige Verzweiflung in seinem Kopf. So ein Gefühl, dass sich auffressend anfühlt, dass mit beiden Händen begierig deine Innereien zur Seite schiebt und manchmal - da hat es ihn regelrecht verschlungen. Auf diese Art und Weise, in der man gar nichts anderes mehr wahrnehmen kann als das schwarze Dunkel der Verzweiflung und sich Leichtigkeit nur noch wie ein weitentferntes Konstrukt anfühlt, dass für bessere Menschen erfunden wurde.
An den helleren Tagen, in denen sich das Biest in seinem Inneren an der Verzweiflung satt gegessen hatte und ihm einen Moment zum Durchatmen gab, dann war da ein blutendroter Schattentänzer. Er erinnerte Yoongi an den schwersten Tagen daran, dass es auf dieser Scheißwelt immer etwas geben wird, dass die Schmerzen schweigen lassen kann und selbst die Dunkelheit begehrenswert erscheinen lässt. Irgendwann in den endlosen Stunden voller Begierde und Distanz wurde der Schattentänzer letztendlich zu einem Pendant des Wortes Hoffnung. Weil er immer da war, ihn berührte, ohne ihn anzufassen, und Verzweiflung in die Ecke drängte, weil andere Gefühle in seiner Gegenwart dringender gefühlt werden mussten.
Letztendlich war er der Grund, warum es Yoongi endlich zu Namjoon schaffte und ihm von dem hungrigen Biest in seinem Inneren erzählen konnte. Und es war Namjoon, sein Licht und seine Aufmerksamkeit und seine Kunsttherapie, die es letztendlich geschafft haben, dass sich aus der Verzweiflung Worte und Rhymes formten, die nicht nur Yoongi erlöst, sondern eine ganze Generation berührt haben.
Da sind so viele vernichtende Gefühle in unseren Herzen und unseren Köpfen. Wenn wir nicht lernen sie dort wieder rauszulassen, dann setzen sie sich fest wie ein Parasit und zerstören uns von Innen. Rappen. Das ist Yoongis Art sie loszulassen. Schreiben. Das ist meine Art. Namjoon kann dir andere Arten lehren, die tonnenschwererdrückenden Emotionen leichter zu machen. Love yourself. Irgendwann zwischen dem hundertsten Mal anhören habe ich verstanden, dass die zwei kleinen Wörter nicht nur leere Plastikplattitüden, sondern mit einer Einstellung gefüllt sind, die Leben retten kann. Vermutlich verschwinden diese schweren, auffressenden Gefühle niemals vollkommen. Aber sie können so leicht werden, dass wir lernen, sie (er)tragen zu können.
Love yourself. Schreiben. Rappen. Kunsttherapie. Es ist scheißegal, was es am Ende ist, was dich rettet. Denn es gibt so viele Wege und ich bin mir so sicher, dass einer davon für dich sein wird.
Yoongi beginnt seinen heutigen Vortrag mit einem Zitat von Novalis.
Die Kunst ist dazu da, die Wunden zu heilen, die der Verstand schlug.
„Bist du verletzt?", fragt er einen jungen Studenten aus der ersten Reihe, der ein großes Notizbuch aufgeklappt vor sich liegen hat und bereits eifrig die erste Folie des heutigen Tages darin notiert. Seine vollen Lippen haben die Form von Kirschblüten und er öffnet sie erstaunt einen Spalt, während er Yoongi verwundert anblickt.
„Ein wenig?", antwortet er fragend.
„Was hat dich verletzt?", setzt Yoongi offensiv nach. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Manche Wunden können nicht heilen, wenn sie immer nur verschwiegen werden. Es braucht Mut, um sie offen anzusprechen. Aber wenn wir nicht über unsere eigenen Verletzungen sprechen können, wie sollen wir dann anderen dabei helfen über ihre zu reden?
„Hast du dich schon mal bloßgestellt gefühlt? Oder ausgegrenzt?"
Der Student wirkt in seiner ganzen Gestikulation sehr zurückhaltend, beinahe schon feminin. Er passt nicht in das klassische Schönheitsideal eines koreanischen Mannes. Er ist zu zart dafür. Vermutlich wurde er schon mehr als einmal deswegen aufgezogen. Yoongi ist sich ziemlich sicher, dass er mit seinen Mutmaßungen ins Schwarze trifft.
Die Kirschblütenlippen verziehen sich zu einem schmalen Strich. Dann nickt er.
„Sag es", fordert ihn Yoongi auf.
„Beides", erfolgt die leise Antwort. Dann etwas mutiger: „Ich habe mich schon mal bloßgestellt gefühlt. Und auch ausgegrenzt. Das auch."
Es ist der erste Schritt. Vielleicht ist es nicht viel. Aber es kann reichen, um einen Unterschied zu machen.
„Und du?", wendet sich der Gastdozent an den nächsten Studierenden. Diesmal ein junges, unauffälliges Mädchen. „Was hat dich verletzt?" Diesmal spart er sich die Frage, ob sie sich verletzt fühlt. Sie alle tun es. Wir alle tun es. Bei manchen sind die Verletzungen nur nicht ganz so verehrend, nicht ganz so... lebensgefährlich. Denn auch innere Wunden können uns ausbluten lassen.
„Meine Eltern akzeptieren meine Entscheidung für diesen Studiengang nicht. Sie wollen lieber, dass ich etwas Handfestes studiere."
Yoongi schenkt ihr ein schmallippiges Grinsen. Vielleicht wird es noch ein, zwei oder drei Generationen dauern, aber irgendwann werden auch unsere Eltern einsehen müssen, dass sie stolz auf uns sein können, weil wir gute Menschen geworden sind. Und dann damit aufhören enttäuscht zu sein, weil wir keine reichen Menschen geworden sind.
Er will gerade zur Verbalisierung seiner Antwort ansetzen, als sich die Tür zum Vorlesungssaal ein letztes Mal öffnet und ein Nachzügler den Raum betritt. Es ist noch so früh am Morgen, dass es dem Studenten nachgesehen werden kann, dass er verschlafen hat. Er trägt eine weite Baggyjeans und einen viel zu großen XXL-Pullover darüber. Die Kapuze hat er sich weit ins Gesicht gezogen. Wahrscheinlich um die tiefen Augenringe einer durchzechten Nacht zu verbergen. Er bewegt sich geschmeidig und leise, um niemanden im Raum durch sein Zuspätkommen zu stören.
Auch wenn Yoongi Verständnis für seine Situation hat, kann er es sich trotzdem nicht nehmen lassen, ihn mit einem Schubs ins kalte Wasser zu begrüßen.
„Hey, Zuspätkommer!", ruft er über die Köpfe der meisten Studenten hinweg. Der Nachzügler hat sich in einer der letzten Reihen niedergelassen und gerade seinen Rucksack elegant von seinen Schultern gleiten lassen. Sein Blick hebt sich augenblicklich, aber Yoongi kann aufgrund der Kapuze kaum etwas von seinem Gesicht erkennen.
„Was hat dich verletzt?", fragt Yoongi geradeheraus. Er ist sich ziemlich sicher, dass das Zitat im Hintergrund seine Frage schon in den richtigen Kontext setzen wird. Außerdem befinden sie sich in einem Seminar zum Thema Kunsttherapie. So unangemessen kann seine Frage also gar nicht sein.
Die Antwort des Studenten dauert einen Augenblick, aber ihm wird die Zeit gelassen. Wie gesagt, es erfordert Mut seine Wunden offen auszusprechen und niemand kann dir vorschreiben, wann der richtige Augenblick dafür gekommen ist. Es kann einen Atemzug lang dauern oder auch ein halbes Leben. Du bestimmst den richtigen Augenblick und du bestimmst, ab wann du mit dem Heilen beginnst.
Der Student streift sich seine Kapuze vom Kopf und hebt den Blick. Yoongis Atem gefriert in der Luft zwischen ihnen und sein Herz bleibt stehen. Beinahe erkennt er ihn nicht, aber vielleicht nur, weil er ihn das erste Mal richtig sehen kann. Das grelle Licht der Neonröhren vertreibt die Schatten aus seinem Gesicht. Das wildgelockte Haar ist zu einem unordentlichen Dutt auf seinem Hinterkopf zusammengefasst. Da sind wirklich dunkle Augenringe in seinem Gesicht, die aufgrund der Beleuchtung prominent hervortreten. Yoongi kann ihn sehen. Ausgeleuchtet, wie mit Scheinwerfen, ohne blutendrote Schatten und ohne das Gefühl von Distanz.
In diesem Vorlesungssaal und in diesem Moment sind sie sich ganz nah und es passiert etwas, dass vielleicht schon vor langer Zeit hätte passieren sollen.
Eine Wahrheit wird ausgesprochen und Yoongi gefriert zu brennendem Eis.
„Mein Herz zu präsentieren und damit stehengelassen zu werden", sagt Prinz Jay. Aber so ausgeleuchtet von hellen Neonröhren ist er gar kein Prinz mehr. Er ist nur noch ein Junge.
Viele andere Kommilitonen nicken verstehen und verständnisvoll. Zurückgewiesene Liebe. Wer kennt das nicht? Yoongi weiß selbst auch, wie es sich anfühlt.
Aber so hat er es zwischen ihnen nie interpretiert. Zumindest nicht von seiner Seite aus. Haben die roten Schatten ihn wirklich so sehr geblendet, dass er den Kern der Geschichte nicht erkennen konnte? Liebe ist nämlich keine Herausforderung. Liebe ist warm.
* * *
Namjoon ist für Yoongi eingesprungen und hat die Situation gerettet. Hat für ihn geantwortet und so lange Fragen über Liebe und Verwundet-Sein gestellt, bis sich sein Gastdozent wieder an seine Rolle erinnert hat.
Muss er ein Rapstar sein?
Muss er ganz oben sein?
Muss er ein König sein?
Kann er dann noch er selbst sein?
Yoongi traut sich kaum seinen Blick über die letzte Reihe schweifen zu lassen. Er hält seinen Vortrag, als wäre er ein Roboter. Vielleicht ist das die einzige Lösung dafür, wenn deine sozialen Rollen gerade mit Tempo 100 auf der Autobahn miteinander kollidiert sind und du die Fundamente ihres Seins noch aufsammeln musst. Irgendwie musst du ja selbst dann noch funktionieren.
„Gott, Namjoon, das war der Tänzer", bricht Yoongi auf dem Vorlesungspult zusammen, kaum dass die letzten Studierenden den Vorlesungssaal verlassen haben.
„Wer?", erkundigt sich sein Kindheitsfreund augenblicklich. Er muss nicht fragen, über welchen Tänzer Yoongi da spricht. Er kennt die Geschichten, sie wissen alles voneinander.
„Der Junge in der letzten Reihe. Der zu spät gekommen ist. Der mit dem gebrochenem Herzen."
„Jungkook?!", erwidert Namjoon geschockt.
Yoongi kann nur hilflos mit seinen Schultern zucken. „Ich weiß nicht, wie er heißt. Im Shadow gibt es keine Namen."
„Er gehört zu meinen besten Studenten", fährt Namjoon um Fassung bemüht fort. „Also nicht... Nicht, dass das sich das ausschließt. Stripper zu sein und trotzdem gut im Studium, aber... Ich hab's... Ich schätze, ich habe es einfach niemals in Betracht gezogen."
„Fuck", seufzt Yoongi über die leeren Reihe des Vorlesungssaals.
„Fuck", stimmt ihm Namjoon anstandslos zu.
„Was mach ich denn jetzt?"
„Mhhhmmm", überlegt sein Freund laut. „Die eigentliche Frage ist: Musst du denn jetzt irgendwas machen? Ändert das etwas an der Situation?"
Er kennt mich jetzt,
will Yoongi als erste Reaktion in den Raum rufen. Aber das stimmt so nicht. Prinz Jay kannte ihn schon lange. Erst als Gast. Dann als Berühmtheit. Gestern Nacht als seinen König, heute Morgen als seinen Dozent. Prinz Jay kennt ihn in so vielen Rollen. Es macht gar keinen Unterschied mehr. Oder?
„Ich kenne ihn jetzt", antwortet Yoongi also, denn das ist es, was sich gerade verändert hat. Der Tänzer ist nicht mehr eine Ausgeburt der Schatten, nicht mehr durch blutendrotes Licht verzerrt. Nicht mehr nur Begehren auf Distanz und Leidenschaft auf Raten. Ihre Begegnung hier ist echt. Jungkook ist echt.
Ein lautes Klopfen unterbricht ihre Unterhaltung. Vielleicht wisst ihr es nicht, weil ihr gerade nicht dabei seid und das Geräusch nicht hören könnt, aber...
So klingt Mut.
Manchmal ist es nur ein Klopfen.
„Entschuldigen Sie bitte, Senpai-Kim", Jungkook verbeugt sich so tief, wie es die Höflichkeit von ihm verlangt, aber an seinem Auftreten ist keine Spur von Unsicherheit zu erkennen. Falls ihr den Tänzer bis jetzt noch nicht bewundert habt, dann denkt bitte nun noch einmal über eure Entscheidungen nach. Denn erst ab jetzt habt ihr die Möglichkeit dazu, es aus den richtigen Gründen zu tun. „Aber ich würde gerne mit Herrn Min sprechen, wenn Sie erlauben?"
„Nun Herr Jeon", das Grinsen in Namjoons Augen zieht sich durch den gesamten Raum. Obwohl er zu Jungkook aufblicken muss, wirkt er in keiner Nuance unterlegen. Yoongi wünscht sich diese Selbstsicherheit in seinen eigenen Körper. Die Art, wie Jungkook auf ihn herabblickt, lässt nämlich ätzende Reue durch seine Blutbahnen jagen. Er weiß nur noch nicht genau, was er denn eigentlich bereut. „Die Frage kann ich Ihnen wohl leider nicht beantworten. Das müssen Sie nicht mich fragen, sondern Herrn Min selbst."
Als Jungkooks Augen Yoongi streifen, beginnen sie zu glühen. Vielleicht verbrennt der Junge innerlich. Vielleicht tanzen deswegen immer rote Schatten wie Flammen auf seinem Körper.
„Yoongi? Können wir reden?"
Er verzichtet auf eine höfliche Ansprache. Warum sollte er sie auch benutzen? Es wäre nichts als eine Farce. Sie haben schon zu viel voneinander gesehen. Und außerdem macht er damit klar: Er möchte nicht mit seinem König sprechen und auch mit keinem Rapstar. Er möchte mit Yoongi sprechen. Es ist jetzt an der Zeit, endlich er selbst zu sein.
Es macht also doch einen Unterschied. Auch für ihn.
* * *
„Du bist selten da in den letzten Monaten", eröffnet Jungkook das Gespräch. Es ist kein Vorwurf in seiner Stimme zu erkennen, es ist lediglich eine Feststellung.
„Mhm", nickt Yoongi bestätigend. „Viel zu tun. Die Zeitpläne werden enger und..."
Man lässt ihn nicht ausreden.
„Der Ruhm größer?", unterbricht ihn der Student forsch.
„Auch das", gibt Yoongi zähneknirschend zu. Eigentlich ist er ziemlich schüchtern und zurückhaltend. Nicht mal gut in Konversationen, obwohl ihm Worte ansonsten keine Probleme bereiten. Aber es ist so verdammt schwer, einfach nur man Selbst zu sein, wenn man sich nicht mehr hinter einer anderen Rolle verstecken kann. Und die Gegenwart des jungen Studenten lässt ihn viel zu viele Gefühle auf einmal fühlen.
„Ich hatte Angst, dass du gar nicht mehr wiederkommst."
Jungkook ist so entwaffnend ehrlich. Vermutlich trägt er sein gesamtes Herz auf der Zunge und geht mit dem Kopf immer durch die Wand. Wie kann man sich denn dagegen wehren? Wie kann man denn in seinem Angesicht irgendetwas anderes als schutzlos sein?
„Ich werde immer wieder kommen", erklärt Yoongi die einzige Wahrheit in seinem Leben, von der er wirklich felsenfest überzeugt ist. Vielleicht kommen sie auf diese Weise voran, einander näher.
„Und wenn ich dann nicht mehr da wäre?", erkundigt sich Jungkook. Er hat den Kopf leicht schief gelegt und schaut ihn aus großen, haselnussbraunen Rehaugen fragend entgegen. Die hellen Lichter lassen einzelne Partikel in seiner Iris golden funkeln.
Yoongi hat über diese Frage noch nie nachgedacht. Lächerlich, oder? Der Tänzer war immer wie ein Naturgesetz für ihn und ein Naturgesetz kann man nicht einfach außer Kraft treten lassen. In seinem Kopf war es deswegen immer unmöglich, dass er jemals das Shadow betreten und den Tänzer nicht dort vorfinden wird.
„Ich will nämlich nicht für immer da sein, weißt du?", macht Jungkook weiter. „Ich bin schon viel zu lange dort."
„Du willst mehr in deinem Leben, oder?", fragt ihn Yoongi, aber es ist lediglich rhetorischer Natur, damit die Stille keinen Platz zwischen ihnen findet, um sich auszubreiten. Sein Gegenüber macht ihn so nervös. Er ist richtig gehend verlegen.
„Wer will das nicht?", stellt Jungkook die richtige Gegenfrage und grinst ihm wieder kokett zu. Obwohl Yoongi die Geste kennt, trifft sie ihn trotzdem vollkommen unvermittelt. Die Situation ist eine andere und sie beide – sie sind auch zwei andere. So ganz hell ausgeleuchtet, wie von einem Scheinwerfer. Aber nicht nur Yoongi kann jetzt endlich alles von Jungkook erkennen, sondern der andere auch von ihm. Licht ist etwas Wechselseitiges. Es wirkt nicht nur in eine Richtung. Und jetzt muss er sich fragen: Sieht er zu viel? Wollte er nicht, dass Jungkook diese Seite von ihm sieht? Diese... echte?
„Was willst du in deinem Leben?", fragt Jungkook weiter.
„Ich will dich tanzen sehen", antwortet Yoongi augenblicklich, aber die Reaktion seines Gegenübers ist nur ein müdes Lachen. Er glaubt ihm nicht. Vermutlich fühlt er sich nicht mal sonderlich ernst von ihm genommen.
„Jetzt mal ehrlich", probiert es der Student deswegen erneut. „Was willst du in deinem Leben?"
Yoongi kann ihm darauf keine andere Antwort geben.
Deswegen entscheidet er sich dafür, nun seinerseits die Fragen zu stellen.
„Hast du das eben ernst gemeint?", platzt er hervor.
Es ist gut, dass sie überhaupt miteinander sprechen. Aber in dem Moment, in dem der erste Schritt gegangen ist, ist es wichtig auch vor dem zweiten nicht zurückzuschrecken. In ihrem Fall also, dass sie nun über das richtige Thema miteinander reden müssen. Aber welches ist das?
Jungkook nickt. Die Antwort steht in seinen Augen geschrieben. Vielleicht hätte es Yoongi früher erkennen können, wenn er ihm doch nur einmal um etwas mehr gebeten hätte als um einen Tanz.
„Ich hab das so nie wahrgenommen", erklärt sich der Ältere schnell. Die Antwort klingt in seinen eigenen Ohren nach einer Mischung aus Entschuldigung und Rechtfertigung. „Also das zwischen uns. Ich... Ich dachte, ich bin nur ein Job für dich. Im besten Fall eine Herausforderung, weil das zwischen uns... eben nur ein Spiel ist."
„War es das denn für dich? Ein Spiel? Die Herausforderung?", Jungkook wirkt enttäuscht.
„NEIN", sagt Yoongi aufgeregt. Eine Explosion an Emotionen vibriert ungeduldig auf seiner Zunge. So weit hat es sein Herz noch nie geschafft. Es darf jetzt nicht aufgeben, auch wenn die Worte ungeschickt und unbedacht sind.
„Nein", wiederholt er noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck. „Ich hab nur gedacht, dass das die beste Möglichkeit wäre. Also – für uns. Obwohl es das uns ja nie gab und nur in meinem Kopf existiert hat. Ich... Ich hab mich nicht getraut von mehr zu träumen. Also, davon zu träumen, ob ich dir mehr bedeuten könnte. Ob wir... ob vielleicht wir einander mehr bedeuten könnten."
„Ich bin ein Stripper. Du bist ein Superstar. Und du willst mir erklären, dass du dich nicht getraut hast dir vorzustellen, dass du mir mehr bedeuten könntest als nur ein Kunde zu sein?"
Yoongi nickt vorsichtig. Sein wahres Ich ist wirklich scheu. Und irgendwie sah die Realität in seinen Augen immer ganz anders aus als das, was Jungkook ihm gerade schildert. War es wirklich so verdreht? Klar, er ist vielleicht berühmt, aber... Jungkook ist alles. Verführung und Sünde, aber auch sein Pendant für Hoffnung, ein Sinnbild für Erlösung von zerfressenden Gedankenbiestern, auf der Tanzfläche der schönste Schein und als junger Student mit tiefen, dunklen Augenringen und dem Herz auf der Zunge das schönste, mutigste Sein der Welt.
„Ich hab mich kaum getraut dich anzusehen, in all deinem scheiß Perfektionismus", gesteht Jungkook mit Verwirrung in der Stimme. „Wie du auf der Couch sahst, wie auf einem Thron und nie auch nur eine Miene verzogen hast. Mit deinem perfekten Aussehen und deiner perfekten Stimme in diesen scheiß perfekten Songs in deinem scheiß perfekten Leben. Ich hab irgendwann gar nicht mehr verstanden, warum du überhaupt noch hergekommen bist."
Jetzt wirkt der junge Student nicht mehr nur enttäuscht, sondern auch frustriert. Von seiner Seite aus der Bühne muss das Bild immer ganz anders ausgesehen haben.
„Ich bin wieder gekommen, weil ich dich tanzen sehen wollte. Ich will dich mein ganzes Leben tanzen sehen", bleibt Yoongi weiter bei der Wahrheit. Es ist wirklich alles, was er tun kann. Es ist sein ganzes Herz, was er dem jungen Studenten gerade vor die Füße wirft und er streckt die Finger nach ihm aus. Hier im Vorlesungssaal kann der Tänzer den Lichtstrahlen nicht mehr ausweichen, vielleicht kann auch Yoongi ihn jetzt endlich erreichen.
Aber Jungkook weicht vor ihm zurück. Seine runden Rehaugen weiten sich ein Stück und er wirkt plötzlich so ängstlich, als hätte Yoongi zu einem Schlag ausgeholt.
„Nein", sagt er kraftlos. „Du darfst mich nicht berühren. Niemand darf das."
Manchmal kommt die Wahrheit unverhofft.
Manchmal ist sie nur eine Berührung oder nur einen Versuch weit entfernt.
„Warum nicht?", erkundigt sich Yoongi. Die Zurückweisung schmeckt bitter, aber keine Synapse in seinem Körper möchte, dass Jungkook Angst vor ihm haben muss. Deswegen lässt er den Arm wieder sinken.
„Ich mein es wirklich ernst, Jungkook." Der Name fühlt sich fremd in seinem Mund an. Es ist das erste Mal, dass Yoongi ihn mit seinem Namen anspricht. Es ist das erste Mal, dass er ihn überhaupt anspricht.
„Ich hab mich nie getraut weiter zu gehen, weil ich nicht wusste, was passieren wird. Mein scheiß perfektes Leben ist nicht perfekt. Eigentlich ist es nur ziemlich Scheiße. Und die perfekten Songs, von denen du da sprichst, die sind alle wahr und auch das ist eigentlich ziemlich scheiße. Das Monster in meinem Kopf ist keine schöne Metapher. Das existiert. Und es hätte mich aufgefressen, wenn du nicht da gewesen wärst. Und Namjoon und die Musik und... ich brauch echt Hilfe, weißt du? Ich schaff es ja kaum in Seoul sein. Hier sind die Schatten zu groß und... es ist zu kalt."
„Ich brauche auch Hilfe", gesteht Jungkook leise. Vermutlich war es schon in dem Moment klar, in dem er vor Yoongis Berührung zurückgeschreckt ist.
Sind wir jetzt an dem Punkt angelengt, in dem wir über das richtige Themen sprechen? In dem wir den Kern der Geschichte endlich erkannt haben?
Zumindest sprechen Jungkook und Yoongi jetzt darüber, dass der Schattentänzer wirklich blutet. Dass das rote Licht nicht nur Feuer und Wunden auf seinen Körper malt, sondern viele schreckliche Ereignisse zu Verletzungen in seinem Inneren geführt haben. Ich mein, irgendwie ist es doch klar, dass man nicht im letzten Lokal irgendwo in der schmutzigsten Gegend von Seoul als Stripper auf einer Bühne landet und gleichzeitig in einem Seminar über Kunsttherapie sitzt, wenn in dem Leben davor alles rund verlaufen ist. Da muss es schon echt viele Ecken und Kanten gegeben haben. Vielleicht ein paar davon mehr, als Körper und Geist unbeschadet überstehen können.
Bei Jungkook waren es letztendlich die Hände, die ein Trauma in ihm ausgelöst haben. Hungrige Hände auf seiner Haut, die er nie wollte und doch nie wieder vergessen kann. Hände, denen er erst auf der Bühne entfliehen konnte, weil sie ihn dort nicht mehr erreicht haben. Aber... es war vielleicht auch schon ein langer Weg, bis er endlich auf dieser Bühne angekommen ist. Auch wenn es nicht die große Bühne ist, die Yoongi mittlerweile sein Zuhause nennen kann, sondern nur der kleine Bereich in einem düsteren Hinterzimmer im Shadow. Seit er Tänzer geworden ist, konnten ihn die Hände nicht mehr erreichen. Aber vergessen konnte er sie trotzdem nicht.
Niemand darf ihn berühren.
Nur er selbst.
Hast du darüber nachgedacht, warum das so ist?
Jungkook endet nach endlosen Minuten mit seiner Geschichte. Schließlich fragt er: „Und wenn es nie mehr wird? Wenn du mich nie berühren darfst? Wenn ich es nie zulassen kann?"
„Dann will ich dich trotzdem immer tanzen sehen", antwortet Yoongi.
„Mir ist es in Seoul auch zu dunkel", sagt Jungkook abschließend. Ein kleines trauriges Lächeln umspielt schon wieder seine Mundwinkel. Er ist so, so stark. Und er lächelt, weil er weiß, dass Yoongi seine Anspielung verstehen wird. Diesmal wird er sie verstehen.
„Dann willst du vielleicht mal einen anderen Ort sehen? Einen Ort... an dem es warm ist - vielleicht?", beendet Yoongi diese Geschichte.
Liebe ist keine Herausforderung. Liebe ist warm.
ENDE
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