ҜΔPITΣL 17.3
Eine halbe Stunde später wurde durchgesagt, dass der Bunker in wenigen Minuten geschlossen werden würde. Man ermahnte die Menschen, Ruhe zu bewahren und an ihrem zugeteilten Platz zu bleiben, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Junge hielt es jedoch nicht mehr alleine auf seiner Pritsche aus. Nachdem die letzten Worte der Durchsage in den blechernen Lautsprechern verklungen waren, sah er sich um und lief dann los. Keiner schien ihn zu beachten, die Menschen um hin herum waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er machte sich auf dem Weg zum nächstgelegenen Ausgang. Wo war sein Vater? Wo war seine Mutter? Sein Vater wäre nicht begeistert, wenn er erfahren würde, dass er sich mitten im Chaos allein aufgemacht hatte, um seine Mutter zu suchen. Er hatte ihm eingeflößt, an seinem Platz zu bleiben, damit er sich nicht auch noch Sorgen um ihn machen musste. Der Junge hatte ihm versprochen, ihm zu gehorchen. Doch das war vor der Durchsage gewesen, die ihn in Panik versetzt hatte. Es blieben nur noch wenige Minuten, dann würde der Bunker geschlossen werden. Vielleicht für Jahre.
Er kämpfte sich durch die Menschenmassen, die sich auf der Suche nach einem Aufenthaltsort durch die breiten Gänge quetschten. Er war zwar noch ein Kind, aber für sein Alter war er bereits hochgewachsen. Trotzdem waren die Menschen, die rücksichtslos gegen ihn prallten, stärker.
Er wurde hoffnungsloser, als er bemerkte, wie lange er für den Weg brauchte. Würde er es überhaupt noch vor der Schließung bis zum Ausgang schaffen? Panik kroch in ihm hoch, umkrallte sein Herz mit eiskalten Fingern. Er wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn er es nicht schaffte. Wenn seine Mutter es nicht schaffte.
„Hey!", rief ein Mann ihm hinterher, der sich angestrengt darum kümmerte, die Menge auf Abschnitte des Bunkers aufzuteilen. Der Junge musste ihm aufgefallen sein, weil er gegen den Strom lief. Doch er ignorierte ihn, lief schneller. Er musste es schaffen.
Er erkämpfte sich seinen Weg, wurde angerempelt, angeschimpft. Sein Vater hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde, dass die Menschen in Panik verfielen. Aber wie war das schon möglich, wenn sie in Todesgefahr waren?
Nach einer Ewigkeit bog er endlich in den Gang zum Ausgang ein. Er war länger als die anderen, und hier war Chaos ausgebrochen. Auf der anderen Seite der Tür standen Menschen, drückten sich in Panik gegen die Gitter, die Soldaten der Regierung vor der Tür befestigten, um die Menschen vom Eindringen abzuhalten. Kinder weinten, und das Wehklagen und die Verzweiflung schlug dem Jungen so stark entgegen, dass er unwillkürlich stehenblieb. Menschen, die es geschafft hatten, liefen an ihm vorbei, wollten ihn mit sich zerren, doch er wehrte sich. Nach einer Weile wagten sie es nicht mehr, ihn anzufassen. Der Gang lichtete sich. Die Soldaten hatte es geschafft, den Zaun zu befestigen. Nun stemmten sie sich mit aller Kraft gegen die Masse an Menschen, die noch immer versuchten, in den Bunker zu gelangen.
Starr sah der Junge zu, wie die Soldaten den Zaun abschlossen. Die Menschen gaben trotzdem nicht auf. Sie schrien sie an, die Tür zu öffnen. Eine Mutter brüllte, dass ihr Kind allein im Bunker wäre, ein Vater versuchte, sein Kind über den Zaun zu heben. Die drei Soldaten hatten alle Hände voll zu tun. Die Situation eskalierte, als ein Mann ein Messer hervorzog und wie wild damit herumgestikulierte. Die Soldaten wichen erschrocken zurück. Die Menge stemmte sich erneut gegen den Zaun und hätte es fast geschafft, die Tür aufzubrechen, wenn nicht einer der Soldaten mit zitternden Händen seine Waffe entladen und dem Mann mit dem Messer durch den Zaun an die Stirn gehalten hätte. Eine eisige Stille breitete sich plötzlich aus. Der Mann mit dem Messer war auf einmal ruhig, seine verzweifelte Wildheit war einem flehenden Gesichtsausdruck gewichen. Der Soldat und der Mann bewegten sich nicht. Ein Schluchzen erklang in seiner Nähe. Eine Frau weinte, das Baby auf ihrem Arm sah mit großen Augen zu ihr auf. Ihre Kleidung war zerschlissen, in ihrer Mimik und Gestik lag eine Hoffnungslosigkeit, die den Soldaten für einen Augenblick abzulenken schien. Der Mann ergriff die Gelegenheit und stieß seine Waffe auf den Boden, ehe er dem Soldaten sein Messer in den Bauch stach.
Es dauerte nicht eine Sekunde, bis die zwei anderen Soldaten ebenfalls das Feuer auf ihn eröffnet hatten. Als der Mann mit dem Messer zu Boden ging, schien er den Jungen im Gang zu bemerken. Röchelnd sah er ihn an, ließ ihn selbst dann nicht aus den Augen, als sein Kopf auf den Boden prallte.
Eine Gänsehaut breitete sich auf dem Körper des Jungen aus. Er wagte es nicht, zu atmen. Diese Menschen würden es auch nicht schaffen, in einem anderen Bunker unterzukommen, schoss ihm durch den Kopf. Diese Menschen würden sterben, egal, was er tat.
Er atmete tief durch und wollte ihnen gerade mit tränennassen Augen den Rücken zuwenden, als er in seiner Bewegung erstarrte.
Sein Mund klappte auf, als er in der Menschenmasse vor dem Eingang seine Mutter entdeckte.
„Mum?" Sie hatte hinter dem Mann mit dem Messer gestanden, der nun mit leichenblassem Gesicht auf dem Boden lag.
„Mum!" Ohne zu zögern rannte er los, überbrückte den Abstand zwischen ihm und dem Zaun. Ohne die Soldaten zu beachten, griff er nach dem Zaun. „Mum!" Ein Schluchzer glitt ihr über die Lippen, als sie ihn ebenfalls entdeckte. „Geh zu deinem Vater, Phoenix."
Heftig schüttelte er den Kopf. „Macht die Tür auf!", schrie er einen Soldaten neben ihn an, der neben seinem gefallenen Freund auf dem Boden hockte. Eine Härte lag in seinem Blick, die den Jungen verzweifeln ließ. „Das ist meine Mum!"
Als der Soldat nicht reagierte, packte der Junge den anderen Soldaten an den Schultern. In seinem Griff lag eine Stärke, die er sich selbst nie zugetraut hatte. Trotzdem versuchte er, all seine kindliche Überzeugungskraft in seinen Blick zu legen, als er mit flehenden Augen zu ihm aufsah. „Bitte", flüsterte er.
Der Soldat schüttele nur den Kopf, wich seinem Blick aus. Der Junge raufte sich die Haare, rüttelte an dem Zaun, bis er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er erstarrte. Der Soldat zog ihn beinahe sanft vom Zaun zurück. „Die Türen werden jetzt geschlossen, junger Mann."
Der Junge schüttele erneut heftig den Kopf. „Nein!" Er versuchte, wieder zum Zaun zu gelangen, doch gegen die Kraft des breit gebauten Soldaten hatte er nicht den Hauch einer Chance. Er wehrte sich, trat um sich, doch der Griff des Soldaten lockerte sich nicht, im Gegenteil; er wurde fester, bestimmter. Er wurde ein paar Meter vom Zaun weggezogen.
Er löste seinen Blick nicht von dem verzweifelten Gesicht seiner Mutter, als die schweren Eisentüren des Bunkers sich langsam aufeinander zuschoben. Der andere Soldat hatte anscheinend einen Mechanismus an der rechten Wand in Gang gesetzt.
Eine Träne lief über die Wange des Jungen, als seine Mutter wie zu einem letzten Gruß die Hand um den Zaun legte und ihn mit verweinten Augen lächelnd ansah, bevor die Eisentüren sich mit einem letzten Ächzen vor der Außenwelt schlossen.
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