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Ich wusste nicht, wie spät es war, also konnte ich auch nicht sagen, ob sich mein Magen so seltsam anfühlte, weil ich Hunger hatte oder weil die vergangenen Stunden alles in mir aufgewühlt hatten. Mein Bauch war der Waldboden, den eine kleine Maus im Winter nach Futter abgesucht hatte – die Wurzeln in mir waren angeknabbert und die Erde lose zerstreut.
Aber die Tasse Tee, die mir Umria gebracht hatte, half. Wir waren in ihrem Glashaus gelandet, zuerst sie und ich, dann wenige Minuten später Caelum. Nun saßen wir zu dritt in einem Zimmer, das mich an ein Labor erinnerte, aber nicht steril genug war, um eines zu sein. Auf der Arbeitsfläche reihten sich Gefäße aus Ton und Glas aneinander – die Fläche selbst war aus Holz, genauso wie die Schränke an den Wänden und die Hocker, auf denen wir Platz genommen hatten. Der Raum war eher schmal, aber dafür in die Länge gezogen und im hintersten Drittel erkannte ich einige zusammengebundene Kräutersträuße, die kopfüber aufgehängt waren. Davor befand sich ein etwa kniehohes Tischchen, das ebenfalls mit zahlreichen Blättern bedeckt war. Vermutlich trockneten sie hier die Pflanzen, die sie für ihre Zauberbündel brauchten.
„Was war das für ein Kraftfeld? Können Menschen wirklich so etwas machen?", fragte ich nach, löste meinen Blick von all dem Grünzeug und sah Umria an.
Wenn das so war, machte mir diese Magie Angst. Die Schützen hatten mich an einen Stuhl gebunden und mit ihren Zeichnungen am Boden verhindert, dass ich mich aus diesem Bereich entfernen konnte. Auch wenn ich es kaum gespürt hatte, machte es das nicht besser. Dieses Unterschwellige, Versteckte kam mir nur noch unberechenbarer vor. Umrias Kräfte waren nicht weniger einschüchternd, aber bei ihr wusste ich mittlerweile, dass sie zu unglaublichen Dingen fähig war. Und viel wichtiger: Sie schien selbst zu wissen, wie das alles funktionierte und konnte ihre Zauber gezielt einsetzen.
Bei den Menschen war ich mir da nicht so sicher.
„Ich denke schon", murmelte sie. „Die Runen haben mich stark an einen Bindungszauber erinnert – das ist eine Variante von Schutzzaubern. Er war nicht perfekt gezeichnet und ich glaube, dass ein Mensch nie dieselbe Energie darin manifestieren kann wie eine Vollkommene, aber das Symbol alleine saugt etwas Energie in sich auf und nutzt diese."
„Und woher kennen sie die Rune?"
„Wenn ich das nur wüsste." Umria seufzte, stützte sich mit dem Ellbogen auf die Arbeitsplatte und legte ihr Kinn an ihrer Faust ab.
„Hm", machte ich und versuchte, das Vergangene so analytisch zu rekonstruieren wie nur möglich. Es tat gut, sich damit zu beschäftigen und zu versuchen, ein paar der Rätsel einzufangen, die durch meinen Kopf flatterten. Ganz bewusst versuchte ich dabei, alles, was mit Connor zu tun hatte, in eine Kiste zu quetschen und diese zuzusperren. „Wieso hat die Rune dann bei mir funktioniert, aber bei dir nicht?"
„Für Vollkommene ist es ein leichtes, sich dieser Energie zu widersetzen. Wir haben die Zügel in der Hand und manipulieren die Kräfte um uns herum." Ich erwartete eigentlich, dass sie mich selbstzufrieden angrinsen würde, aber sie schien nicht in Stimmung dazu zu sein. Nachdenklich starrte sie in die Ferne. „Du als Instinktjägerin bist den Energien um dich herum ausgeliefert, weil du weder menschlich noch vollkommen bist. Du bist das Dazwischen."
„Aber dann hättest du mich doch auch losbinden können?" Nun sah ich Caelum an.
Seit er kurz nach uns in dem Gewächshaus gelandet war, hatte er kaum ein Wort gesagt. Er hatte nur einmal gefragt, ob alles in Ordnung war und genickt, als ich seine Frage bejaht hatte. Doch jetzt schien er noch mehr zu Stein erstarren zu wollen. Sein Blick traf den von Umria. Ob sie irgendeine magische Verbindung hatten, sodass sie gedanklich miteinander kommunizieren konnten? Es wirkte beinahe so, aber dann drehte er so schnell den Kopf herum, dass es mir doch wieder zu albern vorkam.
Caelum hatte das Kraftfeld gespürt. Er hatte selbst behauptet, dass er sich mir nicht nähern konnte. Dann war er aus dem Fenster gesprungen, statt sich weg zu teleportieren – warum eigentlich?
Automatisch zogen sich meine Augenbrauen zusammen. Ich wusste, dass ihm meine Fragerei nicht gefiel, aber ich konnte es mir nicht verkneifen. „Bist du ein Instinktjäger?"
Bei meinen Worten begann sein Gesicht rot zu glühen, vielleicht vor Scham, vielleicht vor Wut, so genau wusste ich es nicht. So oder so warf er mir einen grimmigen Blick zu. „Nein."
„Sondern?" Ich wusste nicht, woher ich den Mut nahm, ihn noch mehr zu nerven. Vielleicht war ich nach der Begegnung mit Connor so abgebrüht, dass es mich jetzt kalt ließ, mir Caelum auch zum Feind zu machen. Falls man Connor und mich jetzt als Feinde bezeichnen konnte. Wie sollte ich jemanden nennen, der mich derart manipuliert hatte? Stopp. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um mir darüber Gedanken zu machen.
„Ich denke, es wäre einfacher, wenn du ihr die Wahrheit sagst", warf Umria ein, bevor sie ausgiebig gähnte. Während meine Nerven so gespannt waren wie das Seil bei einem Bungeejump, wirkte sie eher gelangweilt.
„Halt du dich da raus. Ich wüsste nicht, inwiefern das etwas bringen sollte."
„Hm, ich weiß auch nicht", begann die weißhaarige Hexe mit sarkastischem Unterton. „Vielleicht würde sie dir dann helfen, obwohl das mit dem Heilmittel nichts wird."
Ein neues Fragezeichen tauchte in meinem Kopf auf und blies sich immer größer auf, wie ein fetter Luftballon. Danach sofort ein zweites. Ich sollte Caelum helfen? Und warum gab es kein Heilmittel? So beiläufig, wie sie es gesagt hatte, war ich mir bei ihrer zweiten Aussage nicht sicher, ob meine Ohren überhaupt funktioniert hatten.
„Können wir bitte eins nach dem anderen besprechen?", bat ich aufgeregt. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder ein Kind, das am Abend vor seinem Geburtstag im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil der nächste Morgen so viel versprach, aber so viel Ungewisses in sich trug. Es gab so viel Potenzial, enttäuscht zu werden, aber die Neugier war die stärkere Emotion.
„Gut. Wenn du meinst, dass sie meine Lebensgeschichte hören sollte, dann erzähl du sie ihr doch", grummelte Caelum, stand auf und verließ zielstrebig den Raum.
Umria nippte gemütlich an ihrem Tee. Das Ganze schien sie immer noch nicht aus der Ruhe gebracht zu haben. Auch ich nahm einen Schluck und genoss die Wärme, die sich in mir ausbreitete, während ich auf Antworten wartete. Falls ich welche bekam. Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen – wie kam ich denn überhaupt dazu, mich jetzt auf einmal in Caelums Leben einzumischen? Bei der Sache mit Greta war es ähnlich gewesen, aber in diesem Punkt hatte ich nachgehakt, weil ich – unter anderem – sicher gehen wollte, dass es ihr gut ging.
Dieses Mal schien er allerdings meine Hilfe bei irgendwas zu brauchen, zumindest, wenn man Umria glauben konnte. So gesehen hatte ich doch das Recht auf mehr Informationen, oder?
„Stella hast du schon getroffen, nicht wahr?", wollte sie nun von mir wissen. Ich musste recht verwirrt Löcher in die Luft starren, weshalb sie hinzufügte: „Caelums Mutter."
Nun nickte ich. Ich hatte zwar kaum mit ihr gesprochen, sie schien eher zurückhaltend zu sein, aber sie war mir auch nicht negativ aufgefallen. Außerdem fand ich sie weit weniger unheimlich als Scuro, ihren Ehemann.
„Stella ist eine Vollkommene. Aber Caelums Vater ist, denke ich, ein Instinktjäger."
„Scuro ist ein Instinktjäger?" Jetzt war ich erst recht verwirrt. Dieser Mann, der nicht viel von Menschen hielt und ein Genie sein musste, wenn es um Heilzauber ging... Eben hatte Umria mir noch erklärt, dass Instinktjäger Energien nicht manipulieren konnten. Dass wir nicht zaubern konnten. Jetzt passte nichts mehr zusammen.
„Nein. Scuro ist Merulas und Micos biologischer Vater. Aber nicht der von Caelum."
„Oh."
Auf einmal machte es klick in meinem Kopf und ich kam mir ein bisschen bescheuert vor, weil ich es nicht gleich begriffen hatte. Stella hatte also mit irgendeinem Instinktjäger Caelum gezeugt. Er war demnach irgendetwas zwischen Vollkommenem und einem Menschen. So wie ich, aber eben doch anders.
„Du wirst niemandem davon erzählen, verstanden?" Auf einmal war der Junge, über den wir gerade noch gesprochen hatten, wieder hinter mir aufgetaucht. Ich drehte mich in seine Richtung und war mir nicht sicher, ob die Situation ihm oder mir unangenehmer war. Trotzdem hatte er es wohl nicht ausgehalten, dieses Gespräch allein seiner Mentorin zu überlassen.
„Okay", versprach ich und wusste, dass ich mich daran halten würde. Ich wollte ihm keine Probleme machen. Außerdem gab es mir ein neues Gefühl von Sicherheit. Zu wissen, dass auch er anders war, dass ich nicht als Einzige in Enem unvollkommen war, war eine Erleichterung.
„Besonders Scuro sollte lieber nicht Bescheid wissen", fügte Umria noch hinzu. Er wusste es also nicht einmal? Ich bemühte mich, nicht zu überrascht auszusehen. Wenn das so war, ging ich davon aus, dass Merula auch nicht eingeweiht war. Bevor ich weiter nachhaken konnte, stand Umria auf. „So. Das muss fürs Erste reichen. Ich kann kaum noch meine Beine bewegen, ohne dass ich mich davor fürchten müsste, dass sie abfallen. Wenn du willst, kannst du hierbleiben, Nia. Caelum soll dir das Gästebett zeigen. Nach diesem Tag hast du sicher auch so einiges, das du erst einmal verarbeiten musst. Wir können uns morgen weiter unterhalten."
„Was soll das? Du inszenierst so eine Vorführung und verschwindest dann?", beschwerte er sich und ich konnte es ihm nur nachfühlen. Ich hatte noch so viel Fragen und auch wenn es draußen bereits finster geworden war, wollte ich mich noch lange nicht ins Bett legen.
„Ich bin müde. Das Wichtigste war, Nia zu uns zu bringen." Nun wandte sie sich wieder mir zu. „Eigentlich wollte ich mit dir über unsere Abmachung reden und habe Caelum deshalb zu dir geschickt. Als ich dann gespürt habe, dass mit dem Schlüsselportal, das ich ihm gegeben habe, etwas nicht stimmt, dachte ich, es wäre vielleicht klug, mir das selbst anzusehen. Eine meiner besseren Entscheidungen – und das trotz Schlafmangel. Ich bin definitiv schon zu lange wach. Aber jetzt sind wir alle in Sicherheit und können schlafen."
Sie ließ kein Aber zu. Selbst wenn es auf Caelums Lippen lag, sprach er es nicht aus, sondern starrte ihr nur aus schmalen Augen hinterher.
„Danke", brachte ich noch schnell hervor. Ich war mir zwar sicher, dass Umria mir geholfen hatte, weil sie irgendetwas im Schilde führte und eine Gegenleistung verlangte, aber derweil war mir das egal. Ohne ihre Hilfe würde ich immer noch bei den Schützen sitzen und – was eigentlich? Einen Deal mit ihnen eingehen, so wie ich es vielleicht bald wieder mit Umria tat? Ich schob den Gedanken beiseite, bevor ich mich darin verlor, was falsch und was richtig war.
„Es war mir ein Vergnügen." Sie drehte sich noch einmal grinsend um. „Gute Nacht, Kleine."
Caelum atmete laut hörbar aus als müsste er wortwörtlich Dampf ablassen. „Komm mit."
„Tut mir leid, dass das alles so-", setzte ich an, doch da unterbrach er mich auch schon.
„Mach dir keine Mühe. Ich will nicht darüber reden. Behalte es einfach für dich und sprich mit niemandem darüber."
Also gut. Dann eben nicht. Ich nickte. Trotzdem tat er mir immer noch leid. Wenn ich mir vorstellte, dass ich meinem Vater verheimlichte, dass er gar nicht mein Vater war... Allein der Gedanke erzeugte einen Graben zwischen Dad und mir. Ich glaubte nicht, dass ich das so leicht ignorieren könnte. Und dasselbe musste für die Beziehung zu Merula und Mico gelten. Die beiden waren Vollkommene. Caelum nicht.
Wie kam es, dass ausgerechnet er bei Umria angestellt war?
Ich folgte ihm hinaus in die riesige Halle mit all den Pflanzen, von der aus er mich zu einer Treppe führte. „Hier ist ein Gästezimmer, wo du bleiben kannst", erklärte er und deutete auf die linke Tür. Dann knurrte sein Magen so laut, dass sich seine Wangen rosa färbten.
„Gibt es hier auch eine Küche? Ich muss zugeben, ich bin ziemlich hungrig", gestand ich. Das Grummeln seines Bauches hatte mich daran erinnert, dass es fast 24 Stunden her sein musste, seit ich zuletzt etwas gegessen hatte. Auch wenn mir immer noch etwas flau zumute war, war ich mir fast sicher, dass mir eine warme Mahlzeit helfen würde.
Er nickte und brachte mich ins obere Stockwerk, durch einen schmalen Gang in einen kleinen Raum mit einer Art Kachelofen. Nachdem er mir gezeigt hatte, wo ich alle Kochutensilien und Vorräte fand, und mir erklärt hatte, dass der Ofen mit der Heizung vom unteren Stockwerk verbunden und somit fast immer warm war, begann ich Zwiebel, Knoblauch, Kartoffeln und Champignons in einer Pfanne schmoren zu lassen. Dann mischte ich aus Wasser und Maismehl eine Soße zusammen, weil ich nichts anderes fand, um das Gericht zu verbinden. Ich hatte kein fixes Rezept vor mir, sondern improvisierte, aber das war okay. Es tat gut, im Moment Lösungen zu finden, auch wenn es nur um etwas so Banales wie ums Kochen ging.
Ich konnte nicht ganz sagen, warum, aber ich freute mich innerlich, als Caelum sich auf die Bank rund um den Küchentisch fallen ließ. Er verschwand nicht, obwohl ich eigentlich damit gerechnet hatte, sondern leistete mir still Gesellschaft. Vielleicht war es auch nur sein leerer Magen, der ihn hier hielt, aber das war mir egal. Seine Anwesenheit tat gut. Es war besser als allein zu sein.
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- knownastheunknown -
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