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Als Caelum mich auf der anderen Seite der Glasfront erkannte, glaubte ich für eine Sekunde, seine Augäpfel würden aus den Höhlen fallen. Doch er fasste sich erstaunlich schnell wieder und das schüchterne Lächeln, das er davor gelächelt hatte, war bereits zurück, um seine Reaktion zu verstecken. Ich kam mir irgendwie albern vor, aber ich hatte nicht anders gekonnt, als über die Straße zu gehen und mich zu vergewissern, wer in dem Café saß. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr.
Ich blieb einfach stehen, weil ich nicht wusste, was ich jetzt machen sollte. Caelum hatte mich erkannt, aber ich befand mich an einem Punkt, den seine Begleitung nicht sehen konnte – umgekehrt sah ich aus diesem Winkel nur ihren Hinterkopf.
Für eine Weile beobachtete ich, wie sich seine Lippen bewegten, wie er sich ab und zu durch die Haare fuhr und kleine, aufmerksame Blicke in meine Richtung warf. Vielleicht hätte ich mir Sorgen machen sollen, doch die Vertrautheit, die die beiden ausstrahlten, beruhigte mich. Offensichtlich trafen sie einander nicht zum ersten Mal. Waren sie Freunde? Geschäftspartner? Was auch immer sie miteinander besprachen, sie waren entspannt. Sie zu betrachten war ein bisschen, als würde ich vor einem Kamin stehen, mich daran wärmen und den Flammen beim Tanzen zusehen.
Da war ich also, nun mit der Sicherheit, dass ich die zwei kannte. Was tat man in so einem Moment? Vielleicht hatte ich in Enem meine soziale Kompetenz verloren, irgendwie kam es mir so vor. Nicht dass ich davon davor allzu viel gehabt hatte, aber ich hatte mich bemüht, unauffällig zu bleiben.
Heute konnte ich nicht anders, als mich vor diesem riesigen Fenster zu platzieren, damit mich Caelum um jeden Preis bemerkte. Die vorbeifahrenden Autofahrer mussten mich für eine gruselige Stalkerin halten. Ich hätte noch ein blinkendes Schild mit mir herumtragen können – vielleicht hätte ich dann immerhin ausgesehen, als würde ich gerade Werbung für irgendetwas machen.
Das Mädchen stand auf und ich hielt die Luft an, als ob ich dadurch unsichtbar werden würde. Entgegen meinen Befürchtungen drehte es sich allerdings nicht um, sondern ging immer weiter vom Fenster weg, bis es hinter einer Toilettentür verschwand. Ich atmete erleichtert aus, aber nur für einen kurzen Moment. Denn nun warf mir Caelum einen Blick zu, der so grimmig war, dass ich mich fragte, ob ich nicht doch nach Hause gehen sollte. Doch er stand auf, nickte in Richtung Eingang und meine Beine gehorchten fast von selbst.
Ich war zu neugierig, um jetzt nachzugeben.
„Was machst du hier?", zischte Caelum und trat einen Schritt aus dem Café heraus. Er leckte sich über die Lippen, sah sich um, als befürchtete er, ich hätte Verstärkung mitgebracht und versuchte dann, auf mich herabzusehen, obwohl er nicht viel größer als ich war. So nervös kannte ich ihn nicht.
„Das gleiche könnte ich dich fragen", gab ich reflexartig zurück. In diesem Fall beruhigte es mich, dass er keine Energie ausstrahlte, die mich zu ihm hinzog, und ich meinen Impulsen zumindest etwas nachgeben konnte. Ich fühlte mich nicht eingeschüchtert, dafür wirkte er selbst zu unsicher.
„Ich habe zuerst gefragt."
„Ich spaziere gerade von der Schule nach Hause."
„Du wohnst in dieser Stadt?"
„Ja, aber lenk nicht ab. Jetzt bin ich dran." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn er dieses Spiel spielen wollte, dann müsste er sich auch an die Regeln halten. „Warum bist du hier und warum ist sie hier?"
Er zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine Falte auf seiner Nasenwurzel bildete. „Können wir sie nicht aus dem Spiel lassen und so tun, als hättest du mich nie hier gesehen? Ich habe mich auch nicht in deine Menschensache eingemischt."
„Das ist was anderes", widersprach ich und kurz überkam mich doch eine gewisse Unsicherheit. Aber welchen Sinn hatte es, irgendwelche Informationen vor Caelum geheim zu halten, wenn ich selbst wollte, dass er mir erklärte, was hier los war? „Ich kenne Greta. Sie sitzt in der Schule meistens neben mir."
Für ein paar Sekunden starrte mich Caelum nur entsetzt an.
„Ich glaube, sie kommt gerade von der Toilette zurück", warf ich ein und versuchte, durch die Eingangstür zu erkennen, ob sie uns schon entdeckt hatte. Sie war vor den WCs stehen geblieben, musste bemerkt haben, dass Caelum nicht mehr an seinem Platz saß, und sah sich suchend um.
Wer war dieses Mädchen und was hatte sie mit einem Vollkommenen zu tun? Bis jetzt hatte ich in ihr die gewöhnlichste Achtzehnjährige gesehen, die es an unserer Schule gab. Sie stach nicht heraus, im Gegenteil: Greta brachte den ganzen Tag kein Wort über die Lippen, weshalb sie gerne mal vergessen wurde.
Der Vollkommene vor mir wirkte so überfordert, dass er mir gleich viel jünger vorkam. Er seufzte. „In Ordnung. Kannst-Kannst du dich derweil irgendwo verstecken? Gib uns noch eine halbe Stunde."
Blitzartig tauchten noch mehr Fragen in meinem Kopf auf. Was hatte er vor? Wusste sie, was er war? Warum war ihm wichtig, dass Greta mich hier nicht sah? Wurde er gerade rot und wenn ja, weshalb?
„Okay", versprach ich. Wenn ich Antworten bekommen wollte, war es wohl das Beste, ihm zumindest diesen Gefallen zu tun. „Ich warte in der Buchhandlung dort vorne auf dich."
Er nickte, atmete noch einmal tief durch, wischte sich die Handflächen an seiner Hose ab und ging dann zurück zu Greta. Ich zwang mich, nicht zu beobachten, wie sie sich jetzt verhalten würden, sondern wirklich direkt in den Buchladen zu gehen, der wiederum auf der anderen Seite des Zebrastreifens lag.
Sobald ich vor dem ersten Regal stand, das die ganze Wand ausfüllte, musste ich an Merula denken. Ob sie wohl wusste, dass ihr Bruder hier war? Ich zog mein Handy aus meiner Jackentasche und wünschte mir, ihr zumindest eine SMS schreiben zu können, aber natürlich funktionierte das nicht. Stattdessen schickte ich eine Nachricht an Leya, dass ich etwas später nach Hause kommen würde, weil ich noch einer Freundin half. Ich hoffte, dass das nicht ganz gelogen war, immerhin war Greta in der Schule meine Verbündete.
Auch wenn ich sie anscheinend noch weniger kannte, als ich immer angenommen hatte.
Ich überlegte kurz, ob sie vielleicht gar keine Angststörung hatte und nur so tat, als könne sie nicht sprechen, aber kaum hatte ich den Gedanken gefasst, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ihre Probleme nicht ernst zu nehmen und mir derartige Geschichten zusammenzureimen, solang ich keine Ahnung hatte, was los war, war wohl nicht das, was eine Freundin tun würde. Aber es lenkte mich ab. Lieber verwandelte ich Greta in meinem Kopf in eine Märchenfigur, die bei einem Zauberhandel ihre Stimme zum Tausch angeboten hatte, als an meinen Baustellen weiterzuarbeiten.
Ich wollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, was die Aarens jetzt wohl von mir hielten oder wie die Stimmung sein würde, wenn ich nach Hause kam.
Vielleicht sollte ich meinen Vater anrufen und ihn anflehen, zurückzukommen. Oder ihn bitten, mich zumindest alleine in unserer alten Wohnung wohnen zu lassen. Theoretisch könnte ich das auch einfach tun – er war nicht hier, um mich davon abzuhalten. Aber ich wusste nicht, ob ich Leya und Jay noch mehr vor den Kopf stoßen wollte als ich es durch mein Verschwinden schon getan hatte.
Jetzt dachte ich doch über Dinge nach, über die ich eigentlich nicht nachdenken wollte. Zum Beispiel darüber, warum mein Vater mich jemals bei dieser Familie zurückgelassen hatte.
„Brauchst du Hilfe?"
Ich zuckte zusammen und merkte erst jetzt, dass ich bestimmt fünf Minuten reglos auf das Regal vor mir gestarrt hatte. In meinem Kopf befand sich eine eigene Bibliothek und ich hatte in Gedanken drei Bücher zugleich geöffnet, sodass ich kaum noch sehen konnte, was sich dahinter befand. Neben den Sorgen um Connor und der Fragezeichen, die meinen Handel mit Umria betrafen, kam hinzu, dass ich das Vertrauen der Aarens verletzt hatte, dass ich meinen Vater vermisste, immer noch nicht wusste, wo er war und wann ich ihn wiederhaben würde, dass ich mir eine Freundin wie Merula wünschte, wir aber unterschiedliche moralische Meinungen hatten und dass Caelum irgendeine Verbindung zu Greta haben musste, die ich noch nicht verstand.
Mit so viel Gepäck wunderte ich mich, dass ich es schaffte, meinen Körper umzudrehen und den Verkäufer anzusehen. Er blickte mich durch seine Brille hindurch an und lächelte freundlich. Eigentlich hätte ich seine Frage bejahen sollen. Hilfe klang gut. Aber es war wohl leider utopisch, dass er Ordnung in mein Chaos bringen konnte.
„Danke. Ich wollte mich nur mal umsehen", meinte ich also zuerst, doch dann kam mir ein anderer Gedanke. „Wo ist denn die Abteilung für Fantasyromane?"
„Gleich dort drüben, ob du es glaubst oder nicht, unter dem Schild mit der Aufschrift Fantasy", grinste er frech und legte eine Hand auf meinen Rücken, um mich in die richtige Richtung zu weisen.
„Oh. Danke." Ich wusste nicht, was ich von seiner Art halten sollte. Er war mir mit einem Mal so nahe, dass ich die Spannung in der Luft wie eine elektrische Aufladung fühlen konnte, die immer intensiver wurde. Mein Kiefer begann wehzutun und erst jetzt merkte ich, dass ich die Zähne so fest zusammenbiss, dass meine Wangenknochen hervortraten. Das Herz in meiner Brust klopfte aufgeregt, als würde es zum Aufwärmen ein paar Runden laufen. Seine Hand brannte sich durch meinen Mantel hindurch und ich spürte sie so deutlich als wäre ich nackt.
„Lass dir ruhig Zeit. Ich muss mal eben zur Kassa", sagte er, als wären wir alte Freunde, und huschte davon. Wahrscheinlich war es nur ein kurzer Moment gewesen, doch er hatte lang genug gedauert, um mich aus dem Konzept zu bringen. Mit der Distanz zu dem Typen löste sich die Elektrizität zwischen uns auf, aber mein Herz pulsierte immer noch in besorgniserregendem Tempo.
Ich schluckte, atmete leicht zittrig aus und versuchte nicht mehr an diese Berührung zu denken.
Nicht denken, machen.
So kopflos wie nur möglich ging ich auf die Fantasyecke zu, fand ein Buch, das ich auch bei Merula gesehen hatte, zog es heraus, setzte mich damit auf einen der Lesesessel neben dem Fenster und schlug die erste Seite auf. Ich war es nicht gewohnt, Romane zu lesen und während der ersten paar Seiten drängten sich meine eigenen Angelegenheiten zwischen die Zeilen, aber spätestens ab der Mitte des zweiten Kapitels versank ich in einer Welt, die im Vergleich zu meiner erfrischend bunt wirkte. Die Protagonistin entdeckte, dass sie übernatürliche Kräfte besaß, und landete in einer Schule für magische Wesen. Was hätte ich dafür gegeben, so systematisch lernen zu können, worauf es in meinem Universum ankam. Wo waren meine Spielregeln?
Irgendwann sah ich aus dem Augenwinkel, dass sich jemand auf dem Sessel links von mir niederließ. Ich schielte über den Rand meines Buches hinweg und stellte fast überrascht fest, dass es Caelum war. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hätte ich ihm auch zugetraut, einfach ohne ein weiteres Wort zu verschwinden.
„Ist es gut?", fragte er und klang nun beinahe schüchtern.
Zuerst war ich mir nicht einmal sicher, ob sich die Frage an mich richtete, erst als er den Blick senkte, begriff ich, dass er den Roman meinen musste. „Ja."
„Vielleicht kann ich Merula eines mitbringen."
„Das hier hat sie aber schon."
„Ah."
Die Situation war so merkwürdig, dass mir selbst die Worte ausgingen. Vorhin hatte ich ihm Löcher in den Bauch fragen wollen, ihm alles aus der Nase ziehen, was ich in die Finger kriegen würde – okay, vielleicht doch nicht alles, das klang ekelhaft. Vorhin hatte die Neugier in mir gelodert wie ein Lagerfeuer, doch inzwischen hatte es geregnet und ich hatte mich ein bisschen abgekühlt. Und ich war müde. Dennoch fand ich, dass er mir zumindest ein paar Antworten schuldig war.
„Also? Greta?", forderte ich ihn also auf, klappte das Buch langsam zu und legte es in meinen Schoß.
Caelum sah mir nicht in die Augen, sondern fixierte den Boden, als er sich am Hinterkopf kratzte. Dann fummelte er mit der einen Hand an den Fingernägeln der anderen herum. „Ich habe mich in sie verliebt."
„Was?" Und schon war der nächste Blitz eingeschlagen, der den Holzhaufen in mir erneut entfachte. Gleichzeitig tauchte Connors Gesicht in meinem Kopf auf, doch ich schob alle Gedanken an ihn beiseite, bis nur noch ein lauwarmes Gefühl in meinem Bauch übrigblieb. „Wie kann das sein? Also ich meine, ähm, wie-"
„Ich weiß, dass es wenig Zukunft hat", sprach er mit gesenkter Stimme, fast als hätte er meine Frage nicht gehört, die zugegebener Maßen nicht gerade präzise war. „Und ich erzähle dir das auch nur, weil ich befürchte, dass du Merula sonst damit auf die Nerven gehst und sie mich ausspioniert, bis sie Greta irgendwann selbst über den Weg läuft."
Ich nickte langsam. So ganz verstand ich die Beziehung der Geschwister immer noch nicht, aber ich hatte nichts davon, ihm Probleme zu bereiten. Insgesamt war ich positiv überrascht. Es war gut, dass er Greta mochte. Jedenfalls besser, als er würde irgendeinen Bluthandel mit ihr abschließen, der ihr schaden konnte.
„Wie viel hast du ihr denn über dich erzählt?" Diesmal bemühte ich mich auch, leiser zu reden und ich hielt kurz nach dem aufdringlichen Verkäufer Ausschau. Es war vermutlich am besten, wenn er unser Gespräch über Übernatürliches nicht belauschte.
„So viel, wie sie wissen muss."
„Kannst du einmal auf meine Fragen antworten?" Ich seufzte leicht genervt, auch wenn ich nicht sauer war. Diese eine Information sorgte dafür, dass ich mich auf eine seltsame, melancholische Weise mit Caelum verbunden fühlte. Aber meine Neugier zu stillen, würde wohl noch mühsam werden.
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- knownastheunknown -
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