28
Einmal als ich mit Greta nach dem Unterricht aus der Schule trat, war ich fest davon überzeugt, dass sie sich gleich mit ein paar Worten von mir verabschieden würde. Oft vergaß ich, dass sie eine Angststörung hatte, die es ihr schwer machte, in der Öffentlichkeit zu sprechen. An den Tagen zuvor hatte ein letzter Wintereinbruch die Stadt überrascht. Es war Ende März, der Straßenverkehr war durch den Schnee noch chaotischer geworden als sonst, und alle, die sich schon über den Frühling gefreut hatten, blickten mürrisch aus dem Fenster. Als ich an diesem Tag die Schule verließ, brauchten ihre Eltern etwas länger, um sie auf dem Rückweg von der Arbeit aufzugabeln, aber wirkte Greta so zufrieden, dass ich sie in eine Unterhaltung verwickeln wollte, um etwas von ihrer guten Laune abzubekommen. Sie schien sich zu freuen, dass das Eis allmählich schmolz, zu Pfützen wurde und dass man die Vögel heute wieder zwitschern hörte.
Obwohl sie so glücklich schien, sagte sie kein Wort.
Ich wusste nicht, ob ich hier in Larians Küche glücklich war. In diesem Moment war ich nicht in der Lage, darüber zu reflektieren, aber ich fragte mich, ob Greta manchmal dieselbe Art von Angst empfand wie ich jetzt gerade. Es war lähmend und gleichzeitig antreibend. Ich konnte mich nicht rühren, mein Körper war ein Käfig, doch das Herz in meiner Brust hämmerte in erstaunlichem Tempo.
„Warum so nervös?", fragte Umria und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Dann wandte sie sich dem bärtigen Koch neben mir zu. „Entschuldige, dass ich ungefragt hierherkomme, Larian. Ich habe noch ein paar Geschäfte mit Nia zu erledigen."
„Es gibt nichts zu entschuldigen. Du bist immer willkommen." Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Küchentresen. „Ich habe dich lange nicht gesehen, aber so wie es aussieht, geht es dir gut."
„Ebenfalls. Wir können gerne später miteinander plaudern, aber zuerst will ich meinen Handel abschließen." Nun sah mich die weißhaarige Frau wieder direkt an. „Du hast meine Werkstatt früher verlassen, als ich dachte. Aber zum Glück sticht deine Energie heraus wie ein kleiner Edelstein."
Falls das ein Kompliment war, konnte ich es nicht so recht annehmen. Ob sich so ein Reh fühlte, wenn es einem Wolf entgegenblickte?
„Kannst du mit mir sprechen und das Messer weglegen, damit ich mich weniger bedrohlich fühle?"
„Ähm, ja", piepste ich und lockerte meine Finger, die sich um den Griff herum verkrampft hatten. Ich ließ das Messer neben dem Schneidbrett und den Haselnüssen liegen, die ich bis gerade eben zerkleinert hatte.
„Wollt ihr in mein Zimmer gehen? Dann kann ich hier weitermachen." Ehe ich mich versah, nahm Larian meinen Platz ein und schnippelte mit flinken, aber geschmeidigen Bewegungen die Nüsse.
„Das ist eine gute Idee. Danke", meinte Umria.
„Danke für deine Hilfe, Nia." Der Koch lächelte mich an.
Ich wollte mich bei ihm bedanken und sagen, dass ich gerne wieder mit ihm kochen würde, doch Umrias Blick verhinderte, dass ich irgendein Wort herausbrachte. Wenigstens ein Nicken gelang mir. Als die Vollkommene sich in Bewegung setzte, sah sie wieder einmal mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir, was ich als Aufforderung deutete, ihr zu folgen. Ich holte tief Luft und rief mir den Satz in Erinnerung, der irgendwann zu meinem Mantra geworden war. Einfach machen, nicht zu viel nachdenken.
Umria betrat vor mir den Raum, in dem sich ein schlichter Tisch und vier Stühle auf der einen und ein kleines Sofa und ein Kamin auf der anderen Seite befanden. „Ich werde dir helfen, dieses Gegengift herzustellen."
Sie zog einen der Sessel hervor, ließ die rechte Hand auf der Lehne ruhen und griff mit der linken in ihre Manteltasche. Ich erschrak, als sich das Holz mit einem Knacken zu verformen begannen. Die Rückenlehne wurde runder, die Beine knickten um, sodass sie kürzer wurden und nun paarweise zusammenliefen. Nach wenigen Sekunden war die Verwandlung vorbei und Umria ließ sich seufzend auf dem frisch gemachten Schaukelstuhl nieder und überkreuzte die Beine.
„Setz dich doch. Dann erkläre ich dir, was du wissen musst."
Ich gehorchte und rückte mir einen der Stühle zurecht. Meine Handflächen schwitzten und mein Oberteil roch bestimmt unter den Armen nicht mehr allzu frisch. Für irgendwelche Geschäftsangelegenheiten hätte ich normalerweise gerne professioneller gewirkt, damit man mich ernst nahm. Aber das hier war wohl nicht normalerweise. „Warum willst du mir auf einmal helfen?"
„Dazu komme ich noch. Zuerst ist für dich wichtig, dass du schnell zu deinem Connor zurückkannst." Dass sie meinen Connor sagte, löste ein Kribbeln in meinem Oberkörper aus, aber ich schob es beiseite, ohne es einzuordnen. „Ich werde mit Scuro sprechen und ihn bitten, in dieser Angelegenheit mit mir zusammenzuarbeiten. Er schuldet mir ohnehin einen Gefallen. Wenn du es wünscht – wovon ich ausgehe – werde ich nicht erwähnen, dass dieser Auftrag von dir stammt."
Das klang an sich gut. Umria wippte auf ihrem Stuhl hin und her und wartete auf meine Reaktion, doch ich wollte zuerst hören, was sie noch zu sagen hatte. „Und dann?"
„Dann werde ich mit ihm gemeinsam einen Zauber entwickeln, der deinen Freund heilt. Vermutlich wird es mit einer Flüssigkeit funktionieren, die er einnehmen muss. Ich selbst forsche weniger in die Richtung, aber habe schon Ideen, welche Komponenten wichtig sein könnten. Und Scuro wird ohnehin den Ton angeben, wie ich ihn kenne." Sie musterte ihre langen Fingernägel gründlich und begann, etwas Dreck darunter herauszupulen. „Es wird allerdings ein paar Tage dauern. Vielleicht auch eine Woche."
Konnte ich so lange warten? Ohne Kontakt zu Cristal zu haben, war das schwer zu sagen.
„Kann ich mit einer Freundin sprechen, ohne Enem zu verlassen?"
„Wenn sie selbst keine Vollkommene ist, wird das eher schwierig. Du kannst aber jederzeit durch die Portallichter reisen. Ich werde dich nicht aufhalten. Es liegt an dir, ob du derweil in Enem bleibst oder zu deinen Menschen zurückkehrst."
„Okay." Ich seufzte leise. Darüber würde ich mir später noch Gedanken machen. „Und was willst du von mir?"
„Dein Blut."
Sofort schossen mir Bilder von Vampiren durch den Kopf. Was für eine Ironie, dass Merula Twilight gelesen hatte. Konnte es sein, dass...
„Ich brauche für einen bestimmten Zauber, den ich entwickeln möchte, das Blut einer Instinktjägerin. Und du eignest dich besonders gut dafür, weil dein Instinkt erst vor ein paar Jahren erwacht ist. Er wird vermutlich mit jedem Lebensjahr schwächer werden."
„Oh." Gut. Wahrscheinlich hatte sie nicht vor, es zu trinken. „Wie-wie viel Blut denn?"
„Weniger als einen halben Liter. In etwa wie bei einer Blutspende, wie sie sich unter Menschen etabliert hat", erklärte sie.
Ich hatte noch nie Blut gespendet – die Ärzte konnten mit dem, was durch meine Venen floss, vermutlich wenig anfangen. Die Vorstellung war zwar etwas gruselig, so etwas lebensnotwendiges herzugeben, aber so schlimm konnte es nicht sein.
„Ich bin einverstanden", platzte ich heraus, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
„Nimm dir ruhig etwas Zeit, um alles zu bedenken. Ich brauche nicht sofort eine Antwort."
Aber ich brauchte das Gegengift – so schnell wie möglich. „Ich hab mich entschieden. Wenn du mir diesen Zaubertrank, oder was auch immer das wird, brauen kannst, bekommst du mein Blut." Als ich es aussprach, legte sich ein kalter Schleier über meine Haut. Hoffentlich würde ich meine Worte nicht bereuen.
Umria zögerte einen Moment, ehe sie sich zu mir nach vorne beugte. „So entschlossen gefällst du mir schon besser. Ich verspreche dir, dass es mir gelingen wird."
Auf einmal fühlte ich mich ihr gar nicht mehr so unterlegen. Durch diesen Handel musste sie sich bemühen, um es mir recht zu machen. Ich räusperte mich verlegen und versuchte, sie selbstsicher anzusehen. „Gut."
Die weißhaarige Vollkommene verkörperte ziemlich gut, wie ich mir eine Hexe vorgestellt hatte. Sie wirkte zeitlos. Nicht in dem Sinn, dass sie ihr Alter verzaubert hatte und nun jünger aussah, sondern so, dass man sie nicht richtig einordnen konnte. Umria schien aus der Zeit gefallen zu sein. Sie hatte offensichtlich viel Lebenserfahrung, darauf wiesen nicht nur die kleinen Falten in ihrem Gesicht, sondern auch ihr Talent für Zauber hin. Aber ihr Handeln war von einem jugendlichen Selbstvertrauen geprägt, auf das ich ein wenig neidisch war. Als wäre sie jederzeit bereit die Welt zu erobern.
„Dann werde ich mich meiner Arbeit widmen, sehen, wie Caelum vorankommt und noch heute mit Scuro sprechen. Wenn ich neue Informationen habe, werde ich es dich wissen lassen." Sie blieb gemütlich sitzen und holte aus ihrer Manteltasche eine kleine Glaskugel hervor. Ein Schüsselportal. Es begann bereits zu leuchten und ich blinzelte, um nicht zu stark geblendet zu werden. „Bis bald, Kleine."
„Ähm, danke. Und ja, bis bald." Vor wenigen Stunden dachte ich noch, dass ich mich nie im Leben bei Umria bedanken würde. Jetzt war ich eine ihrer Kundinnen geworden.
Ich kniff die Augen zu, als das Licht greller wurde und ehe ich mich versah, löste sie sich in Luft auf. Zurück blieb nur ein leerer Schaukelstuhl, der langsam vor und zurück wippte.
Ungläubig starrte ich auf den Stuhl. Das alles war zu einfach, um wahr zu sein. Innerhalb eines Tages war ich einer Frau begegnet, die so mächtig war, dass sie mir wahrscheinlich mit dem kleinen Finger das Leben nehmen konnte. Gerade eben war ich ihr gegenüber gesessen und hatte dabei zugesehen, wie sie gemütlich mit ihrem Sitz schaukelte. Sie hatte angeboten, eine Lösung für meine Probleme zu finden. Ich musste an Caelums Worte denken, dass Vollkommene nicht automatisch böse waren, nur weil es in ihrer Natur lag, Menschen zu jagen.
Es lag ja auch in meiner Natur – und ich versuchte, richtig zu handeln.
Ich war mir nicht sicher, ob ich so unbeschwert wie gestern mit Merula sprechen könnte, sobald sie zurückkam. Ein Teil von mir wollte sich in den Boden hineingraben wie ein Regenwurm, um ihr nicht begegnen zu müssen. Theoretisch könnte ich noch heute zu den Aarens zurückkehren – ich war mir sicher, dass Umria mich finden würde, ganz egal, wo ich mich aufhielt. Doch obwohl ich erst zwei Tage hier war, kam mir dieses Haus, indem ich im letzten Monat gewohnt hatte, unerreichbar weit weg vor.
Ein paar Minuten blieb ich noch sitzen und fixierte mit meinem Blick die Leerstelle, die Umria hinterlassen hatte. Dann ging ich hinaus zu Larian, der mir ein paar Reistaler zur Seite gelegt hatte, und half ihm, den Zucchinikuchen fertig zu backen und anschließend die Vorräte in seinem Lager zu sortieren. Wir sprachen wenig miteinander. Larian fragte nicht nach, warum ich nach Enem gekommen war, und wollte auch nicht wissen, was ich davor da draußen so gemacht hatte. Vermutlich hätte mich das stutzig machen sollen, aber ich war einfach nur froh, dass er mir eine Beschäftigung gab.
Als es draußen allmählich dunkel wurde, schickte mich der Koch nach draußen in den Gästebereich, um eine Pause zu machen und stellte eine Schüssel mit der Tagessuppe vor mir ab, die er gerade eben wieder gewärmt hatte. Allmählich merkte ich, dass meine Fußsohlen schmerzten, also protestierte ich nicht. Es war nicht allzu viel los, doch ein paar Vollkommene waren hier, um zu Abend zu essen.
„Hallo", murrte wenig später jemand hinter mir. Überrascht blickte ich über die Schulter und sah Caelum mit einem Teller hinter mir stehen. Er hatte wohl inzwischen Feierabend.
„Hey", erwiderte ich und wurde irgendwie nervös.
Er setzte sich neben mich und begann still zu essen. Mir fiel nichts ein, was ich sagen könnte, also konzentrierte ich mich auf meine Suppe. Ich hasste es, wenn sich kein Wort, das einem durch den Kopf schwirrte, natürlich genug anfühlte, um es auszusprechen. Es war einfach, mit Connor, Christopher oder mit Merula zu reden – alle drei schienen das Bedürfnis zu haben, mit ihrem Umfeld zu kommunizieren. Auf fast kindliche Weise wollten sie Freundschaften knüpfen und suchten durch Gespräche nach günstigen Stellen, um ihre Bänder mit anderen Leuten zu einem Knoten zusammenzuziehen.
Aber Caelum war anders. Er zog sich zurück und hielt mir quasi eine Schere unter die Nase.
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Auch wenn ich manchmal gerne mehr Freundschaftsbänder knüpfen würde, wirke ich wahrscheinlich von außen wie ein Mitglied von Team Schere xD warum gibt es Menschen, denen soziale Interaktionen so leicht fallen und andere, für die sie eine richtige Herausforderung darstellen?
Ähm, ja, so viel dazu. Jetzt hab ich was zum Grübeln. Schönen Sonntag noch ^^
- knownastheunknown -
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