23
„Ich hab Kopfweh", jammerte Mico, als wir das Zuhause der Geschwister betraten. Es erinnerte mich an das Restaurant von Larian: Direkt beim Eingang stand man in einem offenen Wohnraum mit einer Küchennische im Hintergrund.
Merula zog die Augenbrauen zusammen, dann wandte sie sich mir zu. „Du kannst schon mal in mein Zimmer gehen und deinen Rucksack dort irgendwo hinlegen. Einfach durch die Tür dort vorne rechts. Ich kümmere mich um Mico."
„Kann ich irgendwie helfen?", fragte ich dennoch.
„Nein. Geh bitte schon mal vor", meinte sie bestimmend, sah mich aber nicht einmal mehr an.
Dadurch, dass ich den letzten Monat bei den Aarens gelebt hatte, sollte es mir leichter fallen, mich in einem fremden Haus umzusehen. Ganz angenehm war es mir trotzdem nicht, alleine in Merulas Zimmer herumzustöbern, doch ich wurde schnell von einem Bücherregal abgelenkt, das eine ganze Wand ausfüllte. Neben Fantasyromanen, die mir teilweise sogar bekannt vorkamen, konnte ich einige Buchrücken ohne Titel ausmachen. Es sah aus, als wären sie ohne jegliches System bunt zusammengewürfelt nebeneinander platziert worden. Jemand wie Leya hätte bestimmt die Krise bekommen, wenn sie das gesehen hätte.
„So, Mico liegt jetzt in seinem Bett." Ich zuckte zusammen, als ich merkte, dass Merula hinter mir stand.
„Ist alles okay?"
„Ja, das wird schon. Er soll sich einfach ein bisschen ausruhen." Merula ließ sich auf einem Sitzpolster nieder, der direkt neben einem niedrigen Tischchen am Boden lag. Sie atmete tief durch, klatschte einen Moment später auf ihre Oberschenkel und sah mich daraufhin aufgeweckt an. „Bis meine Eltern nach Hause kommen, kann ich dir ein paar Zauber zeigen, wenn du willst."
„Okay", antwortete ich, obwohl ich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch hatte.
Ich war nur einmal in meinem Leben mit einer Achterbahn gefahren, doch ich erinnerte mich noch genau an den Aufstieg. Es dauerte ewig. In meinem Körper brauten sich Wolken zusammen und ich freute mich so sehr auf das Donnergrollen, dass mir gar nicht auffiel, dass wir immer höher und höher stiegen. Erst am Gipfel der Bahn begriff ich, dass wir gleich mit voller Wucht auf den Boden zurasen würden. Ich klammerte mich an die Metallstreben meines Sitzes, schloss die Augen und spürte das Herzklopfen in meiner Brust deutlicher als alles andere. Aber es gab kein Zurück mehr. Während der nächsten Minute versuchte ich, die Schreie um mich herum auszublenden und zu ignorieren, dass meine Organe bei jeder Kurve und Krümmung gegen einander drückten.
Als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spürte, kotzte ich in eine Mülltonne und begann zu weinen.
Was auch immer Merula jetzt vorhatte, je länger ich nachdachte, desto weniger vertraute ich Enem. Vollkommene waren vielleicht nicht so gefährlich, wie ich befürchtet hatte, aber was auch immer mich hier noch erwartete, machte mir Angst.
Als könnte sie lesen, was mich beschäftigte, presste sie tröstend die Lippen aufeinander. „Es passiert nichts Schlimmes. Setz dich einfach mal hin. Dann zeige ich dir, wie der Zauber funktioniert, den ich gerade übe."
Ich gehorchte, obwohl eine Stimme in meinem Kopf immer noch Bedenken äußerte. Merula zog eine Schublade an dem Tischchen auf und nahm eine Metallschale, ein Flakon mit einer durchsichtigen Flüssigkeit und einen handtellergroßen Stoffbeutel heraus. Die Flüssigkeit leerte sie in die Schale, den Beutel hielt sie mit der linken Faust umschlossen und die rechte Hand schwebte nun über dem Tisch. Sie schloss die Augen und mein Blick fiel wieder einmal auf ihren Lidstrich. Dann schwiegen wir und warteten.
Als nach einer Minute nichts geschah, spürte ich wieder sehr bewusst die Erschöpfung in meinen Beinen, also ließ ich lediglich meine Gedanken umherwandern. Ob Merula Die Jagd kannte? Ich konnte nicht erkennen, ob sie das Buch mit diesen Mythen besaß, ohne alle namenlosen Bände aus ihrem Regal zu nehmen. Da musste ich an Jay denken.
Heute gingen Leya und er noch davon aus, dass ich mit Cristal und Christopher unterwegs war. War ich wirklich erst heute Morgen mit der zickigen Blondine in den Zug gestiegen? Mir war mein Zeitgefühl abhandengekommen, aber wenn ich bewusst darüber nachdachte, wusste ich, dass morgen Montag war. Als wir aufgebrochen waren, glaubte ich noch daran, aber jetzt ging ich nicht mehr davon aus, dass ich bis dahin zurück sein würde. Jay und Leya würden Fragen stellen, doch Cristals Antworten kannte ich nicht. In der Schule würde mein Platz leer bleiben. Falls ich zu lange weg war, würden sie versuchen, meinen Vater anzurufen - aber wer wusste schon, wo er sich bis dahin rumtrieb?
Das Gefühl, ihn zu vermissen, schlug mir fest in die Magengrube. Wenn er wüsste, dass ich ganz allein in Enem war, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren. Er hielt es schon für zu gefährlich, mich alleine in unserer Wohnung zu lassen, bis er zurückkam.
Wusste mein Vater über Enem Bescheid?
Plötzlich glaubte ich, nach vorne gezogen zu werden und sofort waren alle Gedanken weggewischt wie Staub, den man vergaß, nachdem man geputzt hatte. Ich saß im Schneidersitz, gegenüber von Merula, die sich in den vergangenen zwei Minuten nicht von der Stelle bewegt hatte, und beugte mich ihr automatisch ein Stückchen entgegen. Die Luft schien elektrisch aufgeladen, wie bei einem Gewitter. Merula kniff die Augen etwas angestrengter zusammen und dann konnte ich es sehen.
Die Oberfläche der Flüssigkeit in der Schale begann zu kristallisieren. Zuerst nur langsam, so vorsichtig, als wäre sie noch unschlüssig, ob das hier wirklich eine gute Idee war, doch dann bildete sich wie in Zeitraffer eine Eisplatte. Ich starrte von dem Eis, das eben noch flüssig gewesen war, zu dem Mädchen und wieder zurück.
Wozu waren Vollkommene noch in der Lage?
Merula atmete laut aus und ließ die Hand sinken. „Mehr schaffe ich derweil nicht." Dann öffnete sie die Augen und blinzelte mich an. „Du musst mich jetzt aber nicht so ansehen, als wäre mir ein dritter Arm gewachsen."
„Entschuldige", murmelte ich verlegen, was sie wiederum zum Schmunzeln brachte. „Aber wie hast du das gemacht?"
„In dem Bündel sind getrocknete Weidenblüten, Güldenkraut und Birnmoos. Damit kann ich das Wasser so manipulieren, dass es seine Form verändert. Ich füge ihm die fremde Energie aus dem Bündel zu."
„Und das bleibt jetzt so?"
„Solange, bis jemand kommt, der den Zauber löst oder einen anderen stattdessen einsetzt, der mit meinem bricht. An sich ist es immer einfacher, die Energie wieder freizusetzen, die man in Objekte geschleust hat." Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Eisplatte, die bei der Berührung sofort wieder flüssig wurde und dabei fast über den Rand der Metallschale schwappte. Gänsehaut breitete sich auf meinen Unterarmen aus.
„Du bist also sowas wie ein Medium für Energie?"
„Ja. So könnte man es nennen."
Ich nickte bloß und sah Merula dabei zu, wie sie den Stoffbeutel wieder in der Lade verstaute, aufstand und mit dem Wasser aus der Schale eine Pflanze am Fensterbrett goss. Obwohl ich vorhin noch glaubte, tausende Fragen zu Magie zu haben, war mein Kopf nun wie leergefegt und ich fühlte mich einfach nur müde. Ich wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Es war anstrengend sich an all das zu gewöhnen, ich brauchte eine Pause.
„Kann ich dich was anderes fragen?"
Sie nickte, lehnte sich gegen das Fensterbrett und sah mit leicht schiefgelegtem Kopf zu mir herab .
„Kennst du eine Geschichte, die Das Vollkommene heißt?", wollte ich wissen. Vielleicht konnte ich so herausfinden, wie viel aus den Legenden der Wirklichkeit entsprach und mich gleichzeitig auf andere Gedanken bringen.
„Ja. Ich glaube, meine Mutter hat ein Buch, in dem sie vorkommt. Was ist denn damit?"
„Ich habe dadurch erst von Vollkommenen erfahren. Eigentlich dachte ich am Anfang, das wäre auch nur eine alte Sage. Aber jetzt frage ich mich, wie viel davon tatsächlich stimmt."
„So genau hab ich die Geschichte gerade nicht im Kopf, aber wahrscheinlich ist nicht alles davon real. Oft werden solche Bücher von Menschen geschrieben, die glauben, mehr zu wissen, als sie eigentlich tun. Trotzdem stehen wir jetzt beide hier. Das ist das Einzige, was ich dir momentan sagen kann." Das Thema schien sie nicht so sehr zu beschäftigen wie mich. Sie zuckte lediglich mit den Schultern. „Wenn ich nur erfunden wäre, sollte es dich selber denn dann überhaupt geben? Wir tragen denselben Instinkt in uns, falls du das vergessen hast. Du bist im Grunde mit uns verwandt."
„Trotzdem habe ich noch nie mit einem Vollkommenem gesprochen. In Enem bin ich heute auch zum ersten Mal", begann ich. „Das kam mir alles so... weit weg vor. Und ziemlich unmöglich, um ehrlich zu sein."
Ich war inmitten von Menschen aufgewachsen. Fast bei jedem Atemzug hatte ich versucht, mich anzupassen und meine übernatürliche Seite zu verstecken - vielleicht hätte ich irgendwann selbst nicht mehr daran geglaubt, dass es sie überhaupt gab. Ich wollte ein Mensch sein und nicht länger gegen den Instinkt ankämpfen müssen. Noch nie hatte ich mir irgendetwas mehr gewünscht als das.
„Obwohl du daran gezweifelt hast, dass wir mehr als eine Geschichte sind, hast du ganz alleine unser Portal gefunden und bist einfach so hierhergekommen?"
„Ja. Ich musste es versuchen."
Für Connor.
„Ich würde jetzt zu gerne in deinen Kopf sehen können. Da ist irgendwas, das deine Energie zum Zittern bringt." Merula suchte auf einmal meinen Augenkontakt, sah mich interessiert an und ich fühlte mich ertappt. „Oh, weißt du was? Ich könnte auch noch versuchen, einen Runenzauber an dir durchzuführen!"
Ich erstarrte wie das Wasser bei ihrem letzten Zauber und konnte nicht antworten.
„Es wäre sicher spannend zu sehen, ob sie auf dich dieselbe Wirkung haben wie auf Vollkommene oder auf Menschen. Im Gegensatz zu Elementarzaubern fügen wir hier nämlich keine Energie hinzu oder nehmen sie weg. Wir arbeiten nur mit der Energie, die sowieso in dir vorhanden ist. Und weil die sehr dynamisch sein kann, halten die meisten Runenzauber nicht lange an." Sie hielt inne und musterte mich kurz. „Aber ich sehe schon, dass du davon nicht gerade begeistert bist. Du bist ziemlich blass."
„Wenn es dir nichts ausmacht, verschieben wir das vielleicht lieber. Ich bin ziemlich müde", sagte ich, auch wenn ich nicht daran glaubte, dass ich jemals Lust hätte, mich verzaubern zu lassen. Kaum waren die Worte über meine Lippen gekommen, machte sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Ich war wirklich gut darin, in den Häusern anderer Personen zu wohnen und ihnen mehr Aufwand zu machen als Nutzen zu bringen.
„Macht nichts. Jetzt wäre es wahrscheinlich sowieso ungünstig", meinte sie und schien die Aufmerksamkeit bereits wieder auf etwas anderes gerichtet zu haben. „Meine Eltern sind zuhause. Komm mit."
Bevor ich etwas einwerfen oder fragen konnte, woher sie das auf einmal wusste, war Merula bei ihrer Zimmertür angelangt und ich musste mich schnell aufrappeln, um nicht alleine zurückzubleiben.
Das Achterbahngefühl meldete sich zurück, zeitgleich ging ein kaltes Schaudern durch mich hindurch. Ich hatte die seltsame Vorahnung, dass da draußen etwas lauerte, dem ich nicht gewachsen war. Aber ich folgte dem vollkommenen Mädchen nach draußen, bevor mein Kopf mich davon abhalten konnte.
Im selben Moment, als ich das Wohnzimmer betrat, kamen zwei Personen durch die Eingangstür. Einer davon blieb stehen und die Kälte in mir breitete sich weiter aus, als mich der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen traf. Ich schluckte schwer und bildete mir ein, dass mein Hals wie mit einem durchsichtigen Tuch zugeschnürt wurde. Mein Atem ging flach und ich bemühte mich, möglichst ruhig dabei zu bleiben, um nicht zu verkrampfen. Der Mann lächelte und nickte mir höflich zu.
„Hey, da seid ihr ja", begann Merula, aber ich hörte ihre Stimme nur dumpf. „Das ist Nia. Mico und ich haben sie heute getroffen. Ist es okay, wenn sie ein paar Nächte hier bleibt?"
„Hallo." Eine zweite Frauenstimme. Das musste Merulas Mutter sein. Ich wollte sie ansehen, aber ich konnte den Blick nicht von den Pupillen des Mannes lösen. Was sie dann sagte, verstand ich nicht.
„Natürlich", antwortete der Mann schließlich. Seine Stimme glich einem tiefen Bass, der die Luft zum Vibrieren brachte. Er sah mich immer noch an. „Meine Tochter kann es nicht lassen, neue Gesichter mitzubringen, musst du wissen. Aber so wird es immerhin nicht langweilig."
Langsam füllte sich meine Lunge mit Sauerstoff, langsam atmete ich ihn wieder aus und nickte. Ich konzentrierte mich und brachte endlich selbst ein paar Worte hervor. „Danke. Das ist wirklich sehr nett."
Er nickte ebenfalls. Dann wandte er sich endlich ab, ging an mir vorbei durch eine der verschlossenen Türen und der Druck um meine Kehle begann sich zu lösen. Mein Instinkt reagierte weder auf ihn noch auf die Frau, aber ähnlich wie bei Mico fühlte ich mich nun als hätte mir jemand Kraft ausgesaugt.
„Sehr gut." Merula legte mir die Hand auf die Schulter und senkte die Stimme. Ihre Mutter trug zwei große Reisetaschen in ein anderes Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. „Am besten wir lassen sie heute ein bisschen entspannen. Sie waren mit mehreren Portalen unterwegs, also sind sie sicher erschöpft. Aber morgen können wir sie nach deinem Zauber fragen, wenn du möchtest."
„Das klingt gut."
Ich bezweifelte, dass ich selber heute die Motivation aufbringen könnte, um mich dieser Aufgabe zu stellen. Jetzt gerade wollte ich mich nur noch in ein Bett legen und schlafen, auch wenn ich nicht wusste, ob ich ein Auge zubekommen würde.
Die Tür ganz links öffnete sich und ein aufgeregter Mico stürmte heraus. Fast wäre er in mich hineingelaufen, aber ich machte schnell einen Schritt zurück, sodass er sich noch rechtzeitig abbremsen konnte. Er trug einen blauen Schlafanzug, der ihn noch kleiner aussehen ließ. „Ist Caelum schon da?", rief er mit leuchtenden Augen.
„Ich denke, er wird jeden Moment da sein", seufzte Merula, weit weniger begeistert. „Geht es dir schon etwas besser?"
„Jaaaaaaa."
Mico lief mit ausgestreckten Armen durch den Raum und begann, Merula und mich zu umkreisen, sodass ich gar nicht mehr wusste, wo ich hinschauen sollte. Heute war mein erster Tag in Enem. Ich war durch ein Portal gereist, Vollkommenen begegnet und hatte gesehen, wie ein Elementarzauber funktionierte.
Meine Ressourcen kamen mir jetzt schon aufgebraucht vor, aber das war bestimmt noch nicht alles. Automatisch wanderten meine Augen zu der Tür, hinter der Merulas Vater verschwunden war. Er hatte gelächelt und mir erlaubt, hier bei seiner Tochter zu bleiben. Das war nett. Aber wenn ich an seinen Blick dachte, der sich in meine Zellen gebohrt hatte, lief mir ein Schauer über den Rücken und die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn um einen Heilzauber für Connor bitten sollte.
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Once again: Schönen Sonntag! :)
- knownastheunknown -
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