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Wer daran glaubte, dass übernatürliche Wesen existierten, sollte kein Problem damit haben, sich fremde Welten vorzustellen. Schon gar nicht, wenn dieser jemand selbst ein übernatürliches Wesen war. Trotzdem fiel es mir schwer, mir Enem als ein Land auszumalen, das nicht jeder einfach so betreten konnte. Sah es dort gleich aus wie bei uns? Gab es unsere Stadt mit all den Häusern, dem kleinen japanischen Park, Autos und dem Victoria Forest am Ortsrand? Oder war es ein fremdes Land, das ohne Autos, Einkaufszentren und vielleicht sogar ohne Strom auskam? Am ehesten stellte ich mir Enem vor wie eine im Wald verborgene Siedlung, vielleicht mit Zelten aus Tierhaut und großen Feuerstellen als Zentrum. Wie irgendein Ort, der aus der Zeit gefallen war. Enem war eine Fantasiewelt.
Dass es andere Arten von Instinktjägern gab, die sich selbst Vollkommene nannten, war hingegen viel wahrscheinlicher, auch wenn ich noch nie so jemandem begegnet war. Zumindest dachte ich das. Wer wusste schon, wem ich tatsächlich über den Weg lief, wenn ich täglich zur Bushaltestelle spazierte?
Instinktjäger sahen aus wie Menschen. Wir waren perfekt getarnt, um ihr Vertrauen zu gewinnen und ihnen dann einen Teil ihrer Seele zu rauben. Was diese Leere dann ausfüllte, stellte ich mir wie eine dickflüssige Masse vor. Ein schleimiges Gift, das sich nur langsam im Körper ausbreitete und seine Wirkung erst nach einiger Zeit entfaltete. So stellte ich es mir vor, aber wahrscheinlich war das ganze viel abstrakter und gar nicht mit bloßem Auge erkennbar.
Ich dachte noch lange über das Gespräch mit Jay nach und ärgerte mich, dass ich ihm nicht weiterhelfen konnte. Er wirkte manchmal so vertieft in seine Arbeit, dass ich mir Sorgen machte. In der kommenden Woche war er bis spät abends in der Klinik, was Leya zwar nicht kommentierte, aber ich spürte beim Abendessen, dass ihre Energie flackerte wie eine Lampe, die nicht richtig funktionierte.
Am Dienstag gab es Spaghetti mit Basilikumpesto, Pinienkernen, getrockneten Tomaten und Schafkäse. Leya versuchte angestrengt, ein Gespräch zum Laufen zu bringen, aber Cristal und ich waren zwei Fußfesseln, die nur wenig Bewegung zuließen.
„Schmeckt dir der Schafkäse? Der ist von Demi."
„Ja", antwortet Cristal.
„Demi ist eine gute Freundin von mir. Ihre Eltern haben am Land einen Betrieb mit vielen Schafen, wo sie den Käse selbst herstellen", erklärte Leya mir.
„Der ist wirklich gut." Ich wusste nicht, was ich sonst darauf erwidern sollte und stopfte mir mehr Nudeln in den Mund.
Wenn Jay hier war, war die Atmosphäre um einiges ausgeglichener. Er war wie eine Lampe, die Leya brauchte, um zu erkennen, wo sich die Ecken und Kanten in diesem Raum befanden. Ohne ihn musste sie sich mit ausgestreckten Armen herantasten und kam dementsprechend langsam vorwärts.
Ähnlich langsam fühlte sich mein Kopf am Mittwoch, als ich in der letzten Schulstunde einen Physiktest schrieb. Ich kam mir vor wie ein nasses Handtuch, das man gerade ausgewrungen hatte und war froh, als es endlich vorbei war. Greta strahlte im Gegensatz zu mir regelrecht, als sie ihre Federschachtel und die hellgrüne Trinkflasche in ihren Rucksack packte. Sie erwiderte meinen Blick und starrte mir für einen Moment so direkt in die Augen, als könnte sie in meinen Kopf sehen. Ich verzog die Lippen zu einem seltsamen, schmalen Lächeln und versuchte, mich natürlich zu verhalten. Ich war mir sicher, dass Greta meine Gedanken nicht lesen konnte, aber meine Handflächen begannen zu schwitzen. Seit Jay mir von den Vollkommenen erzählt hatte, fragte ich mich, ob ich erkennen würde, wenn einer von ihnen neben mir saß.
„Na dann", murmelte ich und stand endlich auf, um mich von Gretas Blick zu lösen.
Sie nickte und wir verließen die Klasse gemeinsam. Als sie ins Auto ihrer Mutter stieg, atmete ich aus und meine Erleichterung wurde in der in der eiskalten Luft zu weißem Nebel. Heute spielte der Februar wieder nach den Regeln des Winters. Eine dicke Wolkendecke färbte den Himmel grau und wenn die Prognosen stimmten, sollte es in den kommenden Tagen schneien. Im Gehen zog ich mir meinen Wollschal etwas mehr über mein Gesicht, sodass er meinen Mund verdeckte, und vergrub dann meine Hände in den Taschen meines Wintermantels.
Wenige Meter von der Bushaltestelle entfernt blieb ich stehen. Ich konnte ihn wieder spüren, bevor ich ihn sah, aber es dauerte nicht lange, bis ich Connor neben dem weißen Gartenzaun entdeckte. Was machte er hier am anderen Ende der Stadt? Von hier aus fuhr ich fast eine Stunde mit dem Bus, bis ich in dem Viertel der Aarens ankam, in dem sich auch Cristals und Connors Schule befand. Er beobachtete eines der umliegenden Häuser und ich fragte mich, wie er nicht erfrieren konnte, obwohl er nur Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit einem dünnen, schwarz-weiß karierten Hemd darüber trug.
Mein Herzschlag erhöhte seinen Takt und ich bemühte mich, nicht über meine Füße zu stolpern, als ich mich wieder in Bewegung setzte. Während die Meter zwischen uns immer weniger wurden, kroch seine Wärme in meinen Geist und flüsterte mir zu, näher zu kommen. Connor hatte mich noch immer nicht bemerkt, aber nun konnte ich sein Gesicht besser erkennen. Obwohl die Kälte die meisten Wangen rot färbte, kam mir seine Haut gräulich und fahl vor. Es war mir schon am Spaziergang letzten Samstag aufgefallen und auch heute stachen die dunklen Augenringe hervor, so intensiv, dass sie fast aufgemalt wirkten.
„Hey, Connor", begrüßte ich ihn lächelnd, als ich neben ihm zum Stehen kam.
Träge drehte er den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Obwohl ich seine Präsenz bereits von weitem gespürt hatte, traf mich Connors Energie jetzt mit einer so unerwarteten Wucht, dass sich mein Brustkorb unangenehm zusammenzog. Mein Herz fühlte sich an, als wäre es eine kleine Maus, die von einer kräftigen Hand umschlungen und fast zerquetscht wurde.
Irgendwas war anders als sonst. Ich ärgerte mich, dass ich nicht besser darin war, Energien zu lesen. Normalerweise kam seine mir vor wie ein ruhiges Lied, das angenehm im Hintergrund lief, aber heute hatte sie etwas Hektisches in sich.
„Xenia." Er schnappte meinen Unterarm und der Griff stach durch meinen Mantel in meine Haut.
„Was ist denn los?", fragte ich und konnte die Angst in meiner Stimme nicht unterdrücken. Ich atmete schneller, versuchte mich von seiner Nähe nicht überwältigen zu lassen und den Kopf frei zu behalten.
„Ich...", er brach ab. „Ich weiß es nicht. Ich fühl mich so... komisch."
„Wie denn?"
„Keine Ahnung."
Er sprach zu deutlich, um betrunken zu sein. Mit allen möglichen anderen Drogen kannte ich mich zu wenig aus, um zu beurteilen, ob er sonst irgendwas genommen haben konnte. Während ich überlegte, was ich jetzt mit ihm tun sollte, ließ Connor meinen Arm und meinen Blick los. Er starrte auf seine Füße und seufzte.
„Der Bus kommt gleich. Wir können gemeinsam fahren und ich begleite dich nach Hause, wenn du willst", erklärte ich und sah mich in Gedanken schon dabei, Connor durch die Straßen bis zu seiner Wohnung zu führen wie ein Schaf, das den Weg zurück zur Herde nicht fand.
„Nein." Er hielt den Kopf immer noch gesenkt, doch seine Stimme klang plötzlich unerwartet entschlossen.
„Ich kann dich doch nicht allein hierlassen, wenn es dir nicht gut geht. Wir passen aufeinander auf. Ich dachte, das ist unsere Abmachung." Es kam mir vor, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen, das nun in meinem Magen vor sich hin gärte. Immer mehr Druck baute sich dort auf und breitete sich aus, bis nach oben hin zu meiner Speiseröhre. „Oder lass mich zumindest Christopher anrufen. Er holt dich sicher ab."
„Das hab ich schon gemacht", erklärte Connor.
„Also ist er unterwegs hierher? Wir können uns derweil bei der Bushaltestelle unterstellen. Dort ist auch eine Bank, falls du sitzen willst."
„Lass das." Bei seinem schroffen Ton zuckte ich zusammen und hielt dann die Luft an, als er mich wieder direkt aus seinen grauen Augen ansah. Normalerweise musterte er mich so, als wäre er neugierig auf meine Gedanken, doch heute wollte er offenbar nichts von mir wissen. „Ich komm zurecht."
„Derweil wirkt es nicht so. Ich warte gerne noch mit dir." In meinem Magen brodelte es immer noch, aber ich versuchte, das Gefühl zu ignorieren. Ich war verunsichert und vor allem verwirrt. Warum stieß er mich so plötzlich von sich? So sehr ich auch nachdachte, in diesem Moment fiel mir nichts ein, womit ich ihn beleidigt haben könnte.
„Fahr nach Hause, Xenia."
Ich wollte weg von hier, raus aus dieser Situation, aber ich wollte nicht, dass Connor mich wegschickte. Wenn ich mir in den letzten Wochen Gedanken darüber gemacht hatte, was da zwischen uns war, dann war ich mir jetzt immerhin sicher: Eine Mauer. Ich musste mir keine Sorgen mehr darüber machen, ob ich ihm zu nahekam. Er hatte seine Grenzen gezogen.
Also zog ich meine.
„Na gut", gab ich nach und klang trotzig, ohne es zu wollen. „Vielleicht sehen wir uns ja, wenn es dir wieder besser geht."
Connor nickte. Wie aufs Stichwort hielt der Bus wenige Meter von uns entfernt an und ich lief schnell über die Straße, um einzusteigen. Als ich mich auf einen der Sitze in der Mitte des Busses fallen ließ und aus dem Fenster blickte, konnte ich nur noch Connors Rücken sehen. Er hatte sich wieder umgedreht und starrte in den Garten nebenan. Ich stand ihm zwar nicht mehr gegenüber, aber das Gefühl, zurückgestoßen zu werden, biss sich an mir fest.
Wegzurennen hatte nichts besser gemacht. Im Gegenteil. Einerseits fühlte ich mich gekränkt, weil Connor mich offensichtlich nicht hier haben wollte, aber jetzt kam hinzu, dass ich nicht sehen und schon gar nicht beeinflussen konnte, ob es ihm gut ging.
Was hatte ich gerade getan? Warum hatte ich mich einfach so abwimmeln lassen?
Wütend auf mich selbst nahm ich mein Handy in die Hand, bis mir einfiel, dass ich Christophers Nummer gar nicht hatte. Verdammt. Ich hätte ihn zur Sicherheit anrufen sollen. Stattdessen klickte ich nun Connors Namen an. Ich wusste noch nicht, was genau ich sagen würde, aber ich wollte, dass seine Stimme die Sorgen in mir zum Schweigen brachte. Den Gefallen tat er mir nicht. Nach dem keine Ahnung wievielten Tuten landete ich in der Sprachbox, um eine Nachricht zu hinterlassen. Ich legte auf und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.
‚Tut mir leid für die komische Situation', schrieb ich ihm. ‚Ich hoffe, dir geht's gut. Bitte melde dich, falls ich dir doch irgendwie helfen kann.'
Die Busfahrt kam mir elendig lang vor, meine Gedanken kreisten um das, was ich gesagt hatte und das, was ich besser hätte sagen sollen, bis mir schwindelig wurde. Ich wollte keine Psychothriller in meinem Kopf laufen lassen und eigentlich hielt ich es für unwahrscheinlich, dass Connor sich mit irgendeiner gefährlichen Bande angelegt oder zu viele Drogen genommen hatte. Aber vielleicht hatte er mit irgendetwas zu kämpfen, das nicht so greifbar war. Vielleicht hatte er andere Probleme.
Sobald ich das Haus der Aarens betrat, hörte ich Cristal in der Küche lachen. Mechanisch zog ich mir meinen Mantel aus, wickelte mich aus dem Wollschal und streifte meine Winterstiefel ab. Ich atmete tief durch, bevor ich durch den Gang schritt und mich zur angriffslustigen Blondine gesellte.
Ohne eine Reaktion abzuwarten oder sie zu begrüßen, fragte ich: „Weißt du, was mit Connor los ist?"
Ihr Lachen verstummte und sie sah von ihrem Handydisplay auf. Ich freute mich, dass sich der Esstisch zwischen uns befand. „Was soll mit ihm sein?"
„Er war auf einmal im dritten Bezirk, direkt vor meiner Schule bei der Bushaltestelle und hat selbst nicht gewusst, wie er dorthin gekommen ist", erklärte ich hastig und begann, mich am linken Unterarm zu kratzen. Kurz vergaß ich, dass dort noch leichte Spuren des Kratzers zu sehen waren, den ich mir selbst bei Cristals Geburtstagsfeier zugefügt hatte, aber als ich die raue Stelle spürte, fiel es mir wieder ein und ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich nicht weiter zu kratzen.
„Vielleicht wollte er es dir einfach nur nicht sagen."
„Warum sollte er das wollen?"
„Warum bist du so neugierig?", stellte Cristal als Gegenfrage und atmete einmal tief durch. Dann sprach sie weiter, mit überraschend ruhiger Stimme. „Vielleicht solltest du dich einfach um deinen eigenen Scheiß kümmern. Meinst du nicht, dass du genug mit dir selbst zu tun hast?"
Ich hörte ihre Frage, aber nahm sie nicht ernst. „Weißt du, ob es ihm gut geht? Ob es ihm ehrlich gut geht? Das ist alles, was ich wissen will. Ich habe ihn alleine dort stehen lassen und jetzt mache ich mir Sorgen, dass-"
„Du hast ihn dort stehen lassen?", unterbrach mich Cristal und ich konnte nicht anders, als schuldbewusst zu nicken. Sie sah mich an und versteckte hinter dem direkten Blick, was sie dachte.
„Was ist?", hakte ich nach, als mehrere Sekunden lang keine Reaktion kam.
„Nichts." Nun zuckte sie mit den Schultern, als wäre ihr das Thema auf einmal egal.
„Wie nichts?"
„Ich habe keine Antwort mehr darauf."
Desinteressiert widmete sie sich wieder ihrem Handy und ich blieb sprachlos in der Tür stehen. Eine wütende, zickige Cristal hätte ich noch eher verstanden als die teilnahmslose Person, die vor mir saß. Hatten heute alle ihre Persönlichkeit gewechselt wie Schauspieler, die verschiedene Rollen einnahmen?
Verwirrt schaute ich auf meinen rechten Zeigefinger. Er war feucht. Am linken Unterarm zeichneten sich blasse, rote Flecken ab und ein Viertel des Schorfs meiner Wunde hatte ich abgeschabt wie alte Farbe von einem Brett.
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Was wohl mit Connor los ist? Falls ihr Vermutungen habt, würde mich das sehr interessieren :)
Schönen Sonntag!
- knownastheunknown -
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