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Ich wusste, dass ich Gift für ihn war. Es war so riskant, in seiner Gegenwart zu sein, sich von ihm ablenken zu lassen und meine inneren Türen nur angelehnt zu lassen. Wenn ich die Kontrolle verlieren würde, könnte ich ihm alles nehmen. Kein Wunder, dass Cristal mich nicht leiden konnte – ich war egoistisch. Aber ich verbrachte gerne Zeit mit Connor und niemand konnte mir verbieten, mit ihm befreundet zu sein.
„Wenn du magst, nehme ich dich mal mit, wenn ich mit Paco die Stadt unsicher mache. Warst du schon im Park neben dem Friedensdenkmal?"
Ich schüttelte den Kopf, während ich die Schokocreme mit einer Teigkarte auf der Torte verteilte.
„Dort haben sie einen japanischen Garten angelegt. Ist ziemlich cool, ich komm da immer in Urlaubsstimmung. Im Winter ist er besonders schön beleuchtet, so mystisch." Connors Stimme trug so eine angenehme Energie mit sich, dass ich diesen Park selbst sehen wollte.
„Hört sich gut an." Ich strich den Rest der Creme glatt und trat dann einen Schritt zurück, um unser Werk zu begutachten. Die dunkle, beinahe schwarze Schokoladenmasse war nun unter einer helleren Schicht versteckt. „Theoretisch könnte man noch Schokoraspeln oder Kakaopulver darauf geben. Was meinst du?"
„Wow, der sieht richtig lecker aus." Bis gerade eben saß Connor noch am Küchentisch, aber jetzt stand er auf und kam neben mich an die Theke. Dann griff er nach seinem Handy und machte ein Foto. „Das muss ich gleich Ruby schicken."
Mein Gehirn verlor kurz den Überblick. Ich hatte ganz vergessen, warum wir das hier machten. Während der letzten anderthalb Stunden war es, als würden nur Connor und ich in dieser gemütlichen, kleinen Küche existieren. Aber natürlich gab es noch andere Menschen. Connor hatte andere Freunde, für ihn war es nichts Besonderes, sich mit jemandem zu treffen, weil ohnehin immer irgendetwas los war. Aber ich verkroch mich meiste Zeit zuhause. Für mich war dieser Besuch ein Ereignis. Irgendwie tat der Gedanke weh, dass das hier für mich mehr war als für ihn.
Ich warf einen Blick auf die Uhr am Küchenherd und schluckte dieses komische Gefühl hinunter. „Das heute hat Spaß gemacht. Aber ich sollte jetzt nach Hause fahren, bevor Cristal vom Cellounterricht wieder da ist."
„Ah, ist es schon so spät?", fragte Connor verwirrt und sah kurz von seinem Handy auf. „Aber dann sehen wir uns ja sowieso morgen auf der Party."
„Ich denke nicht, dass ich hingehe."
Er sperrte sein Handy und legte es auf der Küchentheke ab, dann sah er mich aufmerksam an. „Guter Witz. Wer soll denn dann die Torte anschneiden?"
„Na das Geburtstagskind", erwiderte ich und klang etwas zu schnippisch. „Ich kenne auf der Feier niemanden und ich glaube, Cristal ist es lieber, wenn ich nicht dort bin. Sie... wir stehen uns nicht so nahe." Mittlerweile war die Lage zwischen Cristal und mir ruhiger und angriffsloser. Meistens gingen wir einander aus dem Weg oder saßen beim Abendessen stumm nebeneinander, aber ich bezweifelte, dass sie sich wünschte, dass ich als Überraschung plötzlich aus einer riesigen Torte heraussprang.
Connor zuckte mit den Schultern. „Ach was, sie freut sich sicher – und ich würde mich auch freuen, wenn du kommst. Ich schick dir auf jeden Fall Rubys Adresse."
Ein schmales Lächeln nahm auf meinen Lippen Platz, aber es hatte einen bitteren Beigeschmack. „Danke. Ich überleg es mir."
„Na, dann, überleg es dir gut, Xenia." Er lachte zurück und sah mich voller Wärme an.
ҩҨҩ
Was genau mich dazu brachte, dass ich mich fünfundzwanzig Stunden später in Rubys Badezimmer befand, wusste ich nicht. Vielleicht lag es an Connors netten Worten oder an Christophers Angebot auf die einmalige Chance mich mit ihm zu betrinken, die er aussprach, als ich mir im Vorraum der Jungs meine Jacke anzog und er mit Paco, einem Golden-Retriever-Pudel-Mischling – den Christopher liebevoll als Goldudel bezeichnete –, bei der Tür hereinspazierte. Paco humpelte allerdings eher, weil sein linkes, vorderes Bein verkürzt war. Connor hatte mir erzählt, dass er und Christopher ihn im Tierheim gesehen und sich sofort in ihn verliebt hatten. Zuerst sah Paco neugierig zu mir hinüber, blieb dann aber mitten in der Küche stehen und ließ sich hechelnd zu Boden fallen, ohne mich irgendwie zu beachten.
Vielleicht war auch Ruby schuld.
‚Hey, ich habe deine Nummer von Connor. Die Geburtstagstorte sieht super aus! Danke für die Hilfe. Du bist natürlich auch eingeladen. Um 19 Uhr geht's los – würde mich freuen, dich auch endlich mal kennenzulernen. Lg. Ruby'
Dazu schickte sie noch eine Adresse, die genau zu dem kleinen Einfamilienhaus führte, in dem ich mich jetzt befand. Nachdem Leya gefragt hatte, ob sie mich zu Ruby bringen sollte, sagt ich zu. Ich wollte nicht unhöflich sein und den Abend allein in meinem Zimmer zu verbringen, kam mir nicht so prickelnd vor, wenn ich wusste, dass andere, normale Leute ein paar Straßen weiter Spaß hatten und ich theoretisch ein Teil davon sein könnte. Dadurch, dass ich fast bis Mittag geschlafen und mich ausgeruht hatte, traute ich mir das durchaus zu.
Aber anscheinend hatte ich mich ein bisschen verkalkuliert. Ich wusch meine Hände jetzt seit zwei Minuten mit eiskaltem Wasser, in der Hoffnung, dass sie irgendwann taub werden würden und ich das Jucken unter meiner Haut nicht mehr spürte. Zum Glück war das hier nicht das einzige Badezimmer. Ich verließ mich darauf, dass niemand bemerkte, wie lange ich schon weg war, aber ich konnte auch nicht ewig hier drinnen bleiben. Cristal hatte ich heute noch gar nicht gesehen. Als ich kurz vor dem Mittagessen aus meinem Bett herausgekrochen war, war sie bereits mit Christopher in der Kletterhalle verschwunden und danach mit ihm und Connor essen gegangen. Das war der Plan: Sie verbrachte den Tag mit ihren zwei besten Freunden und am Abend würden sie nur „kurz" noch bei Ruby vorbeischauen. Bestimmt waren sie bald auf dem Weg hierher. Nach weiteren dreißig Sekunden waren die unsichtbaren Nadelstiche auf meinen Händen so unangenehm, dass ich den Wasserhahn abdrehte. Komisch. Ich konnte das Metall unter meinem Griff kaum spüren, aber das Jucken in meinen Fingern war immer noch da.
„Xenia? Bist du noch da drinnen?", drang Rubys Stimme durch die Tür ins Badezimmer.
Instinktiv hielt ich die Luft an, realisierte dann aber, dass ich vielleicht auf ihre Frage reagieren sollte. „Ähm, ja. Ich komm gleich raus. Mir-mir war nur etwas schlecht." Ich holte noch einmal tief Luft, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und öffnete dann die Tür. Nicht denken. Machen.
Mit besorgten, aber leuchtenden Augen sah Ruby mich an. „Ohjeh. Brauchst du irgendetwas? Ich kann dir Tabletten geben. Oder was Homöopathisches?" Da huschte sie auch schon an mir vorbei ins Badezimmer und ging in die Hocke, um das Kästchen unter der Spüle zu durchsuchen.
„Danke, aber es geht schon." Ich bemühte mich um ein Lächeln, weil sie so nett war, aber Rubys Leuchten machte mich unrund. Sie war so aufgeregt, so nervös und hibbelig.
Manche Menschen erinnerten an einen alten Suppentopf. Fahl, antriebslos und so vergessen, dass es niemanden interessierte, ob in den Resten eine Fliege schwamm oder ob sich an der Oberfläche langsam ein pelzartiges etwas entwickelte, aus dem man eventuell einen hübschen Mantel machen könnte. Ruby hingegen sprudelte heute über vor Energie als würde in ihr gerade alles zu kochen beginnen. Wenn man sie zu lange aus den Augen ließ, ging irgendwann alles über.
„Bist du sicher? Ich kann dir auch einen Tee machen."
„Alles gut, mir geht's schon viel besser", versicherte ich. „Wann kommt Cristal denn?"
„In etwa zehn Minuten. Connor hat geschrieben, dass sie sich jetzt auf den Weg machen."
Ich nickte. Zumindest so lange konnte ich noch bleiben. Falls danach irgendwas nicht passen sollte, würde ich einfach nach Hause spazieren. Jay hatte auch angeboten, Cristal und mich irgendwann abzuholen, aber ich bezweifelte, dass ich so lange bleiben würde wie das Geburtstagskind selbst und nur meinetwegen wollte ich ihn nicht her zitieren. Komischerweise hatten sich Leya und Jay gar nicht darüber gewundert, dass ich heute auch zu der Feier ging. Konnten sie einfach so ausblenden, welches Risiko sie trugen, seit ich in ihr Leben eingetreten war?
„Sag sofort, wenn du doch was brauchst." Ruby klatschte in die Hände und richtete sich wieder auf. „Wir sollten uns jetzt aber sowieso langsam bereit machen."
Ich war noch nie bei einer realen Überraschungsparty dabei, aber diese kam den Filmen, die ich gesehen hatte, schon recht nahe. Als Ruby ein paar Minuten später die Tür öffnete, um Cristal und die zwei Jungs reinzulassen, versteckten sich die anderen Gäste im Wohnzimmer. Von den circa fünfzehn Leuten kannte ich niemanden außer Oliver, den ich auf der Schulausstellung getroffen hatte, aber jetzt gerade kauerte ich neben zwei Mädchen und einem Pärchen am Boden hinter Rubys Couch und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie ich hier gelandet war. Am anderen Ende des Raumes kicherte jemand, woraufhin ein lautes „Pscht" zu hören war.
Als die Blondine ins Wohnzimmer kam, sprangen alle in die Höhe und schrien ihr ein Happy Birthday entgegen. Ich versuchte, mitzumachen, kam mir aber mit einem Mal zu träge vor und musste mich an der Couch festhalten, um das Gleichgewicht zu behalten. Vielleicht war ich heute die pelzige Suppe. Ich blinzelte und auf einmal grinste Cristal in der Mitte des Zimmers, während Christopher die Torte hereintrug und alle zu singen begannen. Sie pustete die Kerzen aus und sagte irgendetwas, das ich nicht richtig hörte. Cristal war so leise. Warum sprach sie nicht lauter? Die Stimmen im Raum wurden eine einzige, unklare Masse, sie bäumten sich auf zu einem Donnergrollen und ich bekam gerade noch mit, wie sich meine Augenlider senkten.
„Xenia. Hey, Xenia."
Ich schreckte auf und stieß beinahe gegen Connors Stirn. „Was ist passiert?"
„Du bist gerade zusammengesackt und du hast dich irgendwie aufgekratzt. Warte, ich hol dir was zu trinken."
Langsam ließ ich meinen Blick herumwandern. Anscheinend saß ich am Boden. Vor mir war nur eine weiße Wand zu sehen und hinter mir befand sich – ich drehte den Oberkörper und griff danach – die Couch. Erst bei der Drehung fiel mir das Brennen auf, das von meinem Unterarm ausging und ich bemerkte einen feinen, frischen Kratzer auf meiner Haut. Das Kribbeln in meinen Fingerknöcheln war weg. Ich schnappte einige Worte von der Mitte des Raumes auf und erinnerte mich daran, dass noch mehr Leute hier waren.
„Danke, Ruby! Das ist so lieb von dir", rief Cristal. Ich glaube, ihre Freunde waren noch dabei, sie zu beschenken. Zum Glück hatte außer Connor niemand mitbekommen, dass ich umgekippt war, weil sich alle darauf konzentrierten. Erleichtert atmete ich aus und lehnte mich etwas entspannter an die Couch. Aufmerksamkeit war das letzte, was ich jetzt wollte.
Connor tauchte wieder in meinem Sichtfeld auf und reichte mir ein Glas Wasser, das ich mit kleinen Schlucken leerte. „Willst du an die frische Luft?" Er warf einen demonstrativen Blick in Richtung der Terassentür, die in den Garten führte. Heute trug Connor wieder die Mütze. Ich mochte seine Mütze.
Ich nickte und richtete mich vorsichtig auf. Connor nahm mir schnell das Glas aus der Hand, damit ich besser aufstehen konnte und murmelte ein „Warte kurz", sobald ich es geschafft hatte. Wenige Sekunden später stand er vor mir und hatte zwei Mänteln über seinen Gipsarm gelegt. Mir fiel ein, dass immer noch Winter war und ich fürchtete mich davor, hinaus in die Kälte zu gehen. Aber jetzt gerade war es besser, Abstand zu all diesen Menschen zu gewinnen.
Irgendjemand schaltete die Stereoanlage ein und Musik klang aus den Lautsprechern neben der Couch, aber wir waren bereits in den kalten Garten getreten und Connor schloss die Terassentür hinter uns, sodass die Geräusche nur noch dumpf nach außen drangen. Der Himmel war pechschwarz, es musste eine wolkenverhangene Nacht sein, aber durch das Licht aus dem Wohnzimmer war der kleine Garten in düsteres Licht gehüllt.
„Hier. Zieh den lieber an", meinte er und hielt den braunen Wintermantel auf.
„Das ist nicht meiner."
„Er gehört Cristal, keine Sorge, der sollte dir passen." Ich war zu geschlaucht, um zu diskutieren und ich schlüpfte in den dicken Stoff. Die Kälte setzte sich immer noch in meinen Gliedern fest, aber als ich den Zippverschluss zuzog, wurde es bereits erträglicher.
„Danke." Wir setzten uns auf zwei geflochtene Gartenstühle und der dumpfe Druck, der sich wieder an meinen Schläfen festklammerte, begann sich ein bisschen zu lösen. „Tut mir leid, dass ich dich so beschlagnahmt habe. Du kannst gerne wieder reingehen."
„Und dich allein hier sitzen lassen? Dafür müsstest du mir zuerst erklären, was das gerade eben war. Sonst mache ich mir zu viele Sorgen." Connor sah mich abwartend an.
„Kreislaufprobleme", erwiderte ich knapp. Er öffnete den Mund zu einer Antwort, aber bevor er irgendwas sagen konnte, nahm ich meinen Mut zusammen und spielte den Ball an ihn zurück. „Geht es dir denn auch gut? Als du letztens in Cristals Zimmer warst, hast du ziemlich mitgenommen gewirkt. Ein bisschen neben der Spur." Connor lehnte sich weiter in seinem Sessel zurück und starrte in den Nachthimmel. Gut gemacht, genauso aufdringlich wollen Menschen angesprochen werden, wenn es um ihre Probleme geht. „Du musst es mir natürlich nicht sagen", fügte ich schnell hinzu. Der Verlauf des Gesprächs machte mach nervös, aber immerhin lenkte es mich von meinem Instinkt weg. „Ich habe mir nur irgendwie Sorgen gemacht."
Connor schnaubte leise. „Du brichst da drinnen halb zusammen und sagst dann, du machst dir Sorgen um mich?"
„Naja", fing ich an, als die Terassentür aufging.
„Da steckt ihr also", unterbrach mich Cristal. In ihrer Stimme lag keinerlei Emotion, sie sprach so monoton wie ich kaum jemanden reden gehört hatte. Aber ihr Blick blieb an ihrem Mantel hängen, in den ich mich gekuschelt hatte. „Wir schneiden jetzt die Torte an. Danke, dass du mitgeholfen hast, Xenia."
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Wer hat jetzt auch Lust auf ein Stück Schokotorte? xD
Schönen Sonntag und danke fürs Lesen!
- knownastheunknown -
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