09
Während der nächsten paar Tage hatte ich keinen Kontakt zu Connor, aber er nahm mehr Platz in meinem Kopf ein, als er vermutlich sollte. Ich verstand immer noch nicht, was am Dienstag passiert war und warum er in einem Moment so neben der Spur wirkte und im nächsten schon wieder ganz normal mit mir herumalberte. Außerdem war mir bewusst, dass Freitag immer näher rückte. Obwohl ich anfangs ganz entspannt zugesagt hatte und kein großes Ding daraus machen wollte, ertappte ich mich manchmal dabei, dass ich in Gedanken versank wie in Treibsand. Wo er wohl wohnte? Hätte er einfach jeden Menschen um Hilfe gefragt? Nutzte er mich aus? Würde ich seine Eltern kennenlernen? Würden wir uns gut verstehen und Witze reißen oder würde er wieder seine introvertiertere Seite zeigen? Was erwartete er von dem Abend? Was sollte ich erwarten? Und am wichtigsten: Hatte ich genug Energie, um mich unter Kontrolle zu halten und ihn nicht zu verletzen?
Zumindest die Frage mit Connors Einbruch hatte sich inzwischen geklärt. Ich sammelte meinen Mut zusammen und fragte Leya ganz direkt, ob Connor einen Schlüssel hatte. „Ja, er kommt immer zum Blumengießen vorbei, wenn wir auf Urlaub fahren", antwortete sie und zog die Augenbrauen zusammen, als wäre sie verwundert darüber, dass er um die Uhrzeit einfach so vorbeikam. Aber dann nippte sie an ihrem Kaffee und ihre Augen wanderten wieder zu der Zeitschrift, die sie in der Hand hielt. „Wahrscheinlich hat er sich irgendwas mit Cris ausgemacht, aber sich am Wochentag vertan oder so. Du weißt ja, wie die Jungs sind."
An ihrer Stelle hätte ich mir weit mehr Gedanken darüber gemacht, aber sie schien Connor so sehr zu vertrauen, dass sie das nicht weiter störte, und ich beließ es dabei. Vielleicht war das ja wirklich nichts Besonderes, sondern es kam öfter vor, dass er etwas neben der Spur war?
Als ich am Freitag von der Schule zu den Aarens nach Hause fuhr, fühlte sich mein Kopf schwer und träge an, wie ein Stein. Ich saß fast alleine im Bus und genoss das kühle Gefühl der Fensterscheibe an meiner rechten Schläfe. Der Tag war okay, aber irgendwie kamen drei Lehrer auf die Idee, mich an die Tafel zu holen, um Mathe-, Chemie- und Physikaufgaben zu lösen. Zu gern hätte ich dankend abgelehnt und das Rampenlicht vermieden. Es war viel anstrengender, ruhig zu bleiben, wenn ich mich beobachtet fühlte. Wenigstens Greta hatte mir wie immer aufmunternd zugelächelt. Als ich die Wahrscheinlichkeitsrechnung an die Tafel geschrieben hatte, drehte ich mich unauffällig in ihre Richtung und war erleichtert, als ihr Daumen nach oben zeigte. Sie war schon immer besser in Mathe als ich.
Nach der Stunde sah ich, dass Connor mir geschrieben hatte. ‚Hab ganz vergessen dir meine Adresse zu schicken.' Gefolgt von ‚Freu mich auf nachher' und einem Link.
Greta schnaubte amüsiert, ich drehte mich zu ihr und ließ mein Handy sinken, aber sie zog wissend die Augenbrauen hoch, als hätte sie bereits mitgelesen.
„Ich helfe nur einem Freund", erklärte ich und kam mir wieder vor wie in einem Teenie-Romantikfilm.
„Pff", machte meine Sitznachbarin. Dann kritzelte sie in ihrem Heft und schob es mir hin. ‚Dein roter Kopf sagt aber was anderes.'
„Ich hab einen Sonnenbrand." Greta lachte, beließ es aber dann dabei.
Wenn sie so wie in diesem Moment mit mir herumalberte, vergaß ich immer, dass sie nicht mit jedem so umgehen konnte. Sie versuchte, ihren Mutismus zu überwinden und schrieb mittlerweile ihre Gedanken auf, wenn sie mit mir reden wollte. Ich hatte nie nachgefragt, warum sie meistens so in sich gekehrt war und die Nase am liebsten zwischen Buchseiten verkrochen hatte.
Einmal hatte mich ihre Mutter nach dem Unterricht angesprochen und mir erklärt, dass Greta eine Sozialphobie hatte und nur zu Hause mit ihrer Familie sprach, aber daran arbeitete, ihre Ängste zu überwinden. Unsere Klassenlehrerin hatte auch zu Beginn des Schuljahres, als Greta nicht da war, kurz angesprochen, dass wir auf sie Rücksicht nehmen, aber sie bitte miteinbeziehen sollten. Den meisten aus meiner Klasse schien sie egal zu sein. Wahrscheinlich war sie zu leise, um überhaupt ganz gesehen zu werden. Meistens versuchte ich eine ähnliche Rolle zu finden und vielleicht war genau das der Grund dafür, dass wir trotz fehlender Worte einen Draht zueinander hatten, der nicht immer gleich gespannt, aber doch immer da war.
Im Autobus verlor ich mich manchmal so sehr in Gedanken, dass ich fast die Haltestelle versäumte. Aber es hatte auch den guten Effekt, dass ich mich nicht auf die Welt um mich herum einließ. In der Sitzreihe vor mir saßen zwei kleine Jungs, die lachten und aufgedreht auf ihren Plätzen herumrutschten. Ihre Energie konnte so bunt, so wild und so verführerisch sein, wie sie wollte, heute war mein Kopf lauter. Ich stieg rechtzeitig aus, ging zehn Minuten zu Fuß, bis ich zum Haus der Aarens kam und genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, die den Tag ungewohnt warm machten. Ich aß ein paar Bissen von dem Nudelauflauf, den Leya vorgekocht hatte, und legte mich danach ins Bett, um den Druck um meinen Kopf zu lockern.
Eine Stunde später hörte ich, dass sich Jay mit Cristal auf den Weg zum Cellounterricht machte, und stand auf, um noch einmal aufs Klo zu gehen. Leya musste heute länger arbeiten, also bemerkte niemand, dass ich das Haus verließ. Fünfzehn Minuten später fand ich mich vor einem Wohnhaus wieder, das inmitten der anderen so unscheinbar wirkte wie ein einzelner Baum in einem Wald. Ich drückte auf den kleinen, silbernen Knopf neben der Nummer zwölf und hörte, wie es klingelte.
„Ja?"
„Hey, ich bin's. Xenia." Mein Hals fühlte sich trocken an und ich unterdrückte ein Räuspern.
„Oh, super, komm rein. Ich bin im dritten Stock", erklärte Connor und seine Stimmlage hob sich beim Sprechen. Ein Surren ertönte und ich konnte die Tür öffnen.
Bei allen Gedanken, die ich mir im Vorhinein über sein Zuhause gemacht hatte, hätte ich nicht damit gerechnet, dass er so selbstständig war. Die Wohnung sah recht ordentlich aus und ich fragte mich, ob Connor extra geputzt hatte, weil er wusste, dass ich kam. Kein Staubkorn zu viel, keine getragenen Klamotten, die sich über einem Sessel häuften. Sogar die Futterschüssel, die in dem kleinen Wohnzimmer neben einem Fenster stand, sah sauber aus. Generell war die Wohnung kleiner, als ich erwartet hatte. Connor führte mich, nachdem ich meine Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, durch einen schmalen Vorraum ins Wohnzimmer, von dem zwei Türen weggingen, und von dort weiter in eine kompakte Küche. Nichts ließ darauf schließen, dass das hier das Zuhause einer Familie war.
„Du wohnst hier allein?", fragte ich ein paar Minuten später ungläubig nach, als ich mit einer Tasse Kaffee vor mir am Küchentisch saß. Ich etwas froh darüber, dass ich mich mit einem Gespräch ablenken konnte und nicht auf seine frischgewaschenen, noch feuchten Haare starren musste.
„Naja, mit Christopher. Der kommt aber erst später, derweil ist er noch mit Paco in der Hundeschule. Auch wenn Christopher nicht die beste Autoritätsperson ist, waren meine Eltern einverstanden, dass ich mit ihm hier einziehe, als er vor einem guten Jahr einen Mitbewohner gesucht hat. Wahrscheinlich hoffen sie immer noch, dass ich dann fürs Studium hierbleibe und nicht in eine Stadt ziehe, die zwei Stunden von ihnen entfernt ist. Aber mal sehen, wo ich am Ende lande."
Seine Eltern würde ich heute wohl nicht kennenlernen, aber das war mir nur recht so. Allein mit Connor hier zu sein, nahm mir etwas von der Nervosität, die in mir schlummerte. Ich nippte an meinem Kaffee. Connors Küche sah recht schlicht und modern aus, aber wirkte gleichzeitig so hell, dass ich die Wärme beinahe in mich aufsaugen konnte. Meine Augen wanderten über die weiße Theke, das Bild einer Gebirgskette an der Wand und blieben schließlich wieder an Connors Haaren hängen. Er fing meinen Blick auf und musterte mich stumm. Meine Finger begann zu kribbeln und ich umklammerte meine Tasse etwas fester. Connor so anzusehen, gab mir das Gefühl, die Sonne würde meine Haut streicheln. Am liebsten würde ich mich wie eine Katze genüsslich zusammenrollen und in diesem Gefühl versinken.
„Also. Bist du bereit, die beste Torte der Welt zu backen?", fragte ich und stand schnell auf, um die Spannung zu durchbrechen. Nicht denken. Machen.
„Du setzt die Latte ziemlich hoch, aber klar, ich bin bereit. Ich lerne gern von der Meisterin." Connor schmunzelte. Vielleicht hätte mir dieser neckende Kommentar peinlich sein sollen, aber nicht einmal darüber konnte ich mir gerade Gedanken machen. „Ich hab das Rezept hier am Tablet." Er begann, eine Zutat nach der anderen aus dem Küchenschrank zu nehmen und auf der Theke zu platzieren, konnte aber nur einen Arm ganz nach oben strecken, weshalb es etwas länger dauerte – der andere war unter dem Gips versteckt und nicht besonders beweglich.
„Perfekt." Etwas unschlüssig, wo ich mich platzieren sollte, verlagerte ich das Gewicht von einem Bein auf das andere und knackte mit den Fingerknöcheln.
Connor zuckte zusammen und sah mich angewidert an. „Bitte nicht. Ich hasse das Geräusch."
„Entschuldige." Ich hob abwehrend die Handflächen hoch und griff dann nach dem Tablet, um mich dem Rezept für veganen Schokokuchen zu widmen. „Bist du denn Veganer?"
„Eigentlich nicht. Ich hab's eine Zeit lang ausprobiert, aber wenn mir danach ist, esse ich auch Fleisch. Alles in Maßen. Aber Ruby und Milana folgen ganz dem Trend und ich hab mir gedacht, wenn wir schon was backen, soll jeder was davon haben, oder nicht?"
Ich nickte. „Ja, gute Idee. Das ist nett von dir."
Wir sprachen das Rezept gemeinsam durch und fanden dann recht schnell einen Rhythmus, der funktionierte. Connor sagte mir die Schritte an, gab mir die Zutaten zu und ich wog sie ab und vermischte alles. Schritt für Schritt. Als ich die geschmolzene Schokolade in den Teig geleert hatte, griff Connor nach der Schüssel und begann, die übrig gebliebene Schokolade mit einem Löffel vom Porzellan zu kratzen und zu naschen. Wegen des Gipses konnte er den Arm nicht abbiegen und kämpfte ein bisschen damit, den richtigen Winkel zu finden, aber er ließ sich davon nicht bremsen.
„Was?", nuschelte er mit dem Schokolöffel im Mund.
„Nichts." Ich wandte den Blick ab und beschäftigte mich wieder damit, den Teig durchzurühren. Die Masse wurde immer schokoladiger, das satte Dunkelbraun gewann gegen die blasse beige Farbe davor und die Konsistenz wurde immer geschmeidiger. Das war eines meiner Lieblingsgefühle beim Backen. Zu sehen, wie aus so vielen verschiedenen Dingen eine gleichmäßige Einheit wurde.
„Ich denke, du solltest einen Foodblog starten oder sowas. So wie die Website, auf der ich das Rezept gefunden hab."
Ich hielt inne und sah Connor an. „Ich denke mir ja keine Rezepte aus." Vielmehr genoss ich das Gegenteil – ich wollte einen Plan haben, der mir sagte, was richtig war.
„Dann fängst du eben damit an. Es war ja auch deine Idee, mehr Schokolade, statt Öl zu verwenden." Er fuchtelte mit dem Schokolöffel in der Hand durch die Luft. „Ich hab gerade darüber gedacht. Nur weil dein Vater meint, du sollst dich auch nach Studien umsehen, heißt es nicht, dass du nicht beides machen kannst. Du könntest trotzdem durchs Kochen und Backen Geld verdienen, wenn du willst. Mittlerweile bauen sich viele Leute irgendwas online auf und machen sich selbstständig."
„Hm", machte ich erst einmal. Ich hatte keine Ahnung davon, wie man eine Website erstellte oder ähnliches, aber vielleicht könnte ich mich mehr darüber informieren. „Ich denke darüber nach."
„Das seh ich", lachte Connor. „Gut, was kommt als nächstes?"
Ich fettete die Backform ein, kleidete sie mit Mehl aus und verteilte den Teig gleichmäßig darin. Wir waren fast fertig. Bei dem Gedanken wurde mein Magen schwer, als hätte ich zu schnell zu viel gegessen, und ich verschränkte die Arme vor dem Bauch, um den Druck irgendwie abzulenken. Connors Gegenwart fühlte sich hingegen gleichzeitig so ruhig und beruhigend an wie immer. Er ging vor dem Ofen in die Hocke, um noch einmal die Temperatur zu überprüfen und erst als er sich aufrichtete, merkte ich, dass er eigentlich auch recht groß war. Wahrscheinlich wirkte er kleiner, wenn Christopher dabei war. Wenn sie beide Hochhäuser wären, hätte Connor sechs Stockwerke, aber Christopher mindestens acht.
Ich schüttelte den Gedanken ab und schob den Kuchen ins Rohr. In wenigen Minuten mixte ich noch eine vegane Schokocreme, während Connor die Zutaten zurückräumte und begann, die Küche zu putzen. „So...", machte ich langsam. Beim Backen waren wir beschäftigt genug, dass uns nicht die Gesprächsthemen ausgingen, aber jetzt neigten sich die Aufgaben dem Ende.
„Wow, mit dir geht das alles echt schnell. Ich denke, ich sollte dich öfter anheuern." Er ließ den Putzfetzen in der Spüle verschwinden. „Danke für deine Hilfe. Willst du noch einen Kaffee?"
„Okay, warum nicht." Ich wusste immer noch nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass Connor diese Rolle als Küchenfee so oft betonte. Bevor ich heute zu ihm gekommen war, hatte ich auch darüber nachgedacht, ob ich sein komisches Erscheinen in Cristals Zimmer noch einmal erwähnen sollte, aber jetzt gerade kam mir das Gesprächsthema zu klobig vor und ich entschied mich für etwas Einfacheres. Meine Smalltalkfähigkeiten konnten außerdem immer etwas Übung vertragen. „Und du träumst davon Arzt zu werden?"
Er kochte nebenbei Wasser auf und holte das Kaffeepulver hervor, um es in einen dieser altmodischen Filter zu füllen. „Das ist der Plan. Wenn es so bleibt, wie bisher, sollte mein Notendurchschnitt die Uni überzeugen. Dann ist da nur mehr eine Fachprüfung im Sommer, die mich vom Medizinstudium trennt."
„Macht dir das denn gar keine Angst?" Die Frage klang etwas zu plump, war aber entkommen, bevor ich sie zurückhalten konnte.
„Was denn?"
„Erstens diese Prüfung – ich habe gehört, dass manche Leute da fünfmal antreten und sie es dann teilweise immer noch nicht schaffen. Und zweitens Medizin an sich. Für andere Leben verantwortlich zu sein, meine ich."
„Ich will diese Verantwortung", stellte er nun klar und klang dabei auf einmal um einiges ernster. „Irgendwie finde ich es viel gruseliger, machtlos zu sein. Es wird immer irgendwas Schreckliches auf der Welt passieren, auf das ich keinen Einfluss habe. Aber als Arzt oder Chirurg kann ich zumindest ein bisschen was bewirken."
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Schönen Sonntag! :)
- knownastheunknown -
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