08
„Ja. Alles in Ordnung." Nun sah Connor mich an und bemühte sich um ein schmales Lächeln. „Ich komme einfach später wieder. Mach dir keine Gedanken."
Immerhin lag in seiner Stimme nun etwas mehr Leichtigkeit, trotzdem brannte mein Kopf vor Neugier. Gestern war er mir vorgekommen wie ein anderer Mensch. Es war einfach gewesen, sich mit ihm zu unterhalten, fast so einfach wie mit Christopher, aber heute sprachen wir nicht dieselbe Sprache. Gab es ein Wörterbuch, das mir erklären konnte, warum er aus dem Nichts in Cristals Zimmer auftauchte und aussah, als hätte er letzte Nacht keine Sekunde lang geschlafen?
Am liebsten hätte ich ihn direkt gefragt, aber das kam mir dann doch etwas aufdringlich vor. Stattdessen versuchte ich, nett zu sein. „Bist du dir sicher?"
„Alles gut. Man sieht sich."
„Okay, ähm, bis dann." Perplex blieb ich in Cristals Zimmer zurück, ehe ich mich wieder aufraffte. Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, dass ich in die Privatsphäre meiner Gastschwester eingedrungen war, huschte ich in den Gang hinaus und zog die dunkelbraune Tür hinter mir wieder zu. Die Lust, ihr nachzustellen wie ein Detektiv oder wie ein Stalker, war mir vergangen. Dafür war Connors Auftreten zu merkwürdig gewesen. Wie war er überhaupt in das Haus gekommen? Besaß er einen Schlüssel?
Ich ging zur Eingangstür, die sich problemlos öffnen ließ. Eigentlich war ich mir sicher gewesen, dass ich hinter mir abgesperrt hatte, als ich nach Hause gekommen war. Vielleicht konnte ich Leya nachher beiläufig fragen, ob Connor einen Schlüssel besaß.
Als ich versuchte, mich wieder den spanischen Plantagen in meinem Geographiebuch zu widmen, kam ich besser voran als gedacht. Doch nach ein paar weiteren Minuten tat mein Rücken schon etwas weh, weil der Schreibtisch zu niedrig war und ich streckte meine Arme seufzend nach oben, um mich zu dehnen, als es an der Tür klopfte. Anscheinend kam Leya heute in ihrer Mittagspause aus der Praxis nach Hause.
„Ja?" Ein Blick über meine Schulter genügte und ich war erneut verwirrt. Vor circa einer Stunde war Connor gegangen, jetzt stand er in meinem Türrahmen und nickte mir zu. Leya war wohl doch noch nicht zuhause.
„Darf ich reinkommen?"
Neugierig musterte ich ihn. Er sah immer noch müde, aber weniger durch den Wind aus. Wie ein Regal voller staubiger, abgenutzter Bücher, die jetzt zumindest nach Farben sortiert waren. „Klar. Cristal ist aber immer noch nicht da." Gespannt folgten meine Augen seinen Bewegungen, bis er sich an den Rand meines Bettes setzte. Sonst gab es keine freien Sitzmöglichkeiten in meinem Zimmer. Ich drehte mich im Schreibtischsessel, damit ich ihn besser sehen konnte.
„Das macht nichts. Ich wollte zu dir. Kann ich dich um einen Gefallen bitten?" Er sah mich abwartend an.
„Kommt auf den Gefallen drauf an, aber wenn ich helfen kann, dann gerne", meinte ich schulterzuckend und verdrängte das flaue Gefühl in meinem Magen. Ich konzentrierte mich auf das Ticken der runden Uhr an der Wand, um nicht an die Wärme zu denken, die von Connor ausging, und dennoch kribbelten meine Fingerknöchel. Wenn man etwas nicht bemerken darf, strahlt es meistens nur noch auffälliger. Genauso wie ein Insektenstich noch mehr juckt, wenn jemand sagt, dass man ihn nicht blutig kratzen soll. Ich zwang mich dazu, ruhig sitzen zu bleiben und hielt mich an der Sitzfläche des Schreibtischsessels fest, um nicht näher an Connor heranzurücken.
„Cristal hat ja am Samstag Geburtstag." Ich gab ein zustimmendes „Mhm" von mir, auch wenn mich seine Worte so unerwartet trafen wie kaltes Wasser. „Und Ruby will ihr eine Überraschungsparty schmeißen. Ich hab mir gedacht, vielleicht kannst du mir helfen, die Torte zu backen? Mit dem Gips ist das nicht so einfach und Christopher muss man von jeder Küche der Welt fernhalten, wenn man nicht will, dass sie in Flammen aufgeht."
Ich schnaubte amüsiert und spürte irgendeine namenlose Last von meinen Schultern fallen. Keine Ahnung, was ich befürchtet hatte, aber dieser Gefallen war harmlos. Meine verkrampften Schultern lockerten sich automatisch etwas. „Okay, bevor irgendein armer Ofen daran glauben muss, helfe ich dir gern."
„Super, du bist wirklich eine Lebensretterin." Nun grinste er mich an und sah dabei so unbeschwert aus, dass ich mir gar nicht mehr sicher war, ob ich unsere Begegnung in Cristals Zimmer nicht nur geträumt hatte. „Einmal wollten Cristal, Christopher und ich Muffins backen und der Brandmelder hat fast ein Burnout bekommen."
„Wie passend", grinste ich zurück. Das war wieder unsere Sprache und viel zu gerne ließ ich mich darauf ein. Es fiel mir leichter, mit ihm herumzualbern als ihn mit meinen Fragen zu konfrontieren. „Sicher, dass du besser backen kannst als Christopher? Wenn ihr zu dritt wart, könnte das genauso gut deine Schuld gewesen sein."
Connor ließ sich nicht ärgern. „Das werde ich dir schon beweisen. Wenn du am Freitag Zeit hast, wäre das ganz gut. Da hat Cris ja Cellounterricht und wundert sich nicht, wo wir stecken."
Wieder lernte ich etwas über Cristal dazu und bemühte mich, nicht zu überrascht dreinzuschauen. „Ja, das sollte gehen."
„Klasse. Dann haben wir ja doch noch unser Date."
„Oje. Ich zerbreche mir jetzt schon den Kopf darüber, welche Kochschürze ich am besten anziehen soll", spielte ich mit.
Er lachte. „Kannst du mir noch deine Nummer geben? Dann schreib ich dir – auch wegen der Party."
Ein wenig selbstsicherer als vor wenigen Augenblicken noch streckte ich mich ihm entgegen und nahm sein Handy. So unschuldig und nett gemeint seine Frage auch war, mein Puls ging trotzdem etwas zu schnell, während ich meine Nummer eintippte und Connors aufmerksamen Blick auf meiner Haut spürte. Dass ich auf einmal nervös war, ärgerte mich. Ich fand Connor sympathisch, aber ich kannte ihn nicht und seine wechselnden Launen waren mir ein Rätsel. Es wäre einfach, zu vergessen, dass er heute so bestimmend in das Haus der Aarens eingebrochen war, und hier bedenkenlos mit ihm zu flirten – oder was auch immer wir taten. Aber das hier war kein Liebesfilm.
Vor ein paar Wochen noch hatte ich meinen Vater regelmäßig dazu gebracht, mit mir auf der Couch zu sitzen und im Fernsehen dabei zuzusehen, wie sich zwei Menschen ineinander verliebten. Ich mochte romantische Komödien und war davon überzeugt, dass es meinem Papa insgeheim ähnlich ging. Die größten Probleme in diesem fremden Universum waren tollpatschige Charaktere und Drama mit den Exfreunden und meistens gingen die Filme gut aus. Sie waren eine angenehme Ablenkung von der Realität, gerade weil sie selbst nicht allzu realistisch sein mussten.
Das hier war kein Liebesfilm. Also versuchte ich nicht allzu viel in das Lächeln hineinzuinterpretieren, das Connor mir schenkte, als ich seinen Blick erwiderte.
Das Geräusch der Eingangstür durchbrach die Stille und reflexartig stand der Junge von meinem Bett auf. Ich folgte ihm noch in den Flur hinaus, wo Leya und er kurz über Cristals Geburtstag sprachen, und winkte ihm zum Abschied.
„Dann bis Freitag, Nia. Ich schreib' dir noch."
ҩҨҩ
Wenn Cristal den „Schwan" aus dem Karneval der Tiere auf dem Cello spielte, nahm ihre Ruhe das ganze Haus ein. Das war eines der wenigen klassischen Stücke, die ich mir aus dem Musikunterricht gemerkt hatte, weil es mir so gut gefiel. Auch wenn ich Musik keinen allzu hohen Stellenwert in meinem Leben gab, schafften es diese Klänge, dass ich mich entspannt fühlte und nicht daran dachte, wie viel ungeordnete Energie sonst manchmal durch dieses Haus floss und mich unter Strom setzte. Ich lag im Bett und wurde immer schläfriger, als mein Handy zu den Klängen vibrierte.
‚Veganer Schokokuchen – was sagst du dazu?' – Dahinter leuchtete der Link zu einem Rezept blau auf meinem Handydisplay auf.
Mit einem scharfen Laut zog ich Luft durch die Nase ein und Cristals Cello rückte in den Hintergrund meines Bewusstseins. Mein Magen kribbelte, aber das Gefühl war mit Hunger nicht zu vergleichen.
‚Wer ist da?', antwortete ich spaßhalber, um ihn zu verunsichern.
‚Das war kein Klopf-Klopf-Witz', schrieb er. ‚Connor an Xenia. Bitte kommen.'
Sie hatten einen ähnlichen Humor, aber der größte Unterschied, den ich zwischen Christopher und Connor ausmachen konnte, war ihr Fokus. Christopher war nett und er konnte wahrscheinlich sogar mit einem Stein ein Gespräch führen, aber er tat es von seinem Standpunkt aus und nahm seine Umwelt nicht so bewusst auf. Connor hingegen setzte umgekehrt an. Sein Blick war nach außen gerichtet, wenn er mit mir sprach. Auf mich. Ich fand es verwirrend, beruhigend und aufwühlend zugleich, wenn ich daran dachte.
Nachdem ich den Link zu dem recht simplen, aber dafür sicheren Rezept geöffnet hatte, tippte ich ungeduldig. ‚Streich das Öl aus der Zutatenliste, plan eine halbe Tafel Schokolade mehr ein und ich bin dabei.'
‚Perfekt. Dann gehe ich morgen Nachmittag einkaufen.'
Noch während ich überlegte, was ich antworten sollte, trudelte eine zweite Nachricht ein. Dann eine dritte. Und eine vierte.
‚Sag Bescheid, wenn dir sonst noch was einfällt, das wir brauchen könnten.'
‚Und welche Farbe deine Schürze hat. Dann besorg' ich mir eine passende Kochhaube.'
‚Geht's am Freitag so um 17 Uhr bei dir?'
Wieder kam ich mir vor wie in einem Film. Das war kein Date, ich hatte keinen Grund, nervös zu sein – trotzdem blubberte mein Magen als wäre er voll mit Sprudelwasser. Ich hatte noch nie einen Freund und wusste nicht einmal, ob ich einen haben wollte. Bisher kam es mir viel zu anstrengend vor, einem Menschen derart nahe zu sein, ohne die Kontrolle zu verlieren. Als müsste ich inmitten von brennendem Öl ein Glas Wasser auf dem Kopf balancieren – ich hatte zu große Angst vor der Explosion, um das Glas überhaupt in die Hand nehmen zu wollen. Aber vielleicht schmeckte das Wasser gut?
Bestimmend schüttelte ich den Kopf. Instinktjäger waren Einzelgänger und das nicht ohne Grund.
‚Passt' war alles, was ich Connor antwortete. Ein Link mit seiner Adresse folgte, aber ich klickte ihn nicht mehr an, sondern legte mein Handy zur Seite. Als es eine knappe Minute später läutete, zuckte ich erschrocken im Bett zusammen. Schnell setzte ich mich auf, spürte, wie mein Herz seinen Schlag beschleunigte und mein Hals trocken wurde. Es war nicht Connor, der mich anrief.
Cristal hatte bereits zum nächsten Stück angesetzt, diesmal in einem lebhafteren, schnellen Tempo, das nicht zur späten Uhrzeit passte, aber die Musik drang immer weiter in den Hintergrund, als ich das Handy an mein Ohr hielt.
„Dad?", fragte ich ungläubig in den leeren Raum hinein.
„Hallo, Xenia, ich hoffe, ich hab dich nicht aufgeweckt. Aber es tut gut, endlich deine Stimme zu hören." Ich wollte zu hundert Prozent davon überzeugt sein, dass er es tatsächlich war, aber es fühlte sich zu surreal an. „Wie geht es dir?"
„Mir geht's gut!", platzte ich etwas zu laut heraus, bevor ich mich einbremsen konnte und hatte keine Ahnung, wo ich diese Energie hernahm. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. „Also ähm, ja, derweil ist es gut. Aber ich freu mich, wenn du wieder da bist."
„Ich mich auch, das kannst du mir glauben. Der ganze Zirkus hier ist", seufzend brach er ab und ich stellte mir vor, dass er die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte. Sein typischer Blick in so einem Moment. „Es ist anstrengend. Aber wenn es dir gut geht, fühle ich mich besser."
Mir fielen die Gespräche mit Leya und Jay ein und wieder fand ich, dass ich zu wenig Infos hatte. Vielleicht sollte ich dem Psychiater zuliebe auch nach dem Jagd-Mythos und nach Träumen fragen, aber zuerst musste ich für mich versuchen, etwas Licht in den Nebel zu bringen. „Kannst du mir nicht sagen, wo du gerade bist?"
„Es ist sicherer für dich, wenn du weniger weißt."
„Aber warum?" Diesmal wollte ich mich nicht so schnell abwimmeln lassen, auch wenn es mich Mut kostete und mein Herz immer noch in kurzen Abständen schlug. Ich war nervös, auch wenn ich nicht wusste, was ich befürchtete. Eigentlich hatte ich gelernt, dass ich bei meinem Vater oft in Sackgassen landete, gegen dicke Mauern stieß und daher hatte ich mir abgewöhnt, zu viel nachzuhaken.
Wahrscheinlich war er deshalb etwas irritiert von meiner Frage und hielt kurz inne. „Ich kann dir gerne davon erzählen, wenn ich zurück bin. Aber derweil ist es besser so. Solange du bei Jay und Leya bist, bist du in Sicherheit. Je sicherer du bist, desto besser kann ich mich auf meine Arbeit hier konzentrieren und desto schneller kann ich wieder nach Hause kommen."
Ich war kurz davor, ihn mit einer schnippischen Antwort zu ärgern. Wenn ihm meine Sicherheit so wichtig war, warum hielt er mich nicht gleich in einem riesigen Turm ohne Türen gefangen wie Rapunzel? Aber einen Streit zu provozieren, war sinnlos.
Stattdessen seufzte ich nur. „Ich hätte einfach gern ein bisschen mehr Antworten. Ich bin schon achtzehn und trotzdem fühle ich mich noch wie ein kleines Kind, wenn du so mit mir redest."
„Das verstehe ich. Wenn ich wieder da bin, höre ich mir gerne all deine Fragen an, aber momentan ist die Lage zu angespannt." Ein paar Sekunden lang sprach niemand von uns ein Wort. Die Stille war lauter als Cristals Cellospiel, das ich nur dumpf im Hintergrund wahrnahm. „Am liebsten würde ich dich aus dem Ganzen raushalten, verstehst du? Du bist meine Tochter und als ich dich bekommen habe, habe ich die Verantwortung auf mich genommen, mich um dich zu kümmern und dich zu beschützen."
„Meine Mutter hat diese Verantwortung aber nicht sehr ernst genommen." Diesen Satz konnte ich mir nicht verkneifen. Auch wenn ich nicht sauer auf sie war und ich immer noch keine Lust hatte, einen Streit anzuzetteln, wollte ich das Argument meines Vaters schmälern.
„Du weißt, dass das nichts damit zu tun hat, Xenia. Deine Mutter hat andere Prinzipien."
„Na gut." Ich gab schneller nach als ich mir vorgenommen hatte und fühlte mich so machtlos als wäre ich zehn Jahre jünger. „Weißt du denn zumindest, wie lange du noch weg bist?"
„Nicht genau. Aber ich melde mich wieder bei dir, sobald ich kann."
Ich nickte, bis mir einfiel, dass er mich nicht sehen konnte.
„Es tut mir leid. Ich hoffe, du hasst mich deshalb nicht vollkommen."
„Nicht vollkommen", gab ich zurück und mein Vater schnaubte amüsiert.
„Schlaf gut, Nia. Ich hab dich lieb", verabschiedete er sich mit ruhiger, müder Stimme.
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Frohe Ostern! Ich hoffe, ihr genießt den Tag, mit euren Familien, Freunden oder sonst irgendwie ^^
Beim Schreiben dieser Szene hatte ich die ganze Zeit Celloklänge im Ohr, allerdings ohne wirklich Musik zu hören :) Ab und zu helfen mir Songs, in eine bestimmte Stimmung zu kommen, aber grundsätzlich schreibe ich an Instinktjäger ohne Geräuschkulisse.
Wie ist das bei euch? Schreibt ihr gerne mit Musik?
- knownastheunknown -
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