05
Cristal war schon bei der Schulausstellung – Christopher hatte sie vor über einer Stunde abgeholt – und Jay würde nachkommen. Meine Vermutung war, dass er immer noch in der Klinik nach dem Buch mit Die Jagd suchte. Oder nach irgendetwas, das damit zu tun hatte. Aber ich hatte Leya nicht gefragt, wieso er nicht mit ihr gemeinsam nach Hause gekommen war, und ich würde es ganz sicher auch nicht tun.
Es dauerte eine viertel Stunde, um zu Fuß vom Haus der Aarens zu der Schule zu gelangen und es war ein kalter, windiger Abend, sodass meine Wangen bereits nach fünf Minuten unangenehm kribbelten. Nun standen wir vor dem Gebäude und ich starrte es nachdenklich an. Die weiße Fassade bröckelte stellenweise bereits ab und sah heruntergekommen aus. Der Weg zur Schule war von gepflegten Sträuchern gesäumt, deren Zweige mit Frost überzogen waren. Ich war kein großer Fan von Winter, doch dieser Anblick hatte etwas Beruhigendes. Gleichzeitig musste ich dem Drang widerstehen, einen der filigranen Äste abzubrechen und die fast zu perfekten Frostfiguren kaputt zu machen.
„Na dann wollen wir mal sehen, was sie auf die Beine gestellt haben." Leyas Stimme wurde vom Wind weggetragen und ich konzentrierte mich, um sie zu verstehen. Ich antworte bloß mit einem Nicken und zog mir meinen Mantel übers Kinn, um die Kälte zu vertreiben, die der beginnende Sturm mit sich brachte. Dennoch zitterte ich, während wir uns dem Eingang näherten.
Von hier draußen schien es, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Die Schule war tot.
Umso härter traf mich der Kontrast, als Leya die Tür öffnete. Musik, Stimmen und Wärme strömten mir entgegen und ich fühlte mich überrumpelt. Es wurde gelacht, Gläser klirrten und die Gerüche von alten Mauern, Wein und Parfum vermischten sich zu einer einzigen Duftwolke. Kaum eine Sekunde, nachdem wir den Raum betreten hatten, wurde Leya von einer überglücklich grinsenden Frau angesprochen und in eine Umarmung gezogen. Ich hörte, was sie sagte, doch die Worte sickerten durch mein Hirn wie Wasser durch ein Sieb. Es war, als wäre ich aus der Realität heraus geradewegs in eine Traumwelt spaziert.
Mein Blick schnellte durch den Raum, um ja jedes Detail zu erfassen und ich atmete tief durch. Allein hier in der Eingangshalle umringten circa dreißig Leute in kleinen Grüppchen die Stehtische und unterhielten sich ausgelassen. Auch Getränke gab es reichlich und es schien, als seien die Bilder, die die Wände zierten, mittlerweile nur noch zweitrangig. Vielleicht nutzten all die Leute die Ausstellung auch nur als Ausrede, um sich zu betrinken und den neusten Klatsch zu verbreiten.
Ich machte einen Schritt nach rechts, bevor mich eine Horde an zehnjährige Mädchen niedertrampeln konnte und die Lücke, die zwischen Leya und mir entstanden war, schloss sich erstaunlich schnell, als eine neue Gruppe Eltern eintrudelte. Die blonde Frau mit den Creolen-Ohrringen warf mir einen entschuldigenden Blick zu, doch ich lächelte sie an. Ich konnte ja schwer verlangen, dass sie rund um die Uhr meine Hand hielt.
Wenn ich mich an öffentlichen Orten aufhielt, wo ich mit vielen fremden Menschen konfrontiert wurde, war meine liebste Strategie, mich irgendwie von ihnen zu distanzieren. Nach all den Jahren war es fast, als könnte ich einen Schalter umlegen und einen Schritt zurücktreten. Raus aus der Wirklichkeit. Ich durfte einfach nicht zu viel nachdenken, denn wenn ich anfing, die Energie zu spüren, die hier so konzentriert vorhanden war, auf einem Silbertablett serviert, dann würde ich den Verstand und schließlich auch die Kontrolle verlieren. Nicht denken. Machen.
Die beste Medizin gegen Gedanken waren Beschäftigungen. Also quetschte ich mich zwischen den Stehtischen hindurch, ging entschlossen einen Gang entlang und schnell fand ich mich im Turnsaal wieder, der ungefähr dreimal so groß war wie der Eingangsbereich. Hier hatte man auch eine Bühne aufgebaut, auf der vermutlich gerade die Schulband performte, und immerhin waren einige Köpfe den Kunstwerken zugewandt.
Ich fühlte mich leichter, als ich den blonden Jungen erkannte, der gerade ein Glas Rotwein an seine Lippen führte. Ein bekanntes Gesicht zu finden, tat gut und zum ersten Mal fragte ich mich, wie alt Christopher war. Durch seine dummen Sprüche wirkte er nicht besonders erwachsen, doch die Art, wie er nun in weißem Hemd, schwarzen Jeans und mit ordentlicher Frisur dastand und selbstbewusst in der Öffentlichkeit Alkohol trank, machte ihn älter. Hinzu kam der Schatten eines nicht frisch rasierten Bartes, der als einziges sein herausgeputztes Erscheinungsbild störte.
Ohne groß darüber nachzudenken, ging ich auf ihn zu, einfach um mich nicht mehr so verloren zu fühlen und als er mich bemerkte, hob er die Augenbrauen. „Na, Cousinchen? Hast du's dir inzwischen überlegt?" Demonstrativ bot er mir sein Weinglas an.
„Wird die erste Frage, wenn wir uns sehen, jetzt immer sein, ob ich etwas trinken will?"
„Wäre möglich." Er grinste und das machte ihn mir sofort sympathischer. Ich mochte Leute, die man leicht zum Lachen bringen konnte. Das gab einem immerhin das Gefühl, nicht ganz unerwünscht zu sein.
„Dann wird die Antwort jedes Mal Nein, danke lauten."
„Wie du meinst." Er zog erneut die Augenbrauen hoch und leerte dann das Glas. „So talentiert Cristal auch ist – die größte Kunst heute Abend ist, dass noch kein einziger Tropfen Rotwein auf meinem Hemd gelandet ist."
„Ich bin talentiert? Sag das ruhig noch mal", tauchte plötzlich Cristal hinter mir auf.
„Wenn du nicht talentiert wärst, wäre ich nicht hier."
„Du bist hier, weil es Wein gibt."
„Und weil du talentiert bist." So wie er es sagte, war es nicht seine Meinung. Es war ein Fakt.
Cristal schloss die Augen und atmete tief ein, als würde sie das Kompliment in sich aufsaugen wollen. „Also schön. Noch einmal."
„Du bist talentiert."
„Und noch einmal."
„Du. Bist. Talentiert."
„Danke, das reicht fürs Erste. In circa einer Stunde hol ich mir Nachschub für mein Ego." Christopher streckte die Hand aus und war kurz davor, ihre perfekte Hochsteckfrisur zu berühren. „Wag es ja nicht!"
„Okay", antwortete er bloß und ehe ich es realisierte, wuschelte er mir so wild durch die Haare als hätte er Zuckungen, weil er in eine Steckdose gegriffen hatte, und ich erstarrte etwas erschrocken wegen der unerwarteten Berührung. Jetzt war ich wohl jetzt diejenige, die elektrisiert aussah, aber ich fasste mich schnell wieder.
„Danke", murmelte ich sarkastisch und versuchte, mir eine Strähne aus dem Gesicht zu pusten.
„Immer wieder gerne. Also, Xenia, kommen wir zum eigentlichen Thema: Welches gefällt dir am besten?"
Perplex sah ich ihn an, bis mir bewusst wurde, dass er über die Bilder sprach, von denen ich noch kein einziges tatsächlich betrachtet hatte. Wahrscheinlich bemerkten er und Cristal das auch, aber ich ließ meine Augen auf der Suche nach einer Antwort schnell durch den Raum schweifen. Hängen blieb ich bei dem Werk, das direkt hinter Christopher an der Wand hing. Ein kleiner Junge, der in einem Sandkasten saß und einen Eimer umklammert hielt. Es war eine Bleistiftzeichnung und sah ziemlich simpel aus, vielleicht würde man es auch eher als Skizze bezeichnen, aber ich vermutete, dass trotzdem einiges an Arbeit dahinter steckte.
Ähnlich wie mit Musik konnte ich mit Kunst wenig anfangen, wusste nichts darüber und war alles andere als talentiert darin. Ich hatte noch nie allzu große Lust dazu verspürt, mich stundenlang über ein leeres Blatt Papier zu beugen und es anzustarren, bis ich womöglich eine Idee bekam, die ich ansatzweise umsetzen könnte. Doch die Zeichnung vor mir war nur eine von vielen, was deutlich zeigte, wie viel Geduld Cristal haben musste.
„Das ist toll." Endlich deutete ich in Richtung Wand, damit nicht noch mehr Sekunden zwischen Christophers Frage und meiner Antwort verstrichen.
Nun schnaubte er amüsiert. „Kein Wunder, dass dir der süße, kleine Fratz gefällt. Schade, dass er mittlerweile ein bisschen gewachsen ist und sich eher selten im Sandkasten vergräbt – naja, das wär wohl auch nicht gerade angenehm, wenn Sand in den Gips kommt."
„Moment, du meinst, das ist Connor?"
„Bingo. Die Gewinnerin hat die Wahl zwischen folgenden Preisen: Rotwein, Weißwein, Sekt, Bier oder – ich als Experte rate allerdings stark davon ab – Wasser."
„Wasser klingt gut." Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zuckten. Doch mein Blick glitt zurück auf das Bild, während Christopher schon dabei war, eine Streiterei mit Cristal anzufangen.
Irgendetwas an diesem Bild stimmte nicht. Aber wahrscheinlich sah ich Geister. Was sollte daran bitte falsch sein? Ich war Connor erst einmal begegnet, hatte kaum ein Wort mit ihm gewechselt und vor allem hatte ich niemals Kinderfotos von ihm gesehen. Doch das Gefühl war da, es krabbelte durch meinen Bauch und nistete sich ein wie ein Parasit. Auf Cristals Zeichnung hatte Connor etwas längeres, strubbeliges Haar, das um einen Frisörbesuch bat, trug eine Windjacke und drückte sich den Eimer an die Brust. Er saß im Sand, die Beine und Füße sah man durch die Perspektive kaum, denn sie wurden vom Rand der Kiste verdeckt. Den Hintergrund hatte Cristal mit einer Wiese und schemenhaften Wolken im Himmel angedeutet.
„Olivers Telefonnummer? Die wäre bestimmt leicht zu organisieren."
Durch diesen Satz gelangte ich halbwegs in die Realität zurück, kehrte der Wand bewusst den Rücken zu und starrte stattdessen Cristal an. Sie verschränkte nun die Arme vor der Brust und sah Christopher abschätzig an. „Halt die Klappe."
„Der will auf jeden Fall was von dir."
„Nur weil er mich begrüßt hat?"
„Und weil er fast sabbert, wenn er mit dir redet. Schau mal, da drüben ist er." Christopher hatte nie aufgehört zu grinsen und ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch im nächsten Moment wurde seine Miene noch strahlender, bis Cristal ihn boxte. „Hey, Oliver- Aua!"
„Was zur Hölle tust du da?", zischte Cristal wie eine Katze, die man in die Badewanne geworfen hatte. „Oh Scheiße, hat er dich gehört? Ich verschwinde lieber. Falls er rüberkommt und nach mir fragt, sag ihm, dass ich meine Mum suche oder sowas."
„Die kleine Crissy will zu Mami?", zog er sie sofort auf, während Oliver auf uns zukam.
„Definitiv lieber zu Mami als zu Oliver." Cristal wirbelte herum, zückte noch im Gehen ihr Handy und tat wohl so, als würde sie telefonieren. „Ja, hey, Connor. Wo steckst du?" Vielleicht tat sie nicht einmal bloß so, sondern das Schicksal war auf ihrer Seite. Manche Leute schienen das Glück mit Löffeln zu fressen – ich hingegen fühlte mich meistens allergisch dagegen.
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Mit diesem etwas weniger düsteren Kapitel wünsche ich euch einen schönen Sonntag! Genießt das gute Wetter (wenn es bei euch auch schon so frühlingshaft ist) :3
- knownastheunknown -
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