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Energisch zog Cristal den Stuhl neben mir zurück und ließ sich darauf nieder. „Na dann. Macht ruhig weiter mit eurer kleinen Therapie. Wenn du noch jemanden brauchst, dem du erzählen kannst, wie du dich fühlst, wenn du das Leben von unschuldigen Menschen zerstörst, kannst du dich gerne melden. Mich würde das brennend interessieren."
„Du willst wissen, wie es sich anfühlt?" Ich schluckte, reckte ihr aber kühn das Kinn entgegen. Schnell nahm ich meine Hände vom Tisch, ließ sie in meinen Schoß sinken und rieb über die nun kribbelnden Fingerknöchel. Gleichzeitig begannen meine Schläfen zu schmerzen, als würde mir jemand mit Nadeln in den Kopf stechen wie einer Voodoopuppe.
„Ich warte." Mir war gar nicht aufgefallen, dass Cristal mich auffordernd anstarrte – und auch Jay wirkte interessiert. Aber gleichzeitig hatte die Blondine ihre Sitzposition verändert, sodass sie jeden Moment aufspringen und losrennen könnte. Dass ihr das viel nutzen würde, bezweifelte ich.
Ich zwang mich dazu, nicht zu viel nachzudenken und schloss die Augen. „Es ist, als wärst du wieder ein kleines Kind und dein Vater würde dich, nachdem du dir beim Hinfallen die Knie blutig geschlagen hast, in den Arm nehmen. Du sitzt auf seinem Schoß und er flüstert dir zu, dass dir nichts passieren kann. Dass alles gut ist und dich niemand verletzen wird. Schmerz existiert nicht mehr oder wird zumindest unwichtig. Er beschützt dich vor der Welt. Du fühlst dich wie ein kleines Kind, aber trotzdem so stark und unbesiegbar, dass du dir wünschst, dieser Zustand hört nie auf. Dadurch, dass du es spürst und sie erfährst, diese Wärme, wird dir erst bewusst, dass du immer frierst, wenn du da draußen bist. In Wahrheit bist du allein und schwach. Die Welt ist rau und bei jedem Schritt schürfst du dir die Haut auf und blutest.
Es ist, als würdest du nach Monaten voller Dunkelheit und Kälte zum ersten Mal Sonnenlicht spüren und atmen. Als hättest du dein ganzes Leben lang etwas nachgejagt, ohne es zu wissen, aber jetzt, wo du es so unverhofft gefunden hast, kannst du nicht aufhören, daran zu denken. Es ist-"
Gold.
Ich konnte nicht anders, ich hatte es gedanklich immer schon als ein goldenes Gefühl beschrieben. Aber das klang ausgesprochen dann wohl doch etwas zu viel und ich hielt den Mund. Ich hatte schon genug gesagt. Aufmerksam blinzelte ich Cristal und Jay entgegen, die mich beide ansahen, als hätte ich vor ihren Augen eine ganze Wassermelone verschluckt. Zu meiner Überraschung merkte ich, dass die Kopfschmerzen und der Juckreiz auf meinen Händen nachgelassen hatten. Seltsam. Eigentlich hätte ich erwartet, dass alles schlimmer werden würde, wenn ich so direkt darüber nachdachte und es aussprach.
Irgendwann veränderte sich Cristals Gesicht. Ihre Augenbrauen zogen sich enger zusammen und ihr Blick verlor etwas von dem Zorn und der Bissigkeit, die in ihr schlummerten. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gedacht, sie sah plötzlich besorgt aus.
Doch im nächsten Augenblick räusperte sich Jay und ihre Miene versteinerte, während sie sich ihrem Vater zuwandte. „Danke, Xenia."
Für meinen Geschmack strahlte seine Stimme etwas zu viel Enthusiasmus aus. Andererseits war ich dankbar für diesen leichten Unterton – er glich etwas von der Schwere aus, die sich in der Küche ausgebreitet hatte, seit ich mit meinem Monolog begonnen hatte. Die Luft war voll von Dramatik. Es kam mir beinahe lächerlich vor, vor allem, da es normalerweise gar nicht meine Art war, so eine Show abzuziehen. Und es war auch nicht die Art des Psychiaters, so viel Unruhe auszustrahlen.
„Ich habe eine Theorie." Das erklärte seine Euphorie. „Du kennst die alten Sagen, oder? Sie sprechen meistens von Seelen."
Ich nickte zustimmend. Seelenlose, Seelenräuber, Seelenfresser – so bezeichneten sie mich gerne.
„Nun, wissenschaftlich gesehen halte ich nicht viel von der Idee einer tatsächlichen Seele. Für mich war der Begriff immer zu vage." Er zuckte mit den Schultern. „Die alten Ägypter denken, dass die Seele nach dem Tod im Leichnam bleibt – das Christentum sagt, die Seele steigt in den Himmel auf. Früher hat man geglaubt, die Seele sitzt in den Gedärmen, dann im Herzen und heute ist eine beliebte Antwort, dass sie sich im Nervensystem befindet. Aber wer kann denn sagen, dass es die Seele überhaupt gibt? Wie soll man das beweisen? Du siehst also, dass es wenig bringt, hier nach einer eindeutigen Definition zu suchen. Im Laufe der Geschichte hat sich der Glauben der Menschheit immer wieder verändert und das wird er vermutlich in Zukunft weiterhin. Die Suche nach einer klaren Antwort ist meiner Meinung nach unendlich und reine Spekulation." Die Worte kamen so schnell, dass ich Mühe hatte, alle zu begreifen, aber ich wurde automatisch von Jays Aufregung angesteckt. Vorsichtig linste ich zu Cristal hinüber, die ihn neugierig ansah. „Allerdings wird in dieser Geschichte – Die Jagd – erzählt, dass ein Instinktjäger die Seele eines Menschen gespalten hat und dieser daraufhin einen Traum hat, in dem er alles als schwarz und kalt wahrnimmt. Die Kälte, von der du gesprochen hast, hat mich daran erinnert. Die Jagd ist als Mythos verpackt und nicht sehr präzise erklärt, aber immerhin irgendwas. Wenn ich einen Zusammenhang zwischen den Träumen und der Infektion herstellen könnte, dann könnte das eine Diagnose so viel leichter machen. Viele meiner Patienten haben Schlafstörungen, aber sie wollen kaum über Träume reden oder können sich nach dem Aufwachen nicht daran erinnern. Franklin hat es getan." Wieder schüttelte er nachdenklich den Kopf. „Ich bin mir im Moment nicht ganz sicher wo, aber das Buch mit der Geschichte muss irgendwo hier sein. Und es muss mehr dahinterstecken. Irgendeine Bedeutung, ein Detail, das ich noch nicht kenne. Ich wünschte, mir würde der Titel oder der Autor oder zumindest die Farbe des Buches einfallen. Oder habe ich es in der Klinik? Verdammt. Am besten ich suche gleich danach."
Die Jagd sagte mir nichts und ich kam mir ein wenig dumm vor. Sollte ich nicht über solche Dinge Bescheid wissen? Ich war wohl alles andere als gut über meine Spezies informiert. Sofort wunderte ich mich, wieso Jay sich überhaupt bei mir bedankte, immerhin wäre er früher oder später auch ohne das Gespräch mit mir darauf gekommen, dass in dieser Geschichte von Träumen die Rede war.
„Dad, es ist schon halb zehn vorbei. Willst du um die Zeit wirklich noch außer Haus?", bremste Cristal ihren Vater, der aufgesprungen war und soeben nach den Autoschlüsseln griff, die auf der Anrichte lagen. „Wann bist du heute aufgestanden?"
„Ich-" Er überlegte und sah verwirrt von seiner Tochter zu dem Schlüsselbund. In dieser einzigen Bewegung bekam er ein großes Stück Kontrolle zurück, gleichzeitig verlor er Energie.
„Wenn du jetzt in die Klinik fährst, kommst du vor Mitternacht nicht mehr nach Hause. Das wissen wir beide. Und Mum weiß es auch." Langsam ging Cristal zu ihrem Vater und nahm ihm den Schlüssel aus der Hand. „Du solltest schlafen gehen, dich ausruhen. Immerhin ist Sonntag. Du kannst morgen früh genug in die neue Woche starten."
Ich verharrte in meiner Position am Küchentisch und verhielt mich so unauffällig wie möglich. In diesem Moment begriff ich erst so richtig, wie sehr ich in die Privatsphäre dieser Familie gekracht war. Die meiste Zeit über verhielt ich mich zwar ruhig und versuchte, wenige Umstände zu machen, aber ich war trotzdem hier. Ich belegte das Gästezimmer, ich aß mit ihnen an einem Tisch, ich sah dabei zu, wie sich Cristal um ihren Vater sorgte, der wiederum versuchte, Menschen zu helfen, die von Instinktjägern in den Suizid getrieben wurden. Ich war ein Eindringling.
Konnte ich etwas tun, um das geradezubiegen? Ich war Teil der Wesen, die Menschenleben ruinierten. Vielleicht rechtfertigte das alles Cristals Hass auf mich. Würde ich mich an ihrer Stelle nicht genauso fühlen?
ҩҨҩ
„Ich würde gern in zehn Minuten losfahren. Schaffen wir das?", fragte Leya, die zu mir ins Gästezimmer gekommen war. Sie trat vor den Spiegel an der Wand und begann, ihre silbernen Creolen-Ohrringe anzulegen. Eigentlich fand ich immer, diese überdimensionalen Ringe sahen lächerlich aus, doch an Leya wurden sie zu einem Zeichen von Eleganz.
Ich lag breit ausgestreckt auf meinem Bett und war bereit, um zu Cristals Ausstellung zu gehen. Leya hatte darauf bestanden, dass ich mitkam, auch wenn es Cristal vermutlich nicht so recht war. Ein letztes Mal zupfte Leya ihr weinrotes Kleid zurecht.
„Klar. Ich bin so weit."
Womöglich hätte ich mich lieber hier im Haus verkriechen sollen. Große Menschenmengen machten es mir nicht leichter, den Instinkt zu unterdrücken. Aber ich hatte es satt. Vielleicht lag es an Cristal, vielleicht aber auch an mir selbst. Während der letzten zwei Wochen hatte ich meinem Leben vor dem Umzug nachgetrauert, in Selbstmitleid gebadet und hatte kaum das Haus verlassen. Es war vielleicht riskant oder sogar leichtsinnig, doch ich schaffte es auch, in die Schule zu gehen, ohne die Nerven zu verlieren und jemanden zu verletzen. Ja, es kostete mich viel Kraft, aber es war machbar.
Seit ich bei den Aarens wohnte, dauerte der Weg zu meiner Schule fünfundfünfzig Minuten mit dem Bus. Meistens saß ich dabei in der Mitte des Fahrzeugs und starrte stur aus dem Fenster, um nicht von der Energie darin überwältigt zu werden, aber morgens um fünf Uhr vierzig stiegen zum Glück sowieso nicht allzu viele Passagiere in den Bus und die, die es doch taten, waren so müde, dass sie nicht allzu unruhig wirken. Da war meine Heimreise um einiges mühsamer und chaotischer, aber auch das hatte ich bisher geschafft. Dann folgte ich meiner Routine: entschlossen ging ich zu meinem Spind, zog mich um, dann huschte ich durch einen kleinen Gang, den morgens kaum jemand benutzte, vorbei am Biologiesaal sofort weiter in die Klasse und setzte mich neben Greta, die meistens schon da war und mich nur mit einem Lächeln begrüßte, weil sie in ein Buch vertieft war. Sobald der Unterricht begann und ich mich auf ein abstrakteres Thema einlassen konnte als die Realität, war es einfach.
Mein Leben vertrug Spannung nicht allzu gut, aber heute traute ich mir zu, ein wenig Abwechslung zu schaffen. Nur zuhause rumzusitzen, tat mir auch nicht gut. Ich kam mir vor wie ein kleines Feuer – je mehr Gelegenheit ich hatte, zu wachsen, desto größer war das Risiko, dass ich irgendwann dieses Haus in Brand stecken würde. Besser, ich konnte zur Abwechslung auch durchatmen und nasse Füße bekommen, in dem ich durch Regenpfützen stapfte. Zu viel Spannung war schlecht, aber überladen konnte ich auch werden, wenn ich das Gefühl hatte, festzusitzen.
Ich wollte meinen neuen Alltag nicht hinter Gittern verbringen. Es würde schon alles gut gehen.
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Na, ob das wirklich gut geht? Habt ihr Theorien, böse Vorahnungen oder Visionen, was passieren könnte?
Egal, ob uns Chaos oder ein entspannter Abend erwartet - so oder so wünsche ich euch heute mal einen schönen Sonntag <3
Bis nächste Woche!
- knownastheunknown -
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