Kapitel 4
»Alles in Ordnung mit dir, Suena? Du verbringst momentan mehr Zeit in der Menschenwelt als üblich.«
Suena blickte zum Sandmann hinauf. Sein misstrauischer Blick entging ihr dabei nicht. »Ja, alles in Ordnung«, antwortete sie, bemüht sich nichts anmerken zu lassen.
Genau jetzt wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber irgendetwas bremste sie. Es war ihr ein inneres Bedürfnis, sich erst noch bei Will für ihren ruppigen Abgang zu entschuldigen. Als sie sich nach ihrer plötzlichen Flucht beruhigt hatte, hatte es ihr nämlich unendlich leidgetan. Er hatte schließlich gar nicht so schlimm wie andere reagiert und dass er über ihr Geständnis etwas verwirrt gewesen war, konnte sie ihm nicht verübeln, wo sie ihre Arbeit doch im Geheimen verrichteten. Außerdem hätte sie es ihm auch mit wesentlich weniger Schlafsand beweisen können.
Es war ihr wichtig, dass er die Wahrheit kannte und ihr glaubte. Genauso wichtig war es ihr, dass er ihr verzieh. Zwar würde er sich bald an nichts mehr erinnern, aber sie wollte ihr Gewissen erleichtern.
»Du würdest es mir doch sagen, wenn es irgendwelche Probleme gibt, nicht wahr?« Der Sandmann lehnte sich über das Geländer der großen Sanduhr und sah zu ihr hinunter.
Sie kam sich immer so winzig vor, wenn er das tat. »Natürlich«, presste sie hervor und stülpte ihren Beutel über den goldenen Hahn. Das leise Rieseln des Sandes unterstrich die unangenehme Stille, die zwischen ihnen herrschte. Als er voll war, zog sie ihn vom Hahn und band ihn an ihren Gürtel.
Der Sandmann seufzte. »Sollte dich etwas anderes bedrücken, kannst du jederzeit zu mir kommen, das ist dir doch klar, oder?«
»Ja, Vater. Mir geht es gut. Es ist alles in Ordnung.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich muss los.«
Er winkte ihr zum Abschied und machte es sich wieder auf seinem Thron bequem, wo er weiter Sandkörner formte, damit ihr Vorrat nie zu Ende ging.
***
Unruhig trommelte sie mit den Fingern auf dem kleinen Tisch in Wills Schlafzimmer herum. Es dauerte nicht lange, bis er sich unruhig hin und her wälzte.
Da sie vorerst beschlossen hatte, dass keine Gefahr von ihm ausging, blieb sie auf dem Stuhl sitzen. Sollte er es sich spontan anders überlegen, würde sie erneut einfach verschwinden.
Sie räusperte sich.
»Wenn du mich umbringen willst, dann mach es das nächste Mal weniger schmerzhaft«, sagte er gähnend. Dann knipste er das Licht an und grinste belustigt, als er in ihr beschämtes Gesicht blickte.
Suena war froh, dass er zu Scherzen aufgelegt war und es ihr nicht übel nahm, obwohl er sehr müde aussah.
»Es tut mir leid. Ich habe vielleicht etwas übertrieben reagiert«, gestand sie und fummelte mit ihren Händen verlegen in ihrem Kleid herum.
Will nickte bedächtig. »Ich wäre unter gewissen Umständen dazu bereit, das Ganze zu vergessen.«
Als sie ihn fragend ansah, rutschte er ein Stück zur Seite und klopfte mit der Hand auf die freie Stelle neben sich.
Schockiert öffnete sie ihren Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut. Sie konnte ihn nur anstarren und versuchte ihn zu lesen, weil sie nicht wusste, ob er noch immer scherzte.
Er brach in schallendes Gelächter aus. »Schon gut«, er schnappte nach Luft, »für den Anfang reicht es auch, wenn du mit dem Stuhl etwas näher kommst.«
Suena spürte eine ungewohnte Hitze in ihrem Gesicht und etwas wie Enttäuschung machte sich in ihr breit. Zögerlich stand sie auf und zog den Stuhl zum Bett, während Will sie kaum aus den Augen ließ. Ein unangenehmer Kloß bildete sich in ihrem Hals, den sie mühsam hinunterschluckte.
Will löste seinen Blick einen Moment von ihr, um aus dem Nachttisch ein Kartenspiel zu ziehen. »Kennst du das?«
Suena schüttelte den Kopf und hörte geduldig zu, während er ihr die Spielregeln erklärte. Sie brauchten keine Worte, denn sie verstanden sich auch so. Nach und nach entspannte sie sich und als sie das zweite Mal hintereinander gewann, konnte sie ihm sogar ein kleines Lächeln schenken.
Als Wills Augen schließlich immer kleiner wurden, zog sie ihm die Karten aus der Hand. »Du solltest jetzt besser schlafen.«
Er gähnte. »Mhm. Musst du nie schlafen?«
Sie schüttelte erneut den Kopf und stellte den Stuhl zurück. »Ich warte noch bis du eingeschlafen bist, dann bringe ich dich in die Tiefschlafphase und verschwinde.«
»Kommst du morgen wieder?«, murmelte er schläfrig.
Sie dachte nach. Und als sie ja sagen wollte, begann der Sand in der Sanduhr bereits zu rieseln. Lächelnd hauchte sie ihm den glitzernden Schlafbringer ins Gesicht. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln und eine unbekannte Wärme durchfloss ihren sonst so kühlen Körper, während sie den schlafenden Menschen betrachtete.
Ohne groß darüber nachzudenken, stieg sie zu ihm in das Bett - sorgsam darauf bedacht ihn nicht zu berühren. Aber als ihm wieder eine Strähne seines Haars in die Stirn fiel, konnte sie nicht widerstehen, sie vorsichtig zurückzustreichen. Und als sie ihn erst einmal berührt hatte, schien die Distanz zwischen ihnen vollständig gebrochen zu sein. Auf wundersame Weise zog er ihren Körper wie magisch an. Sein Atem kitzelte ihr Gesicht und als er den Arm um sie legte, schmiegte sie sich an ihn.
Stundenlang lag sie so bei ihm, bis der Morgen die Dunkelheit der Nacht vertrieb. Sie konnte sich kaum von ihm losreißen, aber sie wusste, dass sie gehen musste. Sie gehörte nicht in diese Welt und sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Trotzdem hatte sich etwas in ihr verändert. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz: Will war für sie nicht nur irgendein Mensch. Für ihn wollte sie ihr Leben aufgeben.
Ihre Aufgabe.
Ihre Unsterblichkeit.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro