Kapitel 1 (komplett)
„Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe verlassen und beginnen mit dem Anflug auf unseren Zielflughafen“, reißt mich die monotone Stimme der Stewardess aus meinem kurzen Nickerchen, das ich auf der Luftreise von Berlin bis hierher gehalten habe. Verschlafen blinzele ich, unterdrücke ein Gähnen und lockere mit ein einigen Übungen meinen verspannten Nacken.
„Bitte schnallen Sie sich an und bringen, in Vorbereitung auf die Landung, Ihre Rückenlehne wieder in die Senkrechte.“
Den Inhalt der darauf folgenden Worten verstehe ich nicht, da mir die Müdigkeit die Konzentration auf ihre Stimme erschwert. Erst recht bei ihrer. Sie ist eintönig, langweilig und einschläfernd genau wie die meines Chemielehrers, was sehr unvorteilhaft ist, wenn man müde ist. Deswegen bin ich in seinem Fach auch so grottenschlecht und habe jedes Mal aufs neue gestaunt, wenn ich einen Test mit der Note 4 abgeschlossen habe. Er war wahrscheinlich genauso erstaunt.
Ich schaue auf meine weiße digitale Armbanduhr, die ich bereits kurz vor dem Abflug auf die Mitteleuropäische Zeit umgestellt habe. Sie zeigt 13:50 Uhr. Gestern kurz vor achtzehn Uhr nach „Eastern Standard Time” ist meine Maschine in New York abgehoben. Somit bin ich bereits circa vierzehn bis fünfzehn Stunden unterwegs … vorausgesetzt, man berechnet den Weg zum Airport, die Wartezeit in Berlin und die Zeitverschiebung mit ein.
Dass ich auf dem langen Flug zum Umsteigeflughafen nicht eingeschlafen bin, ist meiner Aufregung zu verschulden, die sich direkt wieder in mir ausbreitet, als mir der Grund in den Sinn kommt, weswegen ich in diesem Flieger sitze und diesen weiten Weg auf mich nehme. Von New York über Berlin nach Köln.
Zu einer von vielen neuen Pflegefamilien.
Ich blicke durch das kleine, runde Fenster auf das näher kommende Festland. Alles wirkt wie eine Miniaturwelt. Eine Miniaturwelt, die hoffentlich mein neues Zuhause auf lange Zeit sein wird.
Noch wenige Minuten, dann habe ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen! Fliegen ist zwar spannend und verbunden mit einem kleinen Adrenalinkick, trotzdem fühle ich mich auf dem Land wohler und sicherer.
Obwohl ich im Flugzeug sitze und mein Ziel bereits vor Augen erkenne, kann ich noch immer nicht fassen, dass das hier real – echt - ist. Es fühlt sich nach wie vor unrealistisch an wie in einem der vielen Träume, die im Grunde immer denselben Inhalt haben:
Auf verschiedenste Weise begebe ich mich zu einer neuen Pflegefamilie, die mich auch behalten möchte. Trotz der Hoffnung, dass es diesmal gut gehen wird, und der Freude über diese neue Chance, fürchte ich das Kommende. Das hier ist die echte Welt, kein Traum, und in der wollen mich die Familien nicht behalten. Das ist Fakt.
Seit Tagen, Monaten, schwirren mir zu dem Thema gefühlt Millionen Fragen durch den Kopf. So ist das immer vor der Ankunft und ich würde behaupten: Es ist normal. Werden sie mich mögen? Beziehungsweise: Werden sie auch über einen längeren Zeitraum mit mir zurechtkommen und mich mögen?
Klar, wir kennen uns von einigen, vergleichsweise flüchtigen Treffen und vielen Telefonaten.
Bisher sind sie mir sympathisch, doch die beiden Dinge sind belanglos, denn sie können einen nicht einmal ansatzweise auf das gemeinsame Zusammenleben vorbereiten. Aber so ist es bisher immer gewesen und sicherlich wird es da keine Änderung geben.
Jedes Mal derselbe Ablauf mit gleichem Anfang und Ende: Zu Beginn verstehen wir uns gut, sie nehmen mich auf und bereits nach kurzer Zeit wird dies von meiner neuen Familien bereut, da sie mit mir und den damit verbundenen Umständen überfordert sind.
Das Resultat: Ich werde zurück ins Heim gesteckt, bevor die Probezeit um ist. Das nervt gewaltig und es schmerzt jedes Mal aufs neue, besonders wenn ich gedacht habe, dass es endlich ein positives Ende nimmt.
Die genauen Gründe für ihre Entscheidung gegen mich erfahre ich nie und ich werde im Dunklen gelassen. Das nervt gewaltig! Wie soll ich an mir arbeiten, wenn ich den ausschlaggebenden Fehler nicht kenne? Außer man sieht die Erklärung „das Leben mit dir ist uns zu anstrengend” als informativ, dann wurden mir doch hilfreiche Gründe genannt.
Mein persönlicher Tipp: mein psychisches Problem und der Stress, der durch meinen unzuverlässigen Psychologen entsteht, da man ihm hinterher rennen muss, aber ein Wechsel ist damals nicht in Frage gekommen. Bis jetzt …
In Deutschland wird mir voraussichtlich ein neuer zugewiesen ... zumindest hat, laut meines Wissens, Misses Price dafür unterschrieben, auch wenn ich der Meinung bin, dass es bei mir nichts bringt, da ich bisher noch keine großartigen Verbesserungen gespürt habe. Doch ich möchte meinen übrig gebliebenen Verwandten, meine Tante mütterlicherseits und meine Großeltern väterlicherseits, nicht noch mehr Sorgen bereiten, deswegen kooperiere ich.
Aber falls meine neuen Pflegeeltern mich mögen, gibt es da noch ein anderes Problem: Was ist, wenn mich die Töchter von Misses und Mister Price nicht mögen?
Die Antwort ist eigentlich ziemlich leicht: Sollte dies der Fall sein, kann ich direkt im Flieger sitzen bleiben und meine Rückreise antreten.
Da sie ihrer Schulpflicht nachgehen müssen, hat sich bisher nicht die Gelegenheit ergeben, die beiden Mädchen kennen zu lernen. Sie haben zwar momentan Ferien, aber anscheinend wollen es die Price's darauf ankommen lassen. Oder die Mädchen wollen mich nicht kennen lernen. Oder vielleicht wollen sie sich überraschen lassen. Im Grunde spielt es keine Rolle, wieso es bisher zu keinem Aufeinandertreffen gekommen ist. Am Ende zählt nur, ob ich es schaffe, die beiden von mir zu überzeugen - besonders Tamara. Was dahinter steht, kann ich nicht sagen. Vielleicht erfahre ich den Grund oder eben nicht.
Ich zitiere Mister Price: „Wenn du von unseren Töchtern akzeptiert wirst, besonders von Tamara, dann bist du herzlichst in unserer Familie willkommen und wir werden auch die schwierigsten Situationen gemeinsam überstehen.”
Eine weitere, für mich wichtige Frage: Wie soll ich auf der neuen Schule klar kommen, falls ich keine neuen Freunde finde?
Durch mein einzelgängerisches Wesen habe ich nie wirklich viele Leute um mich gesammelt, die ich zu meinen Freunden zähle. Trotzdem würde ich einsam werden, wenn ich niemanden haben würde, wenn man von meiner Pflegefamilie und meiner besten Freundin, die ich nur übers Internet kenne, absieht.
Ich denke, dass der Kontakt zu meiner einzigen, richtigen Freundin von der alten Schule genau wie der spärliche zu den Jugendlichen im Heim abbrechen wird. Aus Amerika werde ich niemanden - von Kim, einer Schulfreundin, abgesehen - vermissen.
„Herzlich Willkommen in Köln“, nehme ich die Stimme aus den Lautsprechern wieder wahr.
Als ich zu dem Fenster schiele, stelle ich erstaunt fest, dass der Flieger bereits gelandet ist und nur noch zu seinem vorbestimmten Parkplatz rollt. Ich schlucke, lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Mein Herz rast vor Aufregung. Wir, meine Betreuerin und ich, sind tatsächlich heil in Deutschland angekommen und werden in wenigen Minuten meiner neuen Familie gegenüber stehen. Es ist zwar nicht das erste Mal, trotzdem zwirbele ich nervös eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger.
„ ... Wir hoffen, Sie bald wieder an Board begrüßen zu dürfen und wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag.” Während vereinzelt Leute klatschen, schnalle ich mich ab, schnappe mein Handgepäck aus dem Fach über mir und verlasse das Flugzeug.
„Sinopa!”
Erschrocken wirbele ich herum. Meine Aufpasserin. Stimmt … die gibts ja auch noch! Sie zwängt sich ziemlich unachtsam durch die Menge und kommt schwer atmend, mit knallrotem Gesicht und in die Hüfte gestützten Händen vor mir zum Stehen.
„Habe ich nicht angeordnet, dass wir zusammen raus gehen?!“ Man hört, wie sie sich leise beschwert und wie sehr sie sich bemüht nicht vor Anstrengung zu keuchen.
„Ich hasse Reisen.”
Natürlich hasst du das, deswegen bist du auch die erste gewesen, die sich angeboten hat, mich auf meinem Weg nach Deutschland zu begleiten. Du hättest sehr gerne in Amerika bleiben können. aber da ich nun mal nicht volljährig bin, brauch ich eine Art Aufpasser. Das an sich ist kein Problem, aber wieso muss gerade Dorith Thomas diese Person sein? Hätte es nicht Hera sein können oder Will?
Danke, Minderjährigkeit.
Danke für die schreckliche Flugbegleitung.
„Tut mir leid“, murmele ich den Flughafen musternd. Er sieht aus wie jeder andere und ist somit nichts Besonderes. Es ist laut, sodass man die Durchsagen kaum verstehen kann. Babygeschrei, Kindergebrüll, Maschinengeräusche und verärgerte Menschen, die mit dem Personal oder anderen Leuten diskutieren. Eine Menge an verschiedenen Gerüchen strömt auf mich ein. Das Spektrum an Düften reicht von dem unangenehmen Gestank von Schweiß bis hin zum köstlich riechenden Burgergeruch. Mein Magen reagiert sofort mit einem hörbaren Knurren. Hoffentlich, darf ich mir in meinem neuen Zuhause etwas Essbares zubereiten und muss nicht erst auf die abendliche Mahlzeit warten.
Langsam trotte ich hinter Dorith her. Dabei realisiere ich mit mit jedem weiteren Schritt und Atemzug: Das hier ist kein Traum. Ich befinde mich wahrhaftig in Deutschland und schreite womöglich in ein komplett neues Leben - wenn es denn endlich einmal klappt.
Klar, mit jeder Familie hat für mich ein neuer kleiner Lebensabschnitt begonnen, aber das hier wird anders … das spüre ich tief in mir. Oder meine Hoffnung ist so stark, dass ich mir dieses Gefühl nur einbilde.
Doch ich ziehe nicht nur zu einer neuen Pflegefamilie, sondern direkt in ein anderes Land mit neue Regeln und einer großteils fremden Kultur. Zwar mag ich Deutschland, aber die Erinnerungen sind mehr negativer als positiver Natur.
Hier hat alles seine Wendung genommen.
Ich schlucke und merke, dass ich in die Vergangenheit abzudriften drohe. Das geschieht oft - zu oft. In diesen Momenten wirke ich auf meine Mitmenschen verträumt oder im schlimmsten Fall verliere ich mich selbst.
Ein Flashback.
Ein unangenehmes Schaudern durchfährt mich bei der kurz aufkeimenden Erinnerung. Wie ich es hasse.
Zum Glück rüttelt mich jemand unsanft am Oberarm und zieht mich zurück in die Gegenwart. Irritiert gucke ich in die grimmigen dunkelgrauen Augen meiner Betreuerin und merke, dass ich scheinbar stehen geblieben bin. Die hochgewachsene Frau trägt ihr schwarz gefärbtes Haar zu einem strengen Dutt, der super ihre Art widerspiegelt. Durch ihre allzeit zusammengezogenen Augenbrauen kommen die Fältchen in ihrem kantigen Gesicht stärker zur Geltung und unterstreichen ihr Alter von Mitte vierzig.
Wortlos stellt sie mir meinen blauen Rucksack und die zwei großen, alten Trolleys vor die Füße.
„Sinopa O’Grath, hör endlich auf ständig und überall zu träumen! Es ist kein Wunder, dass dich nie eine Familie behalten will!“
Autsch - der hat gesessen.
Ich schlucke die deprimierenden Gefühle hinter und betrachte starr den Boden, die Arme verschränke ich schützend vor meiner Brust. Langsam sickert die Bedeutung ihrer Worte in mich.
Nie! Wirklich nie! Ist mir der Grund mitgeteilt worden, wieso sie mich nicht behalten und was sie eigentlich bei einem Leben mit mir so anstrengend finden. Ich habe meine Vermutungen gehabt, alles Spekulationen, von denen ich mir sicher gewesen bin, dass ich richtig liege. Sie bestätigt zu bekommen, tut trotzdem weh.
Es tut deswegen weh, weil es mir zeigt, dass ich keiner Familie wichtig genug geworden bin, um das Ganze mit mir durchzustehen. Ich weiß, meine, wie alle es immer nennen, Verträumtheit kann anstrengend sein, trotzdem hat ein Teil von mir immer gehofft, dass die Aufnahmen nicht daran gescheitert sind.
Ist ein Leben mit mir wirklich so kräfteraubend?
Bevor ich weiter in meine Gedanken abdriften kann, zieht mich Dorith zurück. „Nimm endlich deine Koffer und komm mit!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, geht sie los. Ich schnalle meinen Rucksack um, schnappe die Trolleys und folge ihr schnell, damit ich sie nicht aus den Augen verliere und somit unnötigen Stress verhindere.
Beim Laufen lasse ich meinen Blick über die verschiedenen Menschen wandern. Große und kleine, dicke und dünne, junge und alte. Sie tragen verschiedene Klamotten, haben verschiedene Haarfarben, Frisuren und sprechen verschiedenen Sprachen - wobei die Mehrheit in Deutsch kommuniziert. Dabei kreuzt sich mein Blick mit dem eines Mannes.
Ich erstarre, er ebenfalls.
„Daddy“, wispere ich geschockt.
Er ist vielleicht Mitte zwanzig, trägt ein gelbes T-Shirt mit einem schwarzen Schriftzug, hat fuchsrotes Haar, wie ich, das verwuschelt in alle Richtungen absteht, und seine Augen sind, soweit ich es erkennen kann, hellblau. Der Rotschopf sieht eins zu eins aus wie mein Vater, nur Daddys Haare waren kurz geschoren und seine Augen schokoladenbraun. Seine Lippen bewegen sich, doch natürlich kann ich ihn nicht verstehen.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und in mir zieht sich alles zusammen. Das ist unmöglich!
Wie aus weiter Entfernung bemerke ich, dass ich von einer Frau unsanft angerempelt werde, was eine Kettenreaktion mit sich führt. Durch den unerwarteten Stoß stolpere ich und werfe meinen Koffer um, über den wenige Sekunden später die Remplerin fliegt. Wie durch ein Wunder kann ich mich auf den Füßen halten.
Lauthals beschwert sie sich auf italienisch, doch ich schenke ihr keine weiter Beachtung. Noch immer bin ich in dem Starr-Wettbewerb mit dem Fremden gefangen.
Während die Italienerin sich aufrappelt, verändert sich der Ausdruck in den Augen des Fremden. Dem Schock weicht ein undurchschaubares Pokerface, dem in binnen von wenigen Millisekunden ein hasserfüllter Ausdruck folgt. Sie werden zu Eis und zeitgleich scheint auch die Temperatur um mich herum einige Grade zu sinken.
Sofort spannt sich mein Körper fluchtbereit an, eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und ein kalter Schauer rinnt mir über den Rücken.
Um die Kälte zu vertreiben, reibe ich mir über den Unterarm und unterbreche den Blickkontakt. Konzentriert betrachte ich jeden Krümel auf dem Boden und zwinge mich, meine Aufmerksamkeit auf diesen zu lassen und meinen Kopf nicht zu heben.
Ein total gegensätzliches Gefühlswirrwarr tobt in meinem Körper, liefert sich einen unerbittlichen Kampf. Liebe, tiefe Trauer, Sehnsucht. Doch da ist noch Panik und eine starke Verwirrung, die Unsicherheit mit sich bringt.
Am liebsten würde ich mich in seine Arme werfen und mir vorstellen, dass er mein Dad ist, weil sie sich nun mal so ähnlich sehen. Allein der Gedanke, Daddys Arme noch einmal um mich spüren zu können, erfüllt mich mit Wärme und ist Balsam für meine Seele. Kurz genieße ich das warme Gefühl und fast hätte ich mich hingegeben, wäre da nicht diese innere Stimme, die mich an die Realität erinnert. Er ist es nicht, Sinopa. Er kann es einfach nicht sein! Sie hat Recht! Das ist eine Sache der Unmöglichkeit! Da bin ich mir sicher - zu einhundert Prozent. Schließlich ist das hier nicht irgendeine Geschichte, in der Wunder geschehen. Egal, wie oft ich mir das auch wünsche.
Tränen bilden sich in meinen Augen und lassen meine Sicht verschwimmen. Schnell blinzele ich sie weg und lande in der harten Realität, als ich meinen Blick hebe und wieder in diese kalten, hasserfüllten Augen blicke.
Die traurigen Gefühle verblassen sofort.
Dieser Fremde ist nicht liebevoll und harmlos wie mein Vater. Er strahlt tödliche Gefahr aus und mein Selbsterhaltungstrieb drängt mich zur Flucht.
Jedoch ist nicht die Tatsache, dass er meinem Daddy zum verwechseln ähnlich sieht oder die von ihm ausgehende Gefahr, das Schlimmste. Nein, seine Augen sind es - definitiv. Sie erinnern mich an diesen Vorfall, an den ich nicht denken möchte und am besten nicht sollte.
Doch wieso?!
Ich schlucke, Angstschweiß bildet sich auf meiner Stirn und ich spüre, dass ich kurz davor bin, einen meiner Anfälle zu bekommen. Obwohl seit dem bereits zehn Jahre verstrichen sind, kann ich jede Empfindungen noch immer so intensiv wie damals fühlen.
Die Trauer.
Die Panik.
Die Hilflosigkeit.
Der Schock.
Erst eine Hand, die direkt vor meinen Augen schnipst, reißt mich aus der Halbtrance.
„Sinopa, wie oft denn noch? Hör. Mit. Deinen. Verdammten. Träumereien. Auf! Wir kommen sonst noch zu spät und es ziert sich nicht, jemanden warten zu lassen.“
Ich schaue sie noch leicht benebelt an und nicke als Antwort. Sie dreht sich zum Weitergehen um und ich folge ihre wortlos.
Dem Himmel sei Dank ist sie da gewesen. Wer hätte gedacht, dass ich das mal denke?
Beim Treffpunkt, dem Informationsstand, ist keiner der Familie Price zu sehen. Selbst bei einer Nachfrage ergibt sich, dass niemand nach uns gefragt hat und dabei haben wir bereits eine Verspätung von knapp fünf Minuten.
Ein Blick auf meine Betreuerin verrät mir, dass ihr das gar nicht in den Kragen passt. Ungeduldig tippt sie in einem gleichmäßigen Rhythmus mit dem Fuß auf den Boden und blickt im Sekundentakt auf ihre Uhr. Sie hasst Unpünktlichkeit. Sie hasst allgemein alles, was nicht so läuft, wie sie es will. Korrigieren wir es: Sie hasst alles, was nicht perfekt verläuft.
Aber selbst meine Geduld reicht heute nicht so lange wie sonst, denn ich möchte endlich weg von ihr und weg vom Heim.
An sich ist es zwar dort weniger schlimm, als es sich manche ausmalen - natürlich kann ich da nur für mich sprechen -, aber ich denke, dass ich nicht alleine bin, wenn ich sage: Niemand möchte seine komplette Kindheit dort verbringen. Bestimmt gibt es ein paar wenige Ausnahmen, aber ich meine hier die Mehrheit der Jugendlichen und Kinder.
Das abwechslungsreiche Essen schmeckt annehmbar und sogar besser als in meiner Schulkantine. Außerdem sind die Regeln nicht zu streng und die Aufpasser sind ebenfalls völlig in Ordnung - wenn man Doriths Existenz ignoriert. Niemand im Heim mag sie.
Außerdem habe ich, Dank der Schwester meiner Mutter und den Eltern meines Vaters, ein eigenes kleines Zimmer besessen und eine gute Schulausbildung genießen dürfen. Dafür bin ich äußerst dankbar, auch wenn dies des öfteren den Neid einiger Kinder auf mich gezogen hat und niemand von ihnen verstehen kann, wieso ich überhaupt im Heim lebe. Schließlich habe ich noch lebende Verwandte.
Das Resultat meiner schulischen Sonderbehandlung: Neben der englischen Sprache beherrsche ich die deutsche fließend. Die Grundkenntnisse habe ich bereits vor meinem sechsten Lebensjahr von meiner Mommy gelernt. Manchmal finde ich es noch immer faszinierend, wie problemlos ich zwischen diesen beiden Sprachen wechseln kann, sodass ich den Übergang des Öfteren nicht einmal bemerke.
„Ich kaufe mir dort schnell einen Kaffee“, informiert mich Dorith, bevor sie auch schon zwischen den Menschen verschwindet. Wo dort ist, habe ich nicht mitbekommen, wahrscheinlich hat sie in irgendeine Richtung gezeigt oder genickt. Mir soll es nur Recht sein, desto weniger muss ich sie und ihre Sticheleien ertragen.
Gerade wird ein Sitzplatz frei und ich beschlagnahme ihn direkt für mich. Mit meinen Augen wandere ich über die vielen Menschen in der Hoffnung, die Price’s endlich zu entdecken.
„Ich werde dich kriegen.“
Leise und bedrohlich ertönt diese unbekannte Stimme an meinem Ohr und ein warmer Atem streift über meinen Hals. Sofort versteife ich mich, kralle meine Hände in die Hose und meine Nackenhaare stellen sich auf. Um kein Geräusch von mir zu geben, schlucke ich und halte die Luft an. Bereit für alles, starre ich gerade aus und kämpfe gegen das Zittern meines Körpers an.
Was passiert jetzt?
Was hat er vor?
Ich warte weiter.
Gefühlte dreißig Minuten vergehen und es geschieht nichts. Selbst der warme Atem an meinem Hals ist verschwunden. Ist er weg oder habe ich mir diese Stimme nur eingebildet? Zweiteres ist mir lieber.
Zögerlich wage ich meinen Kopf zu drehen. Mein Puls rast und eine tiefe Erleichterung erfüllt mich, als neben mir niemand steht.
Das einzig Auffällige, was ich in dieser Richtung erblicke, sind zwei Männer, die einen dritten, der sich mit allen Kräften zu wehren scheint, mit sich zerren. Er trägt ein gelbes T-Shirt, genau wie der Rotschopf von vorhin.
Die Stimme ist keine Einbildung gewesen.
Mit der Erkenntnis spüre ich wieder ungewollt Panik in mir aufsteigen.
Wer ist er?
Was will er von mir?
Aufgekratzt knete ich meine Finger. Ich muss mich zusammenreißen und mich beruhigen. Er ist nur ein Unbekannter ohne Bedeutung, der meinen Daddy ähnlich sieht und gruselige Augen hat.
Mehr nicht!
Ich wiederhole innerlich diese zwei bestimmenden Worte.
Mehr nicht.
Mehr nicht.
Wie ein Mantra, doch es scheint nur schlimmer zu werden. Ein Zittern erfüllt meinen Körper.
Eisblau.
Kalt.
Mordlustig.
Leer.
Emotionslos.
Er wird mich kriegen.
Bevor ich es verhindern kann, erscheinen die ersten Bilder vor meinem inneren Auge und werden klarer. Bilder, die ich immer versuche zu verdrängen und meine Sicht auf den Flughafen verschwimmen lassen.
Ich sehe einen Weihnachtsmarkt. DEN Weihnachtsmarkt.
Einen Abend vor Weihnachten: Eine dicke Schneeschicht bedeckt die Dächer der Buden und das Lied „Last Christmas“ schallt über den Markt. Eine winterliche Kälte breitet sich aus. Es fühlt sich so an, als sei ich wieder sechs Jahre alt und an diesem Ort.
Immer mehr versinke ich in dieser Erinnerung. Die Geräusche um mich treten in den Hintergrund und die Lautstärke des Liedes schwillt an.
Die Luft wird knapp, als würde sich eine Schlinge um meinen Hals winden. Mein Atem wird hektisch flach.
Hilfe!
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