Zurückgeblieben
03. April 1822
Atlantik
„If I was dying on my knees
You would be the one to rescue me.
And if you were drowned at sea
I'd give you my lungs so you could breathe."
~ Brother von Kodaline
Ben Scarlett
Das gegnerische Schiff brannte. Inzwischen hatten auch die Segel und die Takelage Feuer gefangen und loderten lichterloh ähnlich einer herrenlosen Fackel auf dem weiten offenen Ozean. Die Flammen stoben gen Himmel gleich der Magensäure in seiner Speiseröhre. Ben unterdrückte ein schmerzhaftes Rülpsen.
Er hatte befohlen, die Leinen und Entermesser zu lösen, in dem Moment, als die irre Hexe die erste ihrer Kugeln aus Höllenfeuer eingesetzt hatte. Die verheerende Wirkung hatte ihm fast das Mittagessen wieder hochkommen lassen. Nicht dass jenes aus sonderlich viel bestanden hätte, da die angebliche Grippe ihn noch immer heimsuchte.
Ein paar glimmende Fetzen und Trümmer waren bis auf ihr Deck geweht und so blieb ihm keine andere Möglichkeit, den Abstand zum sinkenden Schiff zu vergrößern, wenn sie nicht ebenfalls innerhalb der nächsten halben Stunde am Grund des Meeres landen wollten.
Ben sah auf. Die Hexe stand am Schanzkleid. Ihre Lippen zierte ein makaberes Lächeln und er beobachtete sie dabei, wie sie sich selbst Beifall klatschte. Dabei gab es mitnichten einen Grund zum Feiern.
"Lasst mich runter!", befahl er den beiden Männern, die im Begriff waren, das Beiboot abzuseilen, in dem er saß. Das feindliche Schiff geriet zusehends in Schieflage. Der halbe Bug war bereits unter der Wasserlinie verschwunden und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Wellen bis zum Deck reichten.
Seine Hände schlossen sich fest um die schmale Reling des Dinghys. Vor einer Viertelstunde war Bonny einem todbringenden Orkan gleich durch die Besatzung des Gaffelschoners gepflügt und hatte lediglich Tod und Verderben in den gegnerischen Reihen hinterlassen. Dann hatte die Dunkelheit des Niedergangs sie verschluckt. Ein paar andere Männer waren hinausgeeilt und vor ein paar Minuten war der lange, ehemalige Küchenjunge Asbury ihr gefolgt.
"Komm schon, komm schon, komm schon!"
Ben beobachtete schweren Herzens, wie Rauch aus der Öffnung zu quellen begann und sich in Schwaden gen Himmel ringelte. Er biss die Zähne zusammen.
Verflucht! Er sollte dort unten sein und sein Leben riskieren. Er sollte Jack aus seinem Gefängnis zerren! Aber es war eben jene Stimme seines Käpt'n gewesen, die ihm Worte ins Ohr geraunt hatte, die ihn artig an Ort und Stelle gehalten hatten. "Posten nicht verlassen, Mr. Scarlett!" Sorgen Sie dafür, dass die Searose kein Feuer fängt!" (Kursiv) Hatte er halluziniert? Ganz sicher! Und gerade in diesem Moment wünschte er sich, er hätte all dem Ungehorsam nachgegeben, der für gewöhnlich in ihm steckte.
Das Blau des Ozeans begann die ersten Planken des Decks zu überspülen. Doch entgegen seiner Vermutung, dass diese das Feuer löschen würden, brannte es nun nur mit einer noch helleren Flamme, sodass Ben seine Augen zusammenkneifen musste, um nicht geblendet zu werden. Was für ein Teufelszeug hatte die Hexe da auf ihr Schiff geschleust?
"Komm schon, komm schon, komm schon!", entfuhr es ihm wiederholt, als der Kiel seines Beibootes auf den aufgewühlten Wellen zu schaukeln begann. Er sah dabei zu, wie die letzten überlebenden Männer des Schoners über Bord sprangen.
Die Augen fest auf den Ausgang des Niedergangs gerichtet, biss er erneut die Zähne zusammen. "Komm schon, verflucht!" Seine Faust fuhr krachend auf das Holz der niedrigen Reling nieder. Dann wandte er den Blick nach oben zum Deck der Searose. Jonah stand am Steuer und beobachtete mit starrem Blick das brennende Wrack. Als er seines Blicks gewahr wurde, schüttelte er nur leicht den Kopf.
"Zum Henker, was soll das bedeuten? Kann ich etwa hellsehen?", knurrte Ben, wohl wissend, dass seine Worte niemals laut genug sein würden, um die Ohren des Steuermannes zu erreichen. Entschlossen erhob er sich. Er würde selbst nachsehen müssen. Hastig entledigte er sich seiner Weste und wollte gerade den Fuß auf das Ruder stellen, um ins Wasser zu springen, als er im Rauch des Feuers endlich eine Bewegung ausmachen konnte.
Ein Mann. Asbury? Nein, der Kerl schien zu klein, um ihr Kanoniermeister zu sein. Irgendein Pirat quälte sich also durch den Ausgang. Er sah angestrengt aus. Mit sich zog er eine reglose Gestalt, an deren anderer Seite endlich Anne auftauchte.
Bens Herz tat einen Satz. Er wusste, dass die Frau nicht ohne Jack wieder nach oben gekommen wäre. Dann musste die Person in der Mitte sein Käpt'n sein. Hoffentlich war es nicht Asbury. Hoffentlich ...
Ben kniff die Augen zusammen und beobachtete, wie Anne und der Fremde die Person in ihrer Mitte in einer seltsamen Mischung aus Tragen und Schleppen mit sich zerrten. Orientierungslos schien das Trio innezuhalten und nach einem Weg durch das Feuer des brennenden Wracks zu suchen. Ben begriff. Er stieß einen lauten Schrei aus und begann wild mit den Armen zu winken.
Annes Blick fiel auf ihn und sie deutete in seine Richtung.
Er sah dabei zu, wie sie sich hustend über die bereits halb im Meer versunkene Reling des Gaffelschoners quälten und zu schwimmen begannen. Sie waren zwanzig Meter von ihm entfernt, eine gut zu überbrückende Distanz. Nur noch zehn ... Nur noch ein paar Meter trennten sie von seiner Nussschale, als Ben die ungewöhnliche Blässe auf dem Gesicht seines Käpt'n auffiel. Jack regte sich nicht.
"Kommt, macht schon!", fuhr er sie an und mit letzter Kraft gelang es den beiden die letzten paar Meter zu überbrücken. Er schenkte Anne oder dem Unbekannten keinerlei Aufmerksamkeit und als er nach Jacks Kragen greifen wollte, um ihn ins Boot zu ziehen, registrierte er, dass dessen Kleidung am Rücken in Fetzen hing. Sein Fokus heftete sich in einer unnatürlichen Schärfe auf die metallenen Handschellen, die die Hände seines Bruders aneinander fesselten und die der Fremde ihm empor streckte. Beherzt griff er nach der Kette und zog seinen Käpt'n zu sich ins Boot.
"Verflucht, verflucht. Verflucht!" Jack atmete nicht. Eine Erinnerung flackerte in seinem viel zu kurzlebigen Gedächtnis auf. Ein dreizehn Sommer zählender Ben, der kaum zwei Monate an Bord eines Schiffes verbracht hatte. Jack lag vor ihm, nicht viel älter als ein Junge, die Lippen genauso blau, die Haut ebenso bleich und kalt. Kein Platz, es war hier viel zu eng, um ...
Plötzlich verblasste das Bild. Annes gerötete Augen, ihr verzweifelter Blick, schob sich in seine Wahrnehmung, nachdem sie es geschafft hatte, sich selbst über den Rand des Beibootes zu ziehen. "Hilf mir!", entfuhr es ihm. "Wir müssen seinen Kopf tiefer lagern als den Rest seines Körpers. Auf die Seite!" Er sprach hastig, seine Stimme fühlte sich ungewohnt rau an. Als würde sie nicht zu dem Körper eines dreizehnjährigen Jungen passen. Ohne zu zögern, kam sie seiner Aufforderung nach und beeilte sich mitsamt des Fremden seine Anweisung umzusetzen.
Ein paar Tropfen lösten sich von Jacks blauen Lippen. Ben holte aus und traf ihn hart zwischen den Schulterblättern. Oberhalb einer Stelle, an der sich zwei Striemen von frischen Peitschenhieben kreuzten.
Nichts.
Er traf ihn wieder. Noch immer kein Wasserschwall, kein Atemzug.
"Fortuna, Kalypso und Triton, zur Hölle mit euch!", entfuhr es ihm. "Der Mann gehört uns, ihr bekommt ihn früh genug!"
Abermals holte er aus. Das Meerwasser auf seiner Handfläche vermischte sich mit dem Blut seines Bruders. Er hörte Annes verzweifeltes Schluchzen an seiner Seite, die sich kraftlos über ihn beugte und ihm das feuchte Haar aus der Stirn wischte.
"Weg da!" Einem Impuls folgend, näherte Ben sich dem Gesicht seines Käptn, öffnete vorsichtig dessen Lippen und befühlte mit einem Finger das Innere seines Mundes. Da war etwas. Etwas, das nicht dort sein sollte. Ben fischte ein kleines, zu einer Kugel zerkautes, dunkelgrünes Etwas hervor und warf es achtlos beiseite.
Dann holte er abermals aus. Der Wucht seines Schlages folgte ein Schwall Wasser, der sich auf die Bretter des Beibootes ergoss. Ein atemloses Husten. Noch mehr Wasser, das aus Mund und Nase hervorbrach wie ein Wasserfall. Dann ein so panisches Einatmen, als würde die Luft der ganzen Atmosphäre nicht ausreichen, um sein Verlangen nach Sauerstoff zu stillen. Ein Zittern, das durch den auf seinen Knien gebetteten Körper lief. Erneutes Husten, als Jack sich angestrengt zusammenkrümmte, um das letzte bisschen Salzwasser aus seinen Lungen zu würgen.
Ben lehnte sich zurück. Er hob die Hand, um sich irgendeine Flüssigkeit aus dem Gesicht zu wischen, von der er nicht wusste, ob es sich um Tränen, Spucke, flüssige Kotze oder Meerwasser handelte. Annes stürmischer Blick lag auf ihm und er erwiderte ihn für eine Sekunde lang stumm.
***
Er hielt die Augen geschlossen. Sein Atem ging schnell. Sein Herzschlag überschlug sich. Es fühlte sich an, als wäre er Meilen um Meilen weit geschwommen, um einem Sturm zu entgehen, dem er doch nicht entkommen war. Salziger Speichel rann aus seinem Mundwinkel, doch er schaffte es nicht, dem Einhalt zu gebieten. All seine Konzentration floss dahin, den stetigen Luftstrom seines Atems aufrechtzuerhalten, der in seine Lunge strömte und ihn wieder und wieder husten ließ.
Dumpf drangen Stimmen durch das Wasser in seinen Ohren zu ihm durch. Im selben Moment registrierte sein Gleichgewichtssinn das vehemente Schaukeln der Wellen unter ihm und ihm wurde schwindelig. Die Welt begann sich hinter seinen geschlossenen Lidern zu drehen. Er versuchte sich an etwas festzuhalten, doch seine Finger griffen ins Leere, bis sich schließlich eine andere Hand um seine Rechte schloss.
Leise Worte dröhnten durch das Innere seines Schädels und Schmerz durchfuhr sein Denken. Eine andere Hand legte sich auf seine Linke. Sanfte Finger strichen ihm das Haar aus der Stirn. Seine Atemzüge verlangsamten sich. Sein Zwerchfell entspannte sich. Und als er schließlich nicht länger das Gefühl hatte zu ertrinken, traute er sich die Augen zu öffnen.
Da war Holz. Vom Wetter gebleichtes, nasses Holz. Angestrengt blinzelte er sich das Wasser aus den Augen, um klarer sehen zu können. Das Licht der Sonne wärmte seine Haut. Der Schatten einiger Menschen fiel auf die Planken vor ihm und er wandte den Kopf.
Was er sah, wen er sah, trieb ihm abermals die Luft aus den Lungen.
Er war gestorben. Sein panischer Verstand hatte eine Illusion für ihn gewoben. Da er als Ben Bonny in den Tod gegangen war, hatte er ihm die beiden Menschen, aus denen er einen neuen erschaffen hatte, vor die Nase gesetzt. Sein Blick flog von Ben zu Anne, der die Tränen über die blutverschmierten und verrußten Wangen rollten und sog sich an ihr fest.
Er wollte die Hand heben und ihr Gesicht berühren, ein letztes Mal die Wärme ihrer weichen Haut unter seinen Fingern spüren und ihr das feuchte Schimmern aus den Augen wischen, ehe sie wie ein Traumbild verblasste. Doch als seine Hand tatsächlich ihre Wange streifte, entschwand sie nicht, sondern hielt seine Finger an Ort und Stelle fest und schmiegte sich sehnsuchtsvoll in seine Berührung. Einen Augenblick, der ihm wie ein viel zu kurzer Moment erschien, verweilten sie so, ehe eine Stimme ihn aus seiner Versunkenheit riss.
"Ehrlich Mann, ich habe noch nie gesehen, dass jemand derart lange die Luft anhalten kann."
Er kannte die Stimme. Hinter Ben bewegte sich der Schatten einer dritten Person und als sein Blick sich gewaltsam von Annes Gesicht losriss, erkannte er Jerome. Verflucht, was tat das Arschloch hier in seiner Illusion? Sein Fokus glitt weiter über Ben, der ihm unheimlich blass und dessen Augen ihm gerötet erschienen, über das bewegte Blau des Meeres, hin zu dem brennenden Wrack des Schoners der Marine, von dem inzwischen nicht viel mehr, als lodernde Trümmer übrig waren.
"Heilige Scheiße." Ein erneuter Hustenanfall suchte ihn heim, als er sich mit zitternden Gliedern in eine halbwegs aufrecht sitzende Position brachte, ohne jedoch Annes Hand loszulassen. Langsam drang die Realität zu ihm durch. Er war nicht tot. Die Huren der Navy waren es.
Er wollte etwas sagen, eine Million Fragen stellen, doch seine sprunghaften Gedanken wurden von dem lauten Getöse des Jubels unterbrochen, das über ihren Köpfen erklang.
Er hob den Blick und erkannte einen Haufen fröhlicher Männer am Schanzkleid der Searose stehen, die ihnen zuriefen, klatschten oder ihre Hüte in die Luft warfen. Sein Blick fiel auf Jonah, Jaspal und Flips, Larker und einen Haufen anderer bekannter Gesichter. Seine Crew. Zur Hölle, verdammt, irgendwas musste er richtig gemacht haben, dass ein jeder sich so freute, ihn lebend wieder zu sehen.
"Wie habt ihr ..."Seine Stimme klang heiser.
Anne legte ihm still einen Finger auf die Lippen.
„Willkommen zu Hause, Käpt'n. Komm erstmal an. Wir haben später noch genug Zeit", übernahm Ben das Sprechen für sie. „Du siehst aus, als müsstest du dich erstmal von Read zusammenflicken lassen!", stellte er fest.
Jack registrierte, dass er recht hatte. Sein Rücken schmerzte, sein Kopf tat weh, und irgendjemand musste dringend ein paar Schlösser knacken, um die Eisen um seine Handgelenke zu lösen. Zustimmend nickte er also.
"Was ist mit Asbury?", hörte er Ben im nächsten Moment an Anne gewandt fragen. "Ist er ..." Die Ratte verstummte, als er Anne matt den Kopf schütteln sah. Ein neuer Schwall Tränen sammelte sich in ihren Augenwinkeln und überspannte ihre Netzhaut. Das einzige Wort ihrer Antwort war leise und enthielt so viel Trauer, dass sie damit den ganzen Ozean hätte füllen können. "Zurückgeblieben."
Ben nickte atemlos. "Zieht uns rauf!", rief er laut.
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