Von Sinnen II
11. März 1822
Auf dem Meer vor Nassau
„Wer die Wahl hat, hat die Qual, doch manche Qual lässt keine Wahl."
~ Helga Schäferling
Jack sah es nicht kommen, was ihr eine Genugtuung der euphorisierendsten Sorte verschaffte.
Zum Teufel nochmal mit ihrer Abmachung von damals! Er wollte nicht, dass sie ihn vor seinen Männern blamierte? Dann sollte er nicht ohne ihr Wissen handeln wie ein verdammtes Arschloch!
Ehe er auch nur realisieren konnte, dass sie wie eine entfesselte Naturgewalt auf ihn zu rauschte, kam ihre flache Hand auch schon mit solcher Wucht auf seiner Wange auf, dass sein Kopf zur Seite flog.
Ein brennendes Gefühl huschte über ihre Fingerspitzen, das sie nur noch mehr befeuerte. „Was nimmst du dir eigentlich heraus, du Scheißkerl?!"
Die Fassungslosigkeit in seinem Gesicht wurde innerhalb eines Atemzuges zu eisiger Kälte.
"Was ist mit Ihnen, Miss Bonny?", fragte er herablassend, aber dennoch im Ton des Käptns, der mit einem Mannschaftsmitglied sprach. Höflich aber bestimmend.
"Hat der Wahnsinn Sie auch heimgesucht, wie den lieben Mr. Cherleton?"
Ein eindringlicher Blick traf sie. Einer, der sie stumm darum bat zur Vernunft zu kommen.
Sie konnte sich nicht beherrschen. Wollte es nicht. „Was ist das für eine Substanz, die du Mary für Samuel gegeben hast? Spielst dich auf, weil er mich küsst, dabei hat deine Arznei ihn doch erst dazu gebracht!"
"Nicht hier!" Er umfasste ihren Oberarm fest und zog sie ohne Widerstand zuzulassen mit sich in seine Kajüte, wo er die Tür hinter sich zuknallte. Erst dann ließ er zu, dass sie sich von ihm losriss.
"Verflucht, Anne!", entfuhr es ihm. "Beruhige dich!"
Wütend funkelte sie ihn an. „Ich soll mich beruhigen?!"
"Aye! Es gibt keinen Grund für so einen ... eine ..." Er gestikulierte wild mit den Händen. "Du schlägst mir vor versammelter Mannschaft ins Gesicht?"
„Du hast Samuel weiß der Himmel was verabreichen lassen und mimst vor deinen Männern und mir das Unschuldslamm!", hielt sie ihm aufgebracht entgegen. Am liebsten hätte sie ihn direkt noch einmal geohrfeigt! Allein aus dem Grund, dass er so dumme Fragen stellte!
Sie beobachtete, wie er sich auf die Unterlippe biss. Aber nur für eine Sekunde.
"Es war nicht weiß der Himmel was", schlug er zurück. "Es war ein kalkuliertes Risiko, das ich eingehen wollte, um den verfluchten Arsch deines Freundes zu helfen. Du hast Read gehört. Die Opiumdosen, die sie ihm verabreichen muss, damit er auf sein Leben klarkommt, steigen in schwindelerregende Höhen", brachte er durch zusammengebissene Zähne hervor. Ein Knurren mischte sich in seine Worte. Als könnte er den wütenden Sturm, der sich in seiner Mitte zusammenbraute, nur noch schwer zügeln.
Bei den Göttern, sie wollte nicht, dass er seine Beherrschung verlor. Dann würde sie nur noch weniger brauchbare Informationen aus ihm heraus bekommen. Es fiel ihr schwer. So schwer tief durchzuatmen und ihren Zorn in nützliche, brauchbare Bahnen zu lenken.
Als sie zu einer Antwort ansetzte, war ihre Stimme zwar ruhiger, aber dennoch voll von Misstrauen. "Belügst du mich?", fragte sie gerade heraus. „Du hast Mary was auch immer das war mit guten Absichten überlassen und nicht mit dem Hintergedanken Samuel zu beseitigen?"
Sein Blick verfinsterte sich, wurde zu einem Ausdruck, der sie dafür verfluchte, dass sie weiter nachhakte. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. "Ich habe die Arznei aus einem Etablissement in Nassau, das mir selbst unter die Arme gegriffen hat, nachdem Blackbeard mich hat gehen lassen", begann er zu erzählen.
"Ich weiß selbst nicht, worum es sich dabei handelt. Aber das, was ich dort bekommen habe, hat mir dabei geholfen, mich wieder auf mich selbst zu fokussieren und nicht aus Schuldgefühlen und Ängsten den Verstand zu verlieren!" Er unterbrach sich und blieb vor ihr stehen.
Kam es ihr nur so vor oder wand er sich tatsächlich unter ihrem argwöhnischen Blick?
"Anne, ich habe dich umgebracht. Und er hat es gesehen. Er ..." Abermals hielt er inne, schien seine Worte neu zu überdenken. Die Erinnerungen an den furchtbaren Nachmittag dahin zurückzudrängen, wo sie sich nicht in ihre Unterhaltung mischen würden. "Natürlich gab es ein Risiko. Aber eines, das ich eingehen wollte. Du hättest mich niemals gelassen, wenn ich dich zuvor um Erlaubnis gebeten hätte!"
„Weshalb?", verlangte sie zu wissen. Seine Erklärungen klangen plausibel, aber es blieben Zweifel. Sie wusste, wie sehr er Sam verabscheute und wie froh er darüber gewesen wäre ihn endlich los zu sein.
„Was meinst du?"
„Weshalb verspürst du mit einem Mal das Verlangen ihm zu helfen? Das ergibt keinen Sinn, Jack. Halte mich nicht für dumm! Die ganze Zeit redest du auf mich ein, dass es besser wäre, ihn irgendwo auszusetzen. Auf der Revenge überlässt du Samuel Blackbeard, um die Schuld zu begleichen, die Sullys Tod verursacht hat. Und anstatt dich nun darüber zu amüsieren, dass er Qualen leidet, willst du sie ihm nehmen?"
Sie beobachtete, wie sich seine Augenbrauen verärgert zusammenzogen. Als hätte ihr Vorwurf ihn tatsächlich getroffen.
"Ich bin kein Monster, Anne! Natürlich will ich ihn loswerden. Natürlich will ich, dass er nicht länger auf meinem Schiff herumstolziert und mir mit jedem Blick und jedem Atemzug klarmacht, dass er mir ein Messer zwischen die Rippen stechen würde, hätte er nur den Mut dazu."
Ungehalten atmete er aus. "Aber er ist immer noch ein Mitglied meiner Mannschaft und ich bin sein Käpt'n und trage die Verantwortung für sein Wohlergehen und ..."
Ihr Blick traf ihn. Sie glaubte ihm nicht. Er wusste das. Aufgebracht warf er die Arme in die Luft. "Zum Henker, Anne! Klar wollte ich ihm helfen. Aber die andere Option, dass er einfach abkratzt, wäre natürlich auch akzeptabel gewesen!"
„Da haben wir sie also! Die eigentliche Wahrheit!" Erneut flammte die Wut in ihr auf. Sie machte einige Schritte auf ihn zu, kam ihm so nahe, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie gepasst hätte. „Du hast es ihm nicht mit dem alleinigen Gedanken verabreichen lassen, ihm damit zu helfen. Nein." Ihr Zeigefinger bohrte sich in seine Brust.
„In irgendeiner verwinkelten, finsteren Ecke deines Verstandes hast du darauf gehofft, dass er daran stirbt", schleuderte sie ihm entgegen. Eine kleine Flamme der Hoffnung, dass er es leugnen, seine bösen Absichten zumindest abstreiten würde, erlosch, als sie einmal mehr der Kälte in seinem Blick gewahr wurde.
"Wie hättest du mir das erklärt, hm? Glaubst du, ich hätte dir das jemals verziehen? Und denk nicht, dass ich es niemals herausgefunden hätte. Denn das hätte ich!"
Er schüttelte den Kopf. "Wie lange willst du noch darauf warten, dass er uns ins Unglück stürzt? Was muss passieren, damit du dich endlich von seiner jämmerlichen Gesellschaft lossagen kannst?"
Seine Augen verengten sich, während er noch einen Schritt vortrat, sodass sie zurückwich. "Oder gefällt dir seine Anwesenheit in deiner Nähe so sehr, dass du sie brauchst? Wie er dich anschmachtet, wenn du nur an ihm vorbeiläufst. Weil es dir gefällt, dich ihm zu verwehren. Du folterst ihn und das bewusst."
Die Gehässigkeit und der Hohn in seinen Worten brachten etwas in ihrer Mitte dazu sich schmerzhaft zusammen zu ziehen. Sie wollte ihn anschreien, damit aufzuhören, wollte ihre Fäuste so lange auf seine harte Brust niedersausen lassen, bis er endlich den Mund hielt, aber sie tat nichts dergleichen. Stumm folgte sie lediglich dem Kurs seiner überwältigenden Anschuldigen, sammelte den Schmerz eines jeden einzelnen Wortes.
"Oh ja und wie du es genießt von zwei Männern gleichzeitig verehrt und auf Händen getragen zu werden." Er sah ihr in die Augen, als würde er etwas suchen, das er nach kurzer Zeit fand. "Wenn dir beide gleichzeitig den Hof machen, obwohl du den einen am langen Arm verhungern lässt."
Kurz hielt er inne, als müsste er überlegen. "Was ist wohl grausamer? Das sinnlose Leben eines liebeskranken Tölpels zu beenden oder ihn in seiner eigenen Hölle schmoren zu lassen und ihm jeden Tag, jede Stunde und jede Minute etwas zu zeigen, das er doch nicht haben kann?" Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als seine Lippen den ihren immer näher kamen. "Du bist eiskalt, Anne Bonny."
Beinahe erfüllte sie Faszination, bei dem Schauspiel, das er ihr bot. Das sein falsches Handeln auf so grauenvolle Weise zu einer guten Tat verdrehte, während er ihr die Schuld für Samuels eigentliches Leiden zuschob.
Beinahe.
„Du weißt, dass es so nicht ist." Sie spürte seinen warmen, verführerischen Atem auf ihrem bebenden Mund. „Es tut mir weh, ihn leiden zu sehen, weil ich ihm mit dieser Art von Schmerz nicht helfen kann. Aber sein Leben zu beenden ist mitnichten der richtige Weg, um ein gebrochenes Herz zu heilen."
Sie schüttelte den Kopf. „Verdammt, Jack. Du hast Mist gebaut, aber anstatt es einzusehen, oder dich gar zu entschuldigen, versuchst du mir ein schlechtes Gewissen einzureden." Ein abfälliges Schnauben kam über ihre Lippen. "Du versuchst mich gar um den Finger zu wickeln."
Sein leises "Aye" jagte ihr ein verlangendes Schaudern die Wirbelsäule hinab. "Ganz so wie du mir die Zunge in den Hals schiebst, sobald du dir irgendetwas zu schulden kommen lässt, das für gewöhnlich die ein oder andere Nacht am Mast nach sich ziehen würde", wisperte er auf ihre leicht geöffneten Lippen.
Sie schüttelte den Kopf. Einmal. Dann entzog sie sich ihm. "Mir reicht keine einfache Entschuldigung, Jack. Du bist zu weit gegangen. Ich verlange, dass du zu Mary gehst, ihr das verdammte Zeug abnimmst und sobald wir wieder in Nassaus Hafen ankern, wirst du den Laden aufsuchen, in dem du es erworbenen hast und wirst um etwas bitten, das Samuel weniger halluzinieren und ihn nicht völlig durchdrehen lässt. Es mag gut sein, dass es seine Schmerzen lindert, aber soll der Preis dafür wirklich der Verlust seines Verstandes sein? Sicher nicht. Wer auch immer einen solchen Handel führt, mit derart außergewöhnlichen Heilmitteln, der hat weitere Alternativen parat." Sie sah ihm tief in die Augen, signalisierte ihm damit, dass sie keinen Widerspruch dulden würde.
Seine Nasenflügel bebten vor Wut, als er zu sprechen ansetzte. "Dann versprich du mir, dass wir ihn endlich loswerden, Anne!"
"Nein!"
"Du musst, Anne!"
"Ich sagte nein!"
Wie sollte sie sich des Freundes entledigen, der ihr erst die Flügel verliehen hatte, sich in die Freiheit aufzuschwingen?
„Wovor hast du solche Angst? Glaubst du wirklich, dass er dich irgendwann im Schlaf ersticht? Hat Jonah dir ein solches Märchen aufgetischt, so wie das, in dem ich für deinen Untergang verantwortlich sein soll?"
"Es ist kein Märchen, verflucht!" Frustriert wich er von ihr zurück. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, verfinsterte seine Züge. Doch der Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. "Du willst ihn nicht hergeben? Dann werde ich nicht aufhören ihm fragwürdige Arzneien verabreichen zu lassen!"
Ein Stich durchzuckte ihr Herz.
„Du drohst mir?" Alle Entschlossenheit, aller Widerstand wich aus ihrer Stimme.
"Du stellst mich vor die Wahl, ihn entweder von der Searose zu verstoßen oder jeden Tag mit der Angst aufzuwachen, dass du ihm Medizin verabreicht hast, die ihn umbringen könnte?"
Das konnte er nicht ernst meinen!
"Aye."
Fassungslos sah sie zu, wie er die Arme vor der Brust verschränkte.
"Ich müsste dich tatsächlich nicht mal vor die Wahl stellen, denn ich bin noch immer dein Käpt'n, Anne. Weil ich dir deinen Wunsch bisher erfüllt habe, erdulde ich schon viel zu lange seine Anwesenheit auf meinem Schiff. Du erhältst so viele Ausnahmen und Privilegien, die dir eigentlich gar nicht zustehen. Sieh es als einen Handel an. Du rettest damit sein beschissenes Leben."
Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung, doch es wollte sich keine ergeben. Sie sah es in Jacks Blick, wie ernst es ihm mit seiner Drohung war. Sie würde Samuel verlieren ... auf dem einen oder auf dem anderen Weg.
Sie wusste es nicht, wie sie es schaffte die folgenden Worte über ihre Lippen zu bringen.
„Fein. Dann suchen wir einen sicheren Ort für ihn, an dem er bleiben kann." Ihr Zorn machte herber Enttäuschung Platz. Niemals hatte sie gedacht, dass Jack sie in eine Lage bringen würde, in der sie gezwungen war zwischen Pest und Cholera zu wählen. Zwischen der Gewissheit, Sam einem ständigen Risiko auszusetzen und ihrem Freund für immer Abschied nehmen zu wollen. Und erst recht hatte sie nicht erwartet, dass sie Samuel so einfach aufgeben würde.
Jack hatte das, was er so sehr an Samuel verabscheut hatte, selbst getan. Sie erpresst.
Und sie hatte das, was sie sich geschworen hatte niemals mehr zu tun getan. Sich erpressen lassen.
„Lass dir eins gesagt sein: Das macht dich nicht besser als ihn. Im Gegenteil. Ihr seid euch ähnlicher, als es dir lieb ist. Ihr beide habt mir gedroht und mir damit wehgetan. Mit dem einzigen Unterschied, Jack, dass er es getan hat, um mich zu schützen. Du drohst mir nur aus Eigennutz. Weil du Angst hast, Jack. Vor einem verschissenen Weinhändler."
Verbitterung zeichnete sich in seinen Zügen ab, als er sich ihr wieder näherte. So weit, als würde er sie mit seinem nächsten Atemzug küssen wollen. Doch er tat es nicht.
"In der gesamten Geschichte von Calico Jack habe ich nie das Verlangen verspürt, anders oder gar besser sein zu müssen, als dein elendes Schoßhündchen", begann er. "Und das tue ich auch jetzt nicht." Ein schimmerndes Funkeln trat in seine Augen, von dem sie nicht sagen konnte, woher es stammte. Sollten das etwa Tränen sein? Wollte er sie zum Narren halten?
"Du bist eine freie Frau und hast die Wahl dich selbst zu entscheiden. Geh mit ihm, wenn es das ist, was du willst. Aber ich will ihn nicht länger auf meinem Schiff. Und wenn das bedeutet, dass auch du mir den Rücken kehrst, dann soll es so sein."
Es dauerte, bis die vollständige Bedeutung seiner Worte in ihren Verstand gesickert war.
Gerade als sie den Mund öffnete, um etwas darauf zu erwidern, klopfte es energisch an der Tür. „Käpt'n! Jaspal hat etwas ausfindig gemacht! Das sollten Sie sich ansehen!", drang Winstons aufgeregt klingende Stimme zu ihnen durch das Holz.
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