Ertrinken ist leicht
02. April 1822
San Salvador
„Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, die Hoffnung stirbt nie!"
~ Unbekannt
Die Welt geriet ins Schwanken. Sie konnte nicht länger stehen. Kraftlos sackte sie um
Atem ringend auf die Knie. Keuchend blickte sie den Dielen des Piers entgegen, kämpfte darum, sich auf ein kleines Loch im Holz zu fokussieren, um dem Schwindel entgegenzuwirken.
Sie hatten sich jedes einzelne Schiff angesehen, das im Hafen von San Salvador ankerte. Diamond hätte den Gaffelschoner wiedererkannt, wenn sie ihn zu Gesicht bekommen hätte. Darauf hatte sie geschworen. Immerhin war dies auch der einzige Grund gewesen, aus dem ihre Freundin überhaupt mit ihnen gesegelt war, hatte sie wenige Tage zuvor doch noch gemeint, solche Unterfangen wären ihr zu gefährlich mit einem Neugeborenen im Schlepptau. Aber Diamond hatte gewusst, dass Anne sie brauchte. Dass Jack sie brauchte. Felicité mochte kleine Vögelchen auf den Bahamas sitzen haben, die ihr ins Ohr sangen, wenn sie etwas von den Marineschweinen ausfindig machten, aber diese Frauen waren nicht ständig zugegen.
Hände legten sich an Annes Schultern. Dumpfe Worte versuchten zu ihr durchzudringen, prallten jedoch an ihr ab. Als wäre sie der Rumpf der Searose und das Gesagte die Wellen.
Schließlich tauchte ein Gesicht vor ihrem auf. Anne war so schwindlig, dass es sich zunächst nicht zuordnen lassen wollte. Schweißperlen rannen ihre Stirn hinab, benetzten ihre Lippen und hinterließen einen salzigen Geschmack auf ihrer Zunge. Ihre Sicht klärte sich nur langsam. Sie erkannte den sich bewegenden Mund ihres Gegenübers, konnte die Worte dennoch nicht verstehen.
Ihre eigene Stimme, die durch ihre Gedanken kreiste und ihr ständig eine einzige Frage zuschrie, übertönte alles andere.
Was, wenn er tot ist? Was, wenn er tot ist? ... wenn er tot ist ... tot ...
Anne verlor den Kampf. Es ging nicht länger. Sie war müde. Die Erschöpfung steckte ihr zu tief in den Knochen. Und sie wollte auch gar nicht mehr. Felicité hatte ihr zwar Mut zugesprochen, indem sie ihr versichert hatte, sie würden das Schiff früher oder später einholen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Jack nicht hier war. Dass die Angst sich wie Gift durch ihre Eingeweide und Hirnwindungen fraß und nichts zurückließ, als unbrauchbaren Matsch.
Die Besatzung, Jacks Männer, legten all ihre Hoffnung in sie. Auch das ertrug sie nicht länger. Wie sie sie ansahen, so voller Zuversicht, dass sie es sein würde, die ihnen ihren innig geliebten Käpt'n zurückbringen würde. Allen voran Ben. Die Ratte mochte versuchen sich einzureden, dass Anne überhaupt erst Schuld an seiner Entführung hatte, aber Augen konnten nicht lügen. Auch seine nicht. Sie erkannte es, wenn sie ihm in seine vom Alkohol verschleierten Seelenfenster blickte. Diesen Schimmer, dieses stille Flehen, dass sie Jack nicht aufgeben durfte.
Aber nichts anderes tat sie in diesem Moment, während sie auf dem Pier kniete. Und sie hasste sich dafür. Bei den Göttern, sie ertrug sich selbst nicht länger. Ihre Schwäche. Ihre Ängste. Die Liebe zu Jack, die sie verschlang wie das Meer im tosenden Sturm. Vage drangen Erinnerungen in ihr Bewusstsein. Davon, als Jack ihr erzählt hatte, wie es sich anfühlte zu ertrinken, während er ihr beigebracht hatte zu schwimmen. Es ist kalt, aye. Aber es ist auch friedlich. Das Blau des Ozeans legt sich auf deine Sinne. In diesem Moment habe ich Ruhe gefühlt. Die Geräusche treten in den Hintergrund. Das Rauschen in den Ohren verblasst, wird eins mit dem Atem des Meeres. Der Ozean schenkt Leben. Er schenkt Frieden im Tod.
Es war ihr, als könnte sie seine Stimme tatsächlich hören. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, das er ihr beschrieben hatte. Ruhe und Frieden. Das war es, was sie sich wünschte.
Tief atmete sie durch, versuchte sich erneut zu fangen. Ein Fehler. Das Gesicht, das vor ihrem tanzte, die Hände auf ihren Schultern ... Fortuna musste sie verlassen haben, oder aber sie hasste Anne genauso sehr, wie sie sich selbst hasste, dass sie sie halluzinieren ließ. Dabei war die Glücksgöttin keinesfalls gnädig. Sie zeigte Anne keine himmlische Oase im Wüstenmeer, sondern das, was für ihren Schmerz verantwortlich war.
Tränen entfleuchten Annes Augenwinken, als sie Jack in die nachtgleichen Iriden blickte. Sternenstaub tanzte durch sie hindurch, durchbrach die Dunkelheit und schenkte Licht.
„Es ist leicht zu ertrinken. Es ist einfach, sich dem letzten Atemzug hinzugeben, der deine Lungen mit Salzwasser füllt. Aber ich habe dagegen angekämpft, als Chales Vane mich kielholen ließ."
Das konnte nicht sein. Er war nicht hier und doch ... und doch hockte er vor ihr und sie hörte ihn. Sie hörte seine Stimme, die sie weinen ließ wie ein kleines Kind. Ihre Finger griffen nach ihm und bekamen tatsächlich den Stoff seines Hemdes zu fassen. Der Teufel trieb sein übelstes Spielchen mit ihr. Oder ... war sie vielleicht gestorben? Wenn sie tot war, dann konnte das nur der Himmel sein. Aber ... den hatte sie sich nicht verdient. Das ergab keinen Sinn! Nichts von dem, was ...
„Hör mir jetzt zu, Anne. Ich habe damals gekämpft und das musst du jetzt auch. Ich bin irgendwo da draußen und ich warte auf dich", unterbrach Jacks Illusion ihre wirren Gedanken.
„Sag mir ... sag mir wo genau und ich schwöre dir, ich komme dich holen", erwiderte sie mit heiserer, seltsam verzerrter Stimme.
Doch sie erhielt keine Antwort. Stattdessen begann sein Bild sich aufzulösen. Seine Berührung wurde immer leichter, bis sie nicht mehr auf ihren Schultern lastete, als eine Feder. „Nein ... geh nicht .... Lass mich nicht wieder alleine", flüsterte sie und spürte erneut, wie die Kraftlosigkeit über sie hereinbrechen wollte.
Da lächelte Jack. „Du bist nicht allein." Dann verschwand er und ließ nichts zurück, als eine tiefe Schwärze, die Anne einhüllte. Aber nicht wie der schwarze Schleier einer Witwe, der Tod und Kälte verkündete, sondern wie der Nachthimmel in Jacks Augen. In dieser Finsternis fühlte sie sich warm und geborgen.
***
„Du musst damit aufhören, bewusstlos zu werden. Das mein ich ernst. Sonst sterb' ich irgendwann noch vor Angst."
Es war Winstons leises Brummen, das sie zuerst wahrnahm, noch ehe sie überhaupt die Augen aufschlug. Dieses Mal dauerte es nicht so lange, bis sie sich daran erinnerte, was geschehen war. Sie waren den Pier entlanggelaufen, hatten nach dem Gaffelschoner gesucht und ihn doch nicht gefunden. Und dann war Anne zusammengebrochen, hatte sich auf den feuchten Dielen zusammengerollt wie ein jammerndes Kind. Bis sie Jack gesehen hatte. Ja ... ja, er war da gewesen.
Noch immer wusste sie nicht, wie das sein konnte. Aber Jonahs Hokuspokus und der Fluch, den er ihrer Kette andichtete, ließen sich auch nicht anhand von Naturgesetzen erklären. Vielleicht sollte sie das Übernatürliche endlich als Wahrheit akzeptieren. Jacks Erscheinung hatte ihr immerhin neue Kraft und neue Hoffnung geschenkt. Halluzination hin oder her. Er hatte ihr gesagt, er war irgendwo da draußen und dass er auf sie wartete.
Langsam setzte sie sich auf und blickte sich um. Dieses Mal befand sie sich nicht in Reads Räumlichkeiten, sondern in ihren eigenen. Winston saß am Schreibtisch und beobachtete sie von dort aus. Die Arme vor der Brust verschränkt und ein Glas Rum vor der Nase.
„Gibt es etwas zu feiern oder wie kann ich es verstehen, dass du dir anmaßt, dich an Jacks Vorräten zu bedienen?", murrte sie und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Sie wollte ganz aufstehen, ihr Tun wieder aufnehmen und die Suche nach Jack fortsetzen. Irgendjemand an diesem Hafen musste das Schiff gesehen haben und vielleicht wusste derjenige auch, wohin es gesegelt war.
Doch als Winston erneut die Stimme erhob, ließ sie das innehalten. „Musste mich ja irgendwie beschäftigen, bis du aus deinem Dornröschenschlaf erwachst. Außerdem ..." Er nahm einen Schluck. „Befinden wir uns schon längst wieder auf Kurs."
„Was?" Das Wort kam ihr erschrockener über die Lippen als gewollt. Sofort war sie auf den Beinen, überbrückte die wenigen Schritte bis zu den achterlichen Fenstern innerhalb eines Wimpernschlags. Winston machte keine Scherze. Vor ihr erstreckte sich nichts anderes als das wogende Blau des Ozeans.
„Die Kräuterhexe, die du an Bord geholt hast, erweist sich in dieser Mission als wahrer Segen", hörte sie ihren Freund weiter plappern, während sie sich in einer ungläubigen Geste mit der flachen Hand durch ihre schwarzen Locken fuhr. „Keine Ahnung, was das für n' komischer Verband is', den die Alte ihre Vögelchen nennt, aber eins davon hat anscheinend in Erfahrung gebracht, wohin die Schweinebacken woll'n."
„Jetzt schleich' nicht um den heißen Brei herum wie eine gottverdammte Katze!", ranzte sie ihn an und wandte sich zu ihm um. „Wohin, bei allen sieben Höllen, segeln wir?"
„Schon mal was von Florida gehört?" Winston grinste frech wie ein Bengel. Obwohl er wissen musste, dass es derzeit unklug war, sie zu provozieren, tat er es dennoch. Manche Dinge änderten sich wohl nie.
Gereizt seufzend fuhr sie sich erneut durchs Haar. „Muss ich dir erst deine Nase brechen, damit du aufhörst, mir so auf die Nerven zu gehen?"
„Schon gut." Abwehrend, aber weiterhin schelmisch dreinblickend, hob er die Hände. „Am 30. März, also morgen, wird das Florida-Territorium zu nem offiziellen Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika erklärt. Und da gibt's wohl n paar Wochen danach ne riesige Fete mit allen möglichen Gästen aus den verehrten, angesehenen Rängen. Unser gesuchtes Schiff is auch auf'm Weg dorthin. Dovies oder Davies, irgendwie so heißt der Offizier, oder was auch immer er is, will sich das nich' entgehen lassen."
Eine Welle der Erleichterung durchflutete Anne, kaum dass Winston zu Ende gesprochen hatte. Sie segelten also nach Florida. Von den Bahamas aus war das ein Seeweg von gut vier Wochen. Genügend Zeit, um die Marine Bastarde endlich einzuholen und Jack zu befreien.
Sie wollte sich schon von ihm abwenden, um nach draußen zu stürmen und Felicité aus Dankbarkeit die Füße zu küssen, als sich ihr eine weitere Frage auftat. Wenn das Vögelchen der Kräuterfrau den Gaffelschoner gesehen hatte und in Erfahrung hatte bringen können, wohin deren Käpt'n unterwegs war, vielleicht ... „Gibt es noch andere Neuigkeiten? Irgendetwas, das von Nutzen ist?"
Winston erhob sich von seinem Stuhl. „Nein. Wir wissen nach wie vor nich', ob er noch am Leben is. Nich' zu hundert Prozent zumindest. Es wurde beobachtet, wie ne Leiche von Bord geschafft wurde und die war nich' Jack. Die Vögelchen haben sie aus'm Wasser gezogen. Aber wir wissen jetzt, dass sie nur noch einen Vorsprung von etwa zwei Tagen haben können."
Mehr brauchte Anne nicht zu hören. Mit aufkeimender Hoffnung in der Brust trat sie an Deck. Weder scherte sie sich um die angenehm warme Abendsonne, noch um die Blicke, die sich neugierig und gleichsam erleichtert an ihren Rücken hefteten. Zielstrebig stieg sie die Treppe hinunter, durchquerte die Flure, bis sie sich schließlich in Reads Zuständigkeitsbereich wiederfand. Aber nicht der vorlauten Schiffsärztin wegen, sondern wegen Felicité, die Jonah über der Dauer ihres Aufenthalts hier untergebracht hatte. Bei Mary war sie einfach am sichersten gewesen. Zudem schienen sie beide Frauen gut miteinander zu verstehen, gingen sie doch beinahe derselben Tätigkeit nach.
Sowohl Felicité als aus Read sahen auf, sobald Anne eintrat. Diese verschwendete keine sinnlosen Worte, sondern steuerte schnurstracks auf die kleine blonde Frau zu, um sie in eine Umarmung zu ziehen. „Ich weiß nicht, wer dich geschickt hat, aber ich bin unglaublich dankbar dafür", flüsterte sie in das zottelige Haar hinein. Zumindest war es das einmal gewesen. Als sie sich von ihr löste, fiel ihr auf, dass Felicité sich die hüfthohe Mähne bis zu den Schultern gekürzt hatte.
„Sieh sich das mal einer an", schaltete sich Read ungefragt ein. „Anne Bonny hat doch noch nicht alle Manieren verloren. Sie empfindet doch noch so etwas wie Dankbarkeit und weiß diese zu zeigen."
Der Geruch von Ingwer, Fenchel und noch etwas anderem, das sie nicht kannte, kroch in Annes Nase, als sie sich Mary zuwandte, die irgendein Gebräu zusammen mischte.
„Für Ben", erklärte Felicité, ohne sich zu dem Überfall an Dankbarkeit zu äußern. Als hätte Anne sie niemals innig umarmt, kehrte sie ihr einfach den Rücken zu und nahm Mary die Medizin für den Säufer aus der Hand. „Ich gehe und bringe sie ihm." Kaum hatte sie das ausgesprochen, war sie auch schon verschwunden. Ihr Kater tippelte ihr maunzend nach.
Anne wollte ihr folgen, da hielt Read sie auf. „Geht es dir besser?"
Die ungewohnte Sanftheit in ihren Worten ließ Anne aufhorchen. „Aye", erwiderte sie ehrlich. Es ging ihr in der Tat besser, seit Winston den neuen Silberstreif an den Horizont gemalt hatte. Dieses Mal würde sie diesen nicht einfach so vorüberziehen lassen. Sie würde ihn jagen, ihn einfangen und festhalten, denn er war die gute Fee, die ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen würde. Er würde ihr ihren Jack zurückbringen.
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