Eine alte Rechnung
28. Februar 1822
Nassau
„Was nach Rache flüstert, kann sich gefährlicher entwickeln, als was nach Rache schreit."
~ Martin Gerhard Reisenberg
28. Februar 1822
Nassau
„Was nach Rache flüstert, kann sich gefährlicher entwickeln, als was nach Rache schreit."
~ Martin Gerhard Reisenberg
Es war kurz vor Mitternacht, als sie ihr Gespräch mit Blackwood schließlich beendet und mit gemischten Gefühlen zurück ins Innere der Taverne kehrte.
Tiw hatte sich ihr nicht angeschlossen, weil er besser auf den schaukelnden Wellen Schlaf fand, als in modrig riechenden Gästezimmern. Anne konnte ihn nur zu gut verstehen und sie wäre seinem Beispiel auch gefolgt, hätte nicht jemand in dieser schäbigen Spelunke auf sie gewartet und sie sicherlich schon vermisst.
Mit einem neuen Getränk in der Hand bahnte sie sich ihren Weg durch die Anwesenden, hin zu einem Tisch in einer der hintersten Ecken. Dort saßen Jack, Ben, Jonah, Jaspal und Mary bei einer gemütlich aussehenden Partie Karten zusammen. Als sie näher trat, bemerkte sie allerdings das vor Wut rot angelaufene Gesicht der Ratte, die nur eine Sekunde später die Faust mit den fehlenden Fingern auf den Tisch donnerte. Schwankend stand Ben auf und deutete auf Jack. „Du bescheißt doch, Käpt'n!"
Unbeeindruckt zog jener an seiner Zigarette, blies den Rauch in die wutgeschwängerte, dichte Luft über ihrem Tisch.
"Aye, genauso wie du, Ben. Wenn wir unter dem Tisch nachsehen, unter welchem Platz finden wir wohl die meisten aussortieren Karten?" Ein gefährliches Lächeln zierte seine Züge.
„Ihr zankt euch schlimmer als eine Horde Frauen", schaltete sich Mary ein, wofür sie einen noch zornigeren Blick von Scarlett erntete.
„Ganz schmaler Grad, Miss Read", zischte er, setzte sich dann aber und nahm sein Kartendeck erneut in die Hand. „Also schön ..."
Als Jonah die nächste Runde für sich entschied, warf er sie allerdings direkt wieder von sich, schleuderte sie quer über den Tisch, sodass zwei davon den Steuermann und die drei restlichen Jack im Gesicht trafen. „Das lass ich mir nicht bieten! Es macht mehr Spaß mein Gold beim Saufen rauszuschmeißen, als es mir von euch diebischen Mistkerlen aus der Tasche ziehen zu lassen!" Mit diesen Worten stiefelte er davon und tauchte in der Menge unter.
Anne sah ihm schmunzelnd nach, bevor sie sich auf dem nun freien Platz niederließ.
"Schließen Sie sich uns für eine Partie an, Miss Bonny?", ergriff Mary erneut das Wort. Ihre volle Stimme klang verführerisch in Annes Ohren. "Es wird Zeit, dass an diesem Tisch wieder niveauvolle Züge ausgeführt werden, die nicht jeder Narr vorhersehen kann."
„Aye, mit Vergnügen." Knapp überflog Anne Marys Antlitz und kam wie so oft nicht um den Gedanken herum, wie sehr sie diese Frau doch beneidete. Nicht nur ihrer Schönheit wegen, sondern auch um ihre Intelligenz und das unerschütterliche Selbstbewusstsein.
Sie beobachtete Jack dabei, wie er die Karten neu mischte. Gekonnt schob sich die eine unter die andere, bevor er das Deck unter ihnen aufteilte.
Ohne etwas durch ihre Miene zu verraten musterte Anne den Trumpf auf ihrer Hand. Konzentriert verfolgte sie jede Karte mit, die gespielt wurde. Teils unbedeutende, aber auch ein paar hohe waren dabei. Am Ende entschied sie die Runde allerdings für sich und kassierte die Münzen ein, die gesetzt worden waren.
Jonah war als Nächstes dran, das Glück neu zu mischen. Anne wollte ihr Deck bereits aufnehmen, als ihr etwas aus dem Augenwinkel auffiel. Oder besser gesagt jemand.
Erst dachte sie, dass sie sich geirrt haben musste, aber als sie einen weiteren Blick riskierte, war sie sich sicher, dass die zwielichtige Gestalt, die sich da an der Theke herumdrückte und den Schankmeister beschwatzte, kein anderer war als Sully.
Sully, der ihr in Harwich ihre Ehre hatte nehmen wollen.
Sully, der ihr Schmerzen zugefügt hatte.
Sully, der sie missbraucht hatte.
„Anne?", drang Jaspals Stimme zu ihr durch. Scheinbar nur, um sie daran zu erinnern, dass sie am Zug war. Aber als sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete, da entging ihr die leise Sorge nicht, die in seinen Augen aufglomm.
„Entschuldigt mich bitte." Den Fokus bereits wieder auf Sully gelenkt, schob sie ihre Karten zu Mary hinüber, die bisweilen nur Beobachter gewesen war und erhob sich.
Am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie nur, wie Jack zu einem Einwand ansetzte.
"Anne, was zum..." Doch noch ehe sein Blick dem ihren folgen, bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf ein plötzliches Handgemenge zwei Tische weiter gelenkt. Das schmutzige Lachen einer drallen Dirne bröckelte beinahe völlig an Anne ab und dass die verfluchte Ratte drauf und dran war, sich von jemandem die Nase brechen zu lassen, blendete sie nach zwei weiteren Atemzügen ebenfalls aus.
Alle ihre Sinne waren auf den Mann geschärft, der sie vor fast einem Jahr hatte brechen wollen. In ihrer Brust setzte ihr Herz zu einem wild trommelnden Rhythmus an, der nicht mit Angst, sondern mit blankem Zorn zu tun hatte. Rache. Sie wollte Rache an ihm üben. Damals war sie nicht dazu imstande gewesen sich zu wehren, geschweige denn nach dem Attentat für sich selbst einzustehen. Das hatten Jack, Diamond und die Besitzerin des Hurenhauses übernehmen müssen. Aber sie war nicht mehr die unerfahrene und zerbrechliche Anne Bonny aus London, die keine Ahnung vom Leben hatte. Sie würde ihn leiden lassen, wollte ihn winseln und heulen sehen und sich an den Tränen ergötzen, so wie er sich damals an den ihren ergötzt hatte.
Die Hände bereits zu Fäusten geballt, bereit zuzuschlagen, sobald er sich ihr zuwandte und sie erkannte, gesellte sie sich an seine Seite. Doch als er ihr schließlich einen müden Blick schenkte, die Augen trüb von Alkohol und womöglich zusätzlichen Rauschmitteln, da huschte keine Spur von Erkenntnis über seine Züge. "Guten Abend, Miss." Wollte er sie auf den Arm nehmen? Dieser Kerl wollte nichts mehr mit dem aus Harwich gemeinsam haben. Für einen Moment war sie sich unsicher, ob sie sich nicht doch geirrt, ob der viele Rum ihr nicht eine Halluzination an den Hals gehext hatte. Abermals überflog sie sein Gesicht, das sie unter Tausenden wiedererkannt hätte. Kein Zweifel. Das war Sully, auch wenn ihm die überhebliche Arroganz und das ekelhaft lüsterne Grinsen abhanden ...
Ihr Gedankenfluss fand prompt sein Ende, als der nach Schweiß und Bier stinkende Pirat beide Brauen hob und sie von Kopf bis Fuß musterte, bevor sich dieser lustvolle Glanz durch den Nebel in seinen Augen kämpfte. "Darf ich Ihnen einen Drink bestellten, Miss ..." Eine unbeholfene Art ihr den Namen zu entlocken, der ihm offenkundig entfallen war. Erinnerte er sich wirklich nicht an sie? Dann würde sie die Lücken in seinem Gedächtnis eben schließen.
Das hatte sie zumindest angenommen, aber als sie ihm ein zischendes "Bonny" an den hohlen Schädel geworfen hatte, wollte ihm noch immer kein Licht aufgehen. Erst wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte, als er ihr einfach einen Whisky bestellte. Hatte er all seine Erinnerungen mit dem Alkohol fortgespült oder ... Eine andere Vermutung zwängte sich ihr auf, die eine neue Welle des Zorns in ihrer Brust freisetzte. Oder war sie einfach nur eine von Vielen, denen er das gleiche Leid angetan hatte, dass es ihm schlicht unmöglich war, jede einzelne in seinem Gedächtnis zu bewahren?
Sie wollte ihren Dolch ziehen, ihm hier und jetzt die Klinge zwischen die Rippen rammen, genau zwischen die zwei Bögen, die sein schwarzes Herz schützen sollten. Aber sie besann sich eines Besseren. Im unteren Teil der Taverne gab es zu viele Zeugen und auch wenn Blackbeard ihnen versichert hatte, dass sie ausgenommen der vier kleinen Regeln absolute Narrenfreiheit besaßen, war es vermutlich besser, diskreter vorzugehen.
Also spielte sie Sullys kleines Spielchen mit, nahm den Becher Whisky dankend an und schenkte ihm ein solch liebliches Lächeln, wie es sonst nur Jack vergönnt war. Gekonnt lullte sie ihn mit charmanten Phrasen ein, wickelte ihn um ihren kleinen Finger. Während sie das tat, sah sie ihn vor ihrem geistigen Auge bereits vor ihr knien. Verheult, winselnd wie ein Köter. Dann röchelnd und blutspuckend, nachdem sie ihm seinen Schwanz abgeschnitten und ihm das Überbleibsel seiner angeblichen Männlichkeit ins Maul gestopft hatte. Sully war kein Mann. Er war ein ehrloser, kleiner Wurm, der es nicht würdig war, über diese Erde zu kriechen und sie würde ihn in wenigen Minuten unter ihrem Stiefel zerquetschen.
Es bedurfte nicht vielem Augengeklimper und sanfter Berührungen seiner klebrigen Finger, bis er ihr ahnungslos zum Treppenaufgang folgte. Hinein in sein Verderben, das er sich selbst zuzuschreiben hatte. Sie beglich lediglich eine alte Rechnung.
***
Neues Blut sammelte sich auf seiner Zunge und er spie einen weiteren Mund voll blutiger Rotze neben Ben in den Rinnstein, der sich ergeben die Seele aus dem Leib kotzte. Vorsichtig befühlte Jack alle seine Zähne und atmete erleichtert aus, als er feststellte, dass kein einziger davon wackelte oder gar abgebrochen war.
Dickes rotes Blut floss noch immer aus Jonahs Nase und der Steuermann stöhnte, als Jaspal ihm den vierten, feuchten Lappen reichte, den er sich hustend unter das angeschwollene Gesicht hielt.
"Zum ... Henker ...", entfuhr es Ben, seine Stimme ein heiseres Krächzen. Das finstere Licht der angrenzenden Straßen drang nur teilweise bis hierhin vor und hüllte ihre Gestalten in unkenntliche Dunkelheit. Das Piepsen von seinesgleichen erfüllte die Luft. "Ich schwöre es ... Ich habe nicht angefangen!" Seine Stimme mischte sich unter die Geräusche jener verhassten Tiere.
"Spielt ja wohl kaum mehr eine Rolle!", fauchte Jack. "Tatsache ist, dass dein ganzes, für den Schnaps ausgegebenen Geld, zusammen mit deiner Kotze im Rinnstein versickert."
Ben machte ein Geräusch, das Jack an ein ersticktes Schluchzen erinnerte, als jener sich mit dem Rücken an der Hauswand hinab gleiten ließ. Als hätte er noch immer genug Alkohol im Körper, dass er nicht bemerkte, wie er mit seinem Hintern in seinem eigenen, stinkenden Erbrochenem landete.
Ungehalten atmete Jack ein und wieder aus. Dann traf er eine Entscheidung. "Genug!"
Er griff nach dem Kragen seiner Ratte und zerrte ihn hoch, bewegte sich mit großen Schritten auf das Ende der Gasse zu, als er Winston's in Schatten gehüllte Silhouette an deren Ende erkannte. Dessen Hände ruhten routiniert auf dem Griff der Waffe in seinem Gürtel.
"Die Straße ist klar, Sir! Keine feindlichen Männer mehr in Sicht."
Jack nickte ihm zu, hörte gleichzeitig das Geräusch von Jonahs und Jaspals Schritten in ihrem Rücken.
"Wir bringen Mr. Scarlett zurück zum Schiff." Er wandte sich an seinen Maat. "Einen! Einzigen! Abend! Keine! Katastrophen! Was davon geht zum Henker nochmal nicht in deinen Schädel!"
Bens Blick lag verschwommen auf ihm. Dann wurde er blass um die Nase, würgte erneut und presste sich schwankend die Hand auf die Lippen. Jack schüttelte den Kopf. "Nur weil dich jemand in den Bauch boxt, kotzt du dir die Seele aus dem Leib, als würdest du das erste Mal vom Rum kosten wie eine gottverdammte Jungfrau."
Winston lachte, Jonah räusperte sich heiser.
Jaspal schwieg, bedachte die sich ihm bietende Szene mit wachsendem Unbehagen. Jack ließ seinen Blick über den kläglichen Rest seiner Crew gleiten, der sich noch nicht dem warmen Schoß einer Hure oder den schwindelerregenden Abgründen des Alkohols ergeben hatte. Er spie eine weitere Portion Blut über seine Schulter.
"Sie alle werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass der heutige Abend nicht im Geringsten so angenehm verlief, wie ein jeder möglicherweise für sich erhofft hatte", begann er, einer plötzlichen Eingebung folgend. Von Asbury flog ihm ein motiviertes Aye entgegen, Jonah und Jaspal nickten.
"Bisher wissen nur Sie und ich, dass wir den tragischen Verlust eines Crewmitglieds zu betrauern haben", sprach er weiter. "Ich ..." Er hielt inne. "Stimmen Sie mir zu, dass es im Interesse der Feierlichkeiten ist, den anderen Crewmitgliedern nichts von den genauen tragischen Umständen von Mr. Lesley's Tod zu berichten, sondern sie in dem Glauben zu lassen, er sei im Gefecht der Liebe auf Nassau untergegangen?"
Er blickte in ratlose Gesichter.
"Du meinst, wir sollen nicht erzählen, dass er zu Haifischfutter geworden ist?", fragte Jonah nach einem Moment der Stille.
Jack nickte. "Aye. Würde den Männern gegenüber womöglich ein allzu schlechtes Licht auf diese Insel werfen, die für den Moment all ihre Träume und Wünsche erfüllt, oder?"
Allesamt nickten sie.
"Mr. Asbury, helfen Sie mir und Jonah dabei, Mr. Scarlett auf sein Zimmer zu geleiten und den Schlüssel im Schloss herumzudrehen", wies er seinen Kanoniermeister an. "Jaspal, Sie gehen voraus und warnen uns, sollten wir auf weitere gewaltbereite Zeitgenossen treffen! Ich hab gestrichen die Nase voll von solchem Möwenschiss!", fluchte er.
Ohne weitere Worte oder Einwände setzte sich ihre Truppe in Bewegung und als sie auf die Hauptstraße einbogen, die sie zum Pier der Searose führen würde, gingen sie wortwörtlich in der Masse der betrunkenen und feierwilligen Seeleute unter, die zu so später Stunde noch unterwegs waren.
Es gab keinen einzigen Mann mehr, der noch geradeaus laufen konnte. Huren lachten schallend über die schlechtesten Witze und der schräge Klang von disharmonischer Musik wob sich unter sinnbefreite Gespräche und maßlos schlechten Gesang.
Nach ein paar Schritten richtete sich seine Aufmerksamkeit schlagartig wie die Nadel seines Kompasses auf eine einzige Frau in Hosen, die ihnen erhobenen Hauptes aus der Richtung der Taverne entgegenkam, in der der missratene Abend erst eskaliert war.
Anne.
Wo zum Henker war sie hin verschwunden?
Flüchtig streiften seine Gedanken die Momente, die der Prügelei vorangegangen waren. Ben, der es nicht ertrug zu verlieren. Anne, die seinen Platz einnahm. Ihr Gesicht, als hätte sie einen Geist gesehen und dann seine eigene Ausrede, sie würde sich wahrscheinlich nur ein neues Getränk besorgen, als Ben erneut all seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die Tatsache, die er so gut wie vollständig aus seinen Erinnerungen verdrängt hatte: Dass ihr Becher noch so gut wie voll gewesen war.
Verfluchte Hölle!
Geschickt wand er sich aus Bens Arm, überließ sein gesamtes Gewicht Jonah, der keine Worte bedurfte, um seinen Blick richtig zu deuten.
Sein blaues, sehendes Auge erzitterte. "Pass auf sie auf, Käpt'n!"
Jack nickte und blieb stehen. Sie kam genau auf ihn zu, doch sah sie ihn nicht an. Ihr Blick wirkte leer, auch wenn sich ein finsteres Lächeln an ihre Lippen geheftet hatte. Als sie auf seiner Höhe war und dazu ansetzte einfach an ihm vorbeizulaufen hielt er sie am Arm fest.
„Was zur ...", setzte sie zu fluchen an, bis sie ihn erkannte. Der Nebel in ihren Iriden löste sich auf. „Jack."
Erleichterung durchfuhr ihn wie eine Böe, die ihre Flagge aufbauschte. Er wollte sie so fest an sich drücken, dass er ihr den Atem raubte und jeden Zentimeter ihrer bloßen Haut küssen. Obwohl das bei der Atmosphäre um sie herum wohl weit weniger auffällig gewesen wäre, als lediglich eine Unterhaltung zu führen, unterließ er es.
"Wo zum Henker warst du?", zischte er stattdessen ungehalten. Sein Blick überflog ihr Äußeres und kam zu der Einschätzung, dass sie keine schwerwiegenden Verletzungen erhalten hatte, bis er an ihren Händen hängen blieb.
„Ich hatte eine Rechnung zu begleichen", drangen die Worte dunkel an sein Ohr und pressten ihm gleichsam alle Luft aus seinen Lungen.
Der Geschmack von Blut breitete sich erneut auf seiner Zunge aus, während er grob ihre Handgelenke umfasste und die Handinnenflächen nach oben drehte. Die rote verräterische Farbe erstreckte sich bis zu ihren Ellbogen, besudelte die Säume ihrer Ärmel. Seine eigenen Finger färbten sich rot, als er von ihr abließ.
Ihm entfuhr ein kraftloses "Nein."
Sein Fokus zuckte von ihr weg, auf die Straße hinter sie, auf der sich nichts Ungewöhnliches abzeichnete, glitt innerhalb eines Atemzuges über Hausfassaden und Dächer auf der Suche nach versteckten Scharfschützen. Nichts.
Anne schien sofort zu begreifen, welche finstere Vorahnung seinen Verstand heimsuchte. „Nicht der König", meinte sie daher leise. „Ich habe mehr an seiner Würde gekratzt, als er an meiner." Als würde sie erst jetzt registrieren, wie miserabel Jack aussah, fügte sie an: „Und dich habe ich auch nicht ... zusammengeschlagen. Was zur Hölle ist mit dir passiert? Warte ... Ben ... bevor ich ging ... oh, so eine verblödete Ratte!"
Die Erleichterung darüber, dass der König der Insel offenbar friedlich mitsamt aller seiner Gliedmaßen in den Armen irgendeiner Frau lag, wurde von einer neuen Welle an Schmerz abgelöst, die seinen Kiefer durchfuhr und er spuckte ein weiteres rotes Rinnsal über seine Schulter.
"Ben ist ein Idiot. Und ich bin ein noch größerer, dass ich mich in seine Angelegenheiten einmische", gab er zu. Ihre Sorge um ihn löste mehr Schmerzen in Luft auf, als eine ganze Flasche Whisky es je gekonnt hätte. Doch so sehr er es sich wünschte, gelang es ihm nicht, sich vollständig ablenken zu lassen. "Von was für einer Rechnung sprichst du?", fragte er also.
„Das ..." Sie zögerte ihm zu antworten. Ihre blutbesudelten Finger verschwanden in ihrer Hosentasche und nur einen Wimpernschlag später blitzte das Silber eines ihm vertrauten Gegenstands auf.
"Was zum ..." Dunkel erinnerte er sich daran, was Anne ihm nach der Schlacht von Ratnagiri offenbart hatte. Dass der ehemalige Shipdoctor der Searose sich sein Schweigen über ihr wahres Geschlecht mit eben jenem Silber hatte bezahlen lassen. "Custerly!", sprach er leise. "Ist er hier?"
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie von Blackwood. Aber darauf will ich gar nicht hinaus." Verwirrt folgte er ihren Worten. „Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Da hast du sie mir zurückgegeben." Kurz lächelte sie. „Was zusammengehört, findet wohl immer wieder den Weg zueinander zurück."
Er unterdrückte ein ungeduldiges Aufseufzen, fuhr sich mit der Hand durch sein Haar.
Ihm lag auf der Zunge sie zu fragen, ob sie sich von einem der zwielichtigen Straßenstandverkäufer Rum hatte andrehen lassen, in dem grüne Blätter, absonderliche Pilze oder gar Eidechsen und Frösche eingelegt gewesen waren, doch er schluckte die Frage herunter. "Das Blut an deinen Händen, Anne!", raunte er eindringlich, seine Stimme wurde lauter. "Von wem ist es?"
„Sully." Ein mäßig flackerndes Feuers glomm im Sturmgrau ihrer Iriden. Als wäre es gesättigt und zufrieden.
Er runzelte die Stirn. Den Namen seines ehemaligen Segelmachers aus ihrem Mund zu hören, war das letzte, auf das er gefasst gewesen war. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und erlaubte sich tief ein- und wieder auszuatmen, seine Gedanken und Prioritäten an diesem missratenen Abend neu zu ordnen, an dem sich die Katastrophen aneinanderreihen wie Perlen an seiner Halskette. "Hat dich jemand gesehen?"
„Nein." Die Antwort kam so schnell und ohne Umschweife, dass er sich der Wahrheit, die sie enthielt, sofort sicher war. Dennoch konnte er heute Nacht getrost auf weitere Tragödien verzichten, also zog er sie mit sich an den Rand der Straße in eine schmale Nische zwischen zwei Häusern.
"Wie kannst du dir so sicher sein?"
„Weil es nur mich und ihn in diesem Raum gab." Erneut eine direkte Erwiderung. Kein Zögern, kein Stottern.
"Du warst mit ihm allein in einem Raum?"
Sie nickte. „Aye. Wie hätte ich ihn sonst unbemerkt ... Du weißt schon." Mit dem Zeigefinger fuhr sie sich den Hals entlang. „Aber ist das nicht egal? Er war ein unbedeutender Wurm und das, was ich ihm angetan habe, hatte er sich selbst zuzuschreiben. Niemand wird ihn vermissen, Jack."
Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.
Er wollte sie an sich drücken, um die Angst um sie durch ihre bloße Nähe zu vertreiben.
"Aye, ich will dir nicht das Recht absprechen, Vergeltung zu üben, Anne!" Er wollte weiter sprechen, doch es gelang ihm kaum mehr die richtigen Worte zu finden. Schließlich zuckte er mit den Schultern. "Hoffen wir, dass dich niemand mit ihm gesehen hat und sein Käpt'n ihn wirklich nicht vermissen wird."
„Ich glaube nicht, dass er irgendwelche Freunde hatte. Sonst wäre er wohl kaum völlig allein an der Theke gesessen. Aber wie dem auch sei ..." Lächelnd streckte Anne ihm die blutigen Finger entgegen. „Lass uns zurück auf die Searose gehen. Dann kann ich mich waschen und Mary kann dich zusammenflicken."
Ohne zu zögern verschränkte er seine Finger mit den ihren. Das getrocknete Blut des Segelmachers begann eine seltsam zerbrochene Schicht auf der Innenseite ihrer beider Hände zu bilden, als sie zurück auf die Hauptstraße kehrten.
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