Inahar - 1. - 3. Kapitel
I: Die Flammen des Zorns
verfasst von
Florian Rommel
nach einer Idee von
Florian Rommel & Stefan Wegner
künstlerischer Berater
Stefan Wegner
1.Band
-1.Buch-
Es wartet eine neue Welt auf dich,
nach jedem Sonnenaufgang,
hinter jedem Horizont,
einem leisen Echo gleich
Unausweichlich betrittst du sie,
mit jedem Schritt,
mit jedem Atemzug,
mit jedem Tag, der verstreicht
Was hinter dir liegt,
lasse zurück,
lass Erinnerung werden,
wie leuchtende Sterne in der Nacht
Was dich erwartet,
behalte im Blick,
begrüße mit Freude
als wäre es das letzte Mal
Fürchte nicht das Fremde,
erlebe es,
auf das es dich weiter und weiter trägt
in die neue Welt.
~Vorspiel~
Manche Lebensabende fügen sich so, dass man allein in seinem Kämmerlein sitzt, ein Glas jinarischen Weines zwischen den Fingern dreht und das duftende Aroma der würzigen Aneas-Traube in seine Nüstern zieht. Man denkt über sein Leben nach - die Wahrheiten, die man hinterlässt, die Lügen, die einem nachhallen und wiegt das Für und Wieder ab.
War es ein gutes Leben? Manch einer mag sich für den größten aller Dichter halten und sein Leben in den letzten Stunden in allen Facetten zu Papier bringen. Vor dem prasselnden Feuer eines Kamins, der mehr der Atmosphäre dient als der tatsächlich spendenden Wärme, müht man sich ab, seine Vergangenheit für eine Zukunft niederzuschreiben. Zu dem Zweck, nach vorne zu schauen und nicht zurück. Nicht selten sitzt man dann in Yordans Reich, blickt hinab ins Reich des Sterbens und merkt, welch Nichtigkeiten man doch den Lebenden hinterließ. Dann jedoch wird einem klar, dass es nicht die eigene Geschichte ist, die für die Vergessenden unvergessen gemacht werden muss – es ist die Geschichte eines jeden Einzelnen, die es zu hinterlassen gilt.
Ich kniete pflichtbewusst vor dem Thron des Königs nieder, dessen Anblick nun meinem Willen zum Abschied nicht mehr im Geringsten zu berühren vermochte. Zu lange diente ich einem anderen Herrn, sodass mein Lebensabend nun mir alleine gehören soll. Und so tat ich das, was ich am besten konnte und mein Leben seit jeher prägte: ich erzählte Geschichten.
„Nun, Meister Haloc Ohneson, wir sind noch weit entfernt vom Ziel und mich betrübt die Zeit, die wir warten müssen."
Ich hob meinen Kopf und heuchelte die Treue, die jeder König auf jedem Thron gern hörte. Wie ein Schauspieler auf seiner Bühne mühte ich meine müden Knie, mich groß zu machen und breitete die Arme weitaus. Ich blickte jedem im Saal direkt in die Augen, spürte in jedem den Drang und die Ungeduld, was für eine Geschichte Haloc, der Chronist, der Diener vieler Herren, wohl zu berichten vermochte. Meine Stimme hat von ihrer Kraft nichts eingebüßt, mein Körper war vom Alter gezeichnet, aber meine Stimme und meine Hände waren meine Stärken und standen in derselben Blüte wie einst vor 70 Jahren.
Und so drehte ich mich bedeutungsvoll unter dem rauen Atem der staunenden Beobachter und neigte meinen Kopf dem Thron entgegen. Jener, welcher ihn in diesem Moment besaß, rieb sich die Hände und konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken.
Der Thron in der Bellefemme, dem Stolz der abastianischen Luftschiffflotte, hatte ebenso viele Hintern gespürt wie sein Bruder weit unter uns im Palast der Hauptstadt. Und zumindest ebenso viele werden noch folgen. Wen kümmert es noch, wer sich momentan in seinen Stoff drückt?
Ich musste unweigerlich lächeln und schüttelte den Kopf, hob aber sofort die Hand, um den Umstehenden zu zeigen, dass lediglich meine eigenen Gedanken mir Freude bereiteten. Diese Geschichte würden sie zu hören bekommen.
„Nun denn. Nach was gelüstet es euch zu hören, mein Herr?" Ich verbeugte mich tief und ließ dem König Raum zu denken, obwohl ich bereits den ersten Vers meiner Erzählung auf den Lippen hatte. Es gab in meinem Leben nur die eine Geschichte. Jene, die mir immer im Herzen brannte und die ich für meine letzten Stunden stets bereithielt. Es gab nur die eine Erzählung, die ich in all ihren Facetten geheim hielt, bis ich sie nicht länger tragen konnte. Ich würde sterben noch vor Ende der Reise. Das spüre ich seit einiger Zeit schon, aber was für ein Chronist wäre ich, wenn ich die wichtigste und größte aller Geschichten mit unter die Decke ziehe, die mich beim letzten Atem warm halten wird? Die Zeit war gekommen, das Publikum perfekt und so fügte sich doch alles dem Ende entgegen.
„Erzählt mir eure Geschichte Haloc.", unterbrach der junge König meine Gedanken. „Ihr dientet meinem Vater und dem König vor ihm und wer weiß wie vielen Herren noch?! Euer Leben muss einige Weisheiten bereithalten."
Ich grinste leicht, aber nur so, dass nur mein eigener Schatten es hätte bemerken können. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber im Endeffekt waren die Worte des Thronsitzers bedeutungslos gewesen.
„Das werde ich mein Herr, ich erzähle euch meine Geschichte und es wird auch die eure sein. Es wird die Geschichte eines jeden hier im Raum." Ich drehte mich nochmals um meine eigene Achse und zeigte mit meinen straffen Fingern einmal in die Runde.
„Ich erzähle euch die Geschichte unserer Nation – Ihre Geburt, wie es wirklich war. Ich berichte euch von Freundschaft und Hass, von Liebe und Intrige, von Mut und Verzweiflung und vom kostbaren Gut des Lebens. Es ist die Geschichte einer vergessenen Vergangenheit, beschönigt und gerade gerückt für diejenigen, die sie nicht hören wollten. Ich habe mein Leben zu Ende gelebt und hinterlasse euch diese Geschichte als mein Vermächtnis."
Der angehaltene Atem drang wie ein lauter Hammerschlag an mein Ohr. Weit aufgerissene Augen durchdrangen jede Faser meines alten Körpers. Der heutige König wackelte auf seinem Thron und schrumpfte zusammen wie ein kleiner Junge.
„Nun.", sagte ich im Flüsterton, „Ich beginne dort, wo eine gute Geschichte beginnen sollte: am Anfang."
~Prolog~
Manch eine Geschichte findet ihren Anfang in unvermittelter Art und Weise. Mit einem spannenden Eingang, der den geneigten Zuhörer sofort in das Geschehen zieht. Eine andere beginnt ruhig und besonnen. Der Betrachter wird in Sicherheit gewogen, lernt die dargebotenen Helden kennen und lieben und wird umso mehr gefesselt von den emotionalen Ereignissen auf dem Höhepunkt. Manchmal jedoch – und gerade dann, wenn es zu einem zentralen Thema der Geschichte gehört – muss die Geschichte mit dem beginnen, womit sie auch aufhören wird:
Mit dem Bösen.
Und so begab es sich, dass in einem dunklen, düsteren Raum, eine Gestaltverhüllt in tiefem Schwarz, umhangen mit einem Mantel dunkler als die schattigste Ecke der sonnenlosesten Kammer, vor einem Tisch saß. Und darauf ausgebreitet war ein Karte. Auf der Karte befanden sich Figuren aus weißem Gestein gehauen und mit verschiedensten Symbolen verziert. Feucht tropfte kühle Nässe aus den Rillen und Rissen der Mauer auf das Pergament der Karte und auf das Holz der Bodendielen.
Die Gestalt atmete tief, die Kapuze des Umhangs blähte sich leicht unter den schweren Zügen, die seine Lunge tat. Seine Hände ruhten sanft an den Kanten des Tisches, an denen die Karte endete und dennoch ächzte das Holz, als würde eine schwere Last auf ihm ruhen. Das Flackern einer Kerze, halb zu Boden niedergebrannt, umhüllte die Gestalt und warf die engen Wände der Kammer in ein bedrohliches, rötliches Leuchten und knisterte hörbar wie der prasselnde Kamin einer Jagdgesellschaft.
Plötzlich setzte eine endlose Stille ein. Keine Stille wie, man sie sich vorzustellen vermag. Nicht wie das Rauschen von Blättern im Wind, das allmählich erstirbt. Nicht wie das hilflose Gekreische eines Schweins auf der Schlachtbank, bis ein Schnitt die Kehle durchtrennt. Nein, viel mehr erstarb jegliches Geräusch in dem kleinen Zimmer, als würde alles nur auf die folgenden Worte warten, die gleich kommen mögen. Oder aber vielleicht auch so, als würde es Angst haben, die Gedanken, die unausgesprochen blieben, zu stören. So also verstummte das Tropfen des kalten Wassers aus dem leblosen Stein. So also bemühte sich das Holz des Tisches unter der Last der tätigen Hände nicht zu ächzen. So also verpuffte das Knistern der Kerze zu einem stummen Zischen, behielt das gemächliche Flackern aber aus Pflichtgefühl bei. Und selbst der Atem der verhüllten Gestalt verstummte, denn er musste der Stimme Platz schaffen.
„Die Figuren sind gesetzt!" Die Gestalt löste die rechte Hand vom Holz des Tisches und man konnte beinahe hören, wie dieses erleichtert aufseufzte, würde es sich denn trauen, ein Geräusch zu machen.
„Mistar wird dein sein, mein Herr!" Die rechte Hand schwebte formlos über die Landkarte des östlichsten Kontinents von Inahar.
„Drei Reiche vereint, wie einst. Drei Reiche von Blut gezeichnet, in Blut ertränkt und aus Blut wieder auferstanden." Die Hand der Gestalt ließ den Zeigefinger über drei Punkte auf der Karte wandern. Dabei berührte sie die weiße Figur mit dem roten Symbol, die auf der nördlichsten Stelle der Karte stand.
„Acheron, Abas und Keade. Drei Brüder, drei Feinde und dasselbe Schicksal. Da, wo sie versagten, werde ich euch stützen." Weitere kleinere Figuren standen überall auf der Karte verstreut. Sie alle waren schwarz bemalt mit einem weißen Fleck auf der Brust.
„Es ist alles vorbereitet. Alles bereit für ein glorreiches Ende. Und die Figuren bewegen sich auf ihr Schicksal zu."
Die Gestalt löste auch die linke Hand vom Holz des Tisches und ließ beide in gleichsamen Bewegungen über die Karte fliegen, wobei sie einem einstudierten Muster zu folgen schien. Ihr tiefer Atem verdrängte die eisige Stimme und sog die stummen Vibrationen der einzelnen Figuren in sich auf. Dann trat eine Stille ein. Nicht dieselbe Stille, die der Regen macht, bevor er unvermittelt in den Sonnenschein mündet. Auch nicht dieselbe Stille, die ein Genickbruch bei einem Fallenden verursacht. Vielmehr war es so, als würde nichts in dem Raum es wagen, den Worten der Gestalt zu widersprechen.
Und dann klopfte es an der Tür. Die Gestalt atmete tief aus. Das Knistern der Kerze übertönte das leichte Ächzen des Holzes, als die Gestalt sich zum Aufstehen darauf stützte. Während sie einen Tropfen in der hohlen Hand fing, welcher sich aus einem Riss in der Decke pellte, öffnete sie mit der anderen die Tür, nickte der Person am anderen Ende knapp zu und schloss sie dann zu einem schmalen Spalt.
„Dann werden wir also wieder dienen für den höheren Zweck!"
Die Gestalt grinste zu der Karte hinüber und sprach wortlose Zeilen in den Raum hinein. Dann trat sie hinaus und schloss die Tür hinter sich und es war, als würde der Raum plötzlich von allem Leben erfüllt, den eine karge Kammer hervorbringen konnte.
-1. Kapitel -
-Darsalia, Gasthof Mithlandträume -
4532.Narrenai - vormittags
Feuer. Flammen. Wolken der Schwärze verdunkelten den Himmel. Hannibal Modakes konnte sogar noch den Rauch riechen, denn er roch anders in dieser Nacht. Er roch nach Eisen. Eisen und Blut.
Das Klacken von Stiefeln. Befehle hallten durch die Straßen. Schreie von Frauen, Knaben und Neugeborenen. Hannibal spürte, wie die Gänsehaut an seinem Körper versuchte, ihn langsam in einen neuen Tag zurückzuholen. Schweiß perlte von seiner Stirn und er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Der Atem verließ seinen Hals stoßweise und nebelig. Sein Herz pochte unter der Last seiner Träume und seine Augen tanzten wild unter den Lidern. Da war sie wieder.
Diese Nacht. Die Nacht, an dem sich alles verändern sollte für den damals jungen Spross einer der angesehensten Familien Abastias. Wenngleich er träumte, so waren die Bilder spürbar und unmittelbar – für Hannibal sogar wahrhaftig. Die dramatischen Ereignisse droschen auf seinen betrübten Verstand ein und ließen sein Gesicht unvermittelt zucken, das den Schmerz hinter einzelnen Strähnen seiner langen, schwarzen Haare noch allzu offen zur Schau stellte.
Es war der Tag, an dem das abastianische Heer den Aufstand des Volkes der Jinariinseln in einen blutigen Haufen Schutt verwandelte und einen jungen Offizier seinen Dienst beenden ließ.
Er wandelte wieder und wieder durch diese Straßen und blickte auf die Zerstörung und die Leichen. Ein Kind lag mit dem Gesicht auf dem Boden. Reglos - ein Kuscheltier in der Hand haltend – von Ruß bedeckt und gesäumt von Asche, die das Straßenpflaster in Dunkelheit teerte. Hannibal war dort gewesen. Wieder und wieder. Nacht für Nacht.
Plötzlich drehte sich das tote Mädchen herum und starrte ihm mit leblosen, weißen Augen bedrohlich entgegen. Eine Stimme, scharf wie ein Messer, schnitt schmerzvoll und flüsternd durch seine Ohren.
Wo warst du?
Hannibal schnellte nach oben. Seinen Lungen rangen um Luft und seine Augen kämpften mit der Helligkeit am Vormittag dieses Tages. Das vom Schweiß durchtränkte Nachtgewand klebte unangenehm an seinem Körper. Er hatte es geschafft. Einmal mehr ist Hannibal Modakes seinen Albträumen entkommen und konnte diesen düsteren Teil seiner Erinnerungen in den genauso düsteren Teil der Nacht verbannen. Er war aufgewacht und kam langsam zu sich. Ein leichtes Pfeifen auf seinen Ohren wich stetig den Geräuschen der geschäftigen Straße. Die ersten Sonnenstrahlen begannen in das Schlafzimmer im ersten Stock seiner Unterkunft zu gelangen und das Licht erreichte schließlich Hannibals Gesicht. Es blendete ihn nicht. Langsam schloss er die Augen. Nicht um wieder einzuschlafen, sondern um die Wärme auf seinen Wangen willkommen zu heißen. Ein neuer Tag. Ein neues Abenteuer.
Ohne weiteres Zögern stand Hannibal auf und begab sich zur Waschstelle auf der anderen Seite seines Zimmers. Das Marronholz, mit dem Boden, Decke und Wände getäfelt waren, verlieh dem Raum eine unglaubliche Wärme. Auf einem kleinen Holzbock vor ihm stand eine Schüssel gefüllt mit frischen Wasser und einem Handtuch daneben. Er entkleidete sich und blickte in den Spiegel, der vor ihm an der Wand in der Ecke hing. Hannibal sah einen Mann, dessen muskulöser, gestählter Körper von Narben des Kampfes übersät war, dessen Gesicht die Falten des Soldatenlebens hinter einem kräftigen schwarzen Vollbart und einer langen, schwarzen Haarmähne verbarg. Für einen kleinen, kaum spürbaren Moment gab sich Hannibal etwas Raum, um sich zu erinnern. Nur um im nächsten Moment die Gedanken abzuschütteln, sich selbst anzulächeln und sich nun endlich zu waschen. Die anderen warten sicher längst. Als er sich gesäubert hatte, legte er unverzüglich seinen reichverzierten Lederharnisch an und schnallte sich seinen Schwerthalfter um die Hüfte. Nun war er bereit.
Er verließ das Zimmer, ging den Gang der Herberge zur Treppe entlang und konnte, an der ersten Stufe angekommen, das morgendliche Ritual der zwei Frauen in seinem Leben schon vernehmen. Belustigt hielt er sich am Geländer fest und lauschte amüsiert Tio, seiner Wegbegleiterin und Varischa, seiner Gastwirtin, wie sie wie üblich an einander vorbeiredeten.
„Wie kannst du kleine Katze es wagen, das gute Tafelsilber meiner Großeltern als nachgemacht zu bezeichnen", sagte Varischa, offensichtlich in Fahrt. Hannibal konnte sich die Gesichter lebhaftvorstellen, obwohl er die beiden nicht sehen konnte. Varischa würde mit ihren 60 Jahren und langen schneeweißen Haaren und vor Wut feuerroten Kopf giftige Blicke zu Tio hinüberwerfen. „Das habe ich gar nicht gesagt. Nur dass das, was du da in den Händen hältst, kein Silber ist." Der zarten Stimme von Tio wohnte eine Gelassenheit inne, wenngleich auch eine tiefe, unbeschreibliche Kraft mitschwang. Daran konnten Weltenbummler wie Hannibal das Volk der Tengani – auch das weise Volk genannt – sofort ausmachen. Ihre Präsenz war den Menschen stets deutlich spürbar. Auch wenn diese Tengani ihre Präsenz sehr gut unterdrücken konnte. Ihren Humor oder vielmehr ihre Vorliebe, Varischa zu necken, würde sie niemals verbergen können.
„Antio Ayria Driis! Auch wenn du nicht aus Keadis kommst", schnaufte Varischa und holte tief Luft, „ein Mindestmaß an Höflichkeit kann man von allen Geschöpfen Inahars erwarten. Auch von dir!"
Hannibal wusste, es war Zeit, einzuschreiten, um ein Blutbad oder weitere ausfällige Worte zu verhindern. Und so begab er sich die knirschenden und knackenden Stufen hinunter, um Inahar vor seinem Untergang zu bewahren.
Die Szene, die sich Hannibal auftat, einmal am großen Empfangsbereich der Herberge angekommen, war ihm vertraut und doch musste er jedes Mal wieder darüber schmunzeln. Da waren nun beide Damen am Tresen: Varischa ein vielleicht nicht so echt silbernes Messer in der einen Hand und ein Poliertuch in der anderen und schäumend vor Wut ob der Frevelhaftigkeit dieser manchmal allzu unbedarften Tengani namens Tio.
„Guten Morgen. Welch herrlicher...", Hannibal wurde sofort unterbrochen.
„Hannibal, ich will deine Tenganifrau hier nicht mehr sehen!" Varischa schnaubte verächtlich und funkelte wütend zu Tio herüber. „Jedes Mal, wenn sie hier ist, beleidigt sie eines meiner Erbstücke. Ich ertrage das nicht mehr." Nun beruhigte sich Varischa etwas und sie seufzte leicht. „Sie hat ja recht. Aber es muss doch nicht gleich jeder wissen, dass meine Familie arm war."
Hannibal kratzte sich am Hinterkopf mit weit aufgerissenen Augen und blickte ratlos zu Tio. Das Mädchen, das am Rande des Tresens saß, zeigte in seinen Augen einen Aufschrei von lieblichem Leben. Er hätte sie beinahe für ein kleines Mädchen gehalten, hätte sie nicht den vollendeten Körper einer Frau und einen Blick unendlich tiefen Wissens. Ein Blick in einem Gesicht von so makelloser Schönheit und Tiefsinn, mit blauen Augen, dunkler als das grundlosen Meer und durchdringend wie feinster Stahl aus königlichen Schmieden. Scharf und markant stachen die Gesichtszüge katzenhaft hervor und betonten ihre zierliche Kindlichkeit auf dunkelbrauner Haut. Sie trug einen Ausdruck, der unwirklicher nicht wirken konnte. Sie trug ein Gesicht, das in jeder Hinsicht jedes Gesicht, das er kannte, unmenschlich erscheinen ließ. Ihr Körper war in enges Leder geschnürt, welches an diversen Stellen mit Stahlnieten versehen war. Es war eine Rüstung, doch Hannibal konnte sich das all ihrer gemeinsamen Zeit zum Trotz immer noch nicht vorstellen. Zu knapp war sie geschnitten, zu leicht ließ sie allerlei Stellen offen liegen und nackte Haut hervorblitzen. Man musste schon schneller sein als jeder Mensch, den der Abenteurerkannte, um sich in so einer Rüstung sicher zu fühlen. Der schwarze Lederrock warf schmale Falten bis knapp übers Knie und brachte nackte Beine hervor, die lose vom Rand des Tresens baumelten. Ihre gesamte Gestalt war zierlich, aber voller Kraft. Und auch wenn sie wirkte wie ein junges Mädchen, wusste Hannibal, dass das Geschöpf vor ihm – seine Begleiterin – womöglich doppelt so alt wie er selber war. Sie wirkte immer noch so fremd in dieser Stadt wie sie in Mistar – dem Kontinent der drei Reiche – auch tatsächlich war.
„Aber Varischa", Tios kesser und frecher Blick wich einer Güte, wie nur Tio sie zeigen konnte. „Deine Familie war nie arm."
Hannibal spürte, wie eine wohlige Wärme von ihren Worten auf ihn übersprang. Ein Gefühl, das die Tengani spielend leicht mit Worten ihrem Atemgleich in Räumen verteilen konnten. Varischas Gesicht kehrte augenblicklich zu seiner gewohnten Farbe zurück und ihr verzweifelter Blick entwich in einem Lächeln.
Tio fuhr fort, „ Reichtum misst sich nicht an Silberlingen, sondern an dem Gelächter, das in einem Haus zu hören ist."
Nun nickte Varischa bedächtig und machte sich fast augenblicklich wieder ans Polieren des falschen Silbermessers. „Du hast recht, mein Kind." Hannibal verkniff sich unterdessen ein Grinsen ob der Ahnungslosigkeit Varischas über Tios wahres Alter. „Wollt ihr etwas essen? Wir haben frischen Quenrispeck. Ich hau euch dazu ein paar Eier in die Pfanne." Jetzt war auch wieder deutlich die Güte in der Stimme der Wirtin des Gasthauses Mithlandträume zu hören.
„Gerne und darf ich etwas von dem Brot haben? Das mag ich besonders", Hannibal lächelte im Vorbeigehen Varischa zu, die nur kurz nickte und das Besteck beiseitelegte. Tio sprang vom Tresen herab und folgte ihrem Anführer in die Gaststube hinein. Der Raum war von Sonnenstrahlen erfüllt. Die Fenstergläser, die etwas milchig am Rand ob des Alters waren, ließen die angenehme Wärme des Tages und sein Licht hinein. Die ein dutzend Tische waren gut besetzt und an einer runden Tafel in der Ecke konnte Hannibal seine Gefolgschaft erspähen. Durch die Stube hindurch ging Hannibal an den Stammgästen vorbei und nickte ihnen zu und sie nickten zurück. Als er an ihnen vorbei war, hatten sie nur noch Augen für die Kurven der Tengani hinter ihm und ihren Tagträumen darüber.
Die täglichen Besucher der Mithlandträume schätzten den Dauergast für seine spendable, freundliche Art und der ehemalige Hauptmann schätzte es, mit Klatsch und Tratsch aus ganz Keadis von ihnen versorgt zu werden. Vor der Tafel seiner Gefolgsleute blieb er stehen und begrüßte sie: „Heda! Ein schöner Morgen!" Eine Antwort blieb zunächst aus. Und Hannibal betrachte sie argwöhnisch.
Was er sah, war der Swindler Wusch, der Dnom namens Lorim, sein treuer Freund Cäsar und Tio, die an ihm vorbei sich gerade zu den Dreien setzte.
Wusch und Lorim konnten unterschiedlicher nicht sein. Wusch ging Hannibal bis zur Hüfte, was für einen Swindler beachtlich groß war. Diese Lebewesen wurden oft verächtlich als sprechende Ratten bezeichnet, was der bloßen Erscheinung Genüge tat, jedoch nicht ihrem Wesen. Zwar waren alle Swindler versessen auf glänzende Dinge und nicht selten auch verschlagen genug, um sie zu ergattern – egal mit welchen Mitteln. Jedoch musste man auch ihren Verstand anerkennen, der sich hinter einer gebrochenen, kindlichen Sprache verbarg. Wusch jedenfalls, so dachte Hannibal, war nicht nur gerissen, sondern auch sehr umsichtig in seinem Tun. Wusch war damit beschäftigt, eine Goldkette zu inspizieren, die er zweifelsohne beim Kartenspiel mit Cäsar, Lorim und einigen Gästen ergattert hatte.
Der Blick Hannibals fiel auf Lorim. Dieser Dnom war ein Kuriosum an sich. Wäre nicht die Größe des Halbmannes für einige Augen schon befremdlich genug, schien er sich redliche Mühe zu geben, anders zu wirken. Ein hellblonder Bart zog sich an seinen Wangen entlang, um am Kinn spitz zusammenzulaufen. Dort, wo der Bart in tätowierte Haut überging, ließen schmucklose Ringe kaum Platz, die Hautfarbe des Halbmannes zu erahnen. Sein Kopf war kahl rasiert und trug einen roten Drachen zur Schau, der seine Flügel einmal um das Gesicht zu jedem Ohr schlug und dessen aufgerissenes Maul auf der Stirn bedrohlich prangte. Die Kleidung des Halbmannes war dagegen in schlichtem Weiß gehalten. Nur eine braune Lederweste gab dem ganzen einen gewissen Farbtupfer. Lorim achtete im Moment nicht auf seine Umwelt. Er tüftelte bereits wieder an einer seiner Gerätschaften. Dazu saß auf seiner Nase eine von ihm entworfene Brille, deren rechtes Glas eine Vergrößerungslinse und deren linkes Glas abgedunkelt war.
Hannibal nahm Platz an der Tafel und saß Cäsar gegenüber. Mein Gewissen und mein Bruder, dachte Hannibal bei sich. Das drahtige, hagere Gesicht lächelte freundlich zu Hannibal hinüber und nickte ihm kurz zu, bevor er sich wieder auf das Vesper auf seinem Teller und Varischas selbst gemachter gesalzener Butter widmete. Unzählige Schlachten und Abenteuer bestritten die beiden und Cäsar folgte Hannibal gerne – selbst bis in die tiefsten Tiefen der Unterwelt hinein.
Der Abenteurer bemerkte, dass er in Gedanken versunken war, schüttelte seine Gedanken ab, blickte in die Runde und wagte einen zweiten Versuch. „Was gibt es Neues?"
„Unser Anführer verträgt den Amura Bocksprudler nicht mehr", sagte Lorim, ohne von seiner Tüftelei aufzuschauen. Er grinste dennoch ein wenig. Hannibal verzog eine leicht schamvolle Grimasse und vergrub anschließend sein Gesicht in einer Hand, um es etwas zu entspannen.
„Viele Gläser. Sehr viele Gläser. Wusch... und weg waren sie und dann war es um Hannibal geschehen." Wusch ließ von dem Schmuckstück in seiner Hand ab und schaute seinen Anführer freundlich an. Er wackelte etwas mit seinen Füßen, die von dem Stuhl über dem Boden hingen.
Hannibal indes sackte beinahe zusammen, wüsste er nicht, dass die beiden ihn nur zu gerne aufzogen. Ein harmloser Scherz unter Freunden.
Dann mischte Cäsar sich ein. „Wann lernst du endlich, Hauptmann, dass mit unseren Schnäpsen keine Tengani betrunken zu machen ist?"
„Nenn mich nicht so, Cäsar", Hannibal seufzte dabei leicht als Varischa von hinten plötzlich ein Tablett mit dampfenden Quenrispeck ,duftenden Brot und einigen Spiegeleiern auf die Tafel stellte. Wusch und Lorim unterbrachen ihre Arbeiten und nahmen sich jeweils etwas auf ihre Teller. Sie bedankten sich bei Varischa damit, das sie lebhaft schmatzten und jauchzten. Zufrieden ging Varischa zum nächsten Tisch. Auch Hannibal begann sich etwas Speck und Eier zunehmen. Der erste Bissen des Tages sollte jedoch diesem köstlichen Brot gelten. Nach den ersten wohltuenden Stücken in seinem Mund fuhr Hannibal fort: „Festungen mein lieber Cäsar, kann man nur einnehmen durch stete Belagerung und beharrlichen Beschuss..."Beide grinsten sich vielsagend an, während Tio ihre Hände in die Hüfte legte und den Kopf leicht schief zu einer Seite senkte. „Eben habt ihr doch noch von Schnaps gesprochen, was hat das mit Festungen zu tun?" Cäsar löste mit einem Lachen Tios Spannung auf. „Das ist Gerede von Soldaten mit zu viel Zeit". Tios Haltung entspannte sich, soweit das bei Tengani möglich war und Cäsar fuhr fort: „Und das ist unser Problem, Hauptmann. Zu viel Zeit und zu kleine Geldbeutel."
Eifrig nickten Wusch und Lorim Cäsar zu, mit ihren Backen voller Speck und Eier.
„Nenn mich nicht so. Dennoch, du hast recht. Wir verprassen Bronzedots, die wir noch verdienen müssen. Die letzten beiden Siebttage waren etwas mager und nur vom Schmierestehen für betuchte Kinder werden wir nicht reich." Hannibal schaute dabei etwas verdrießlich auf sein Brot, was Cäsar nicht entging, bevor Hannibal erneut ausholte, „wir brauchen eine Gelegenheit. Bei Roussa und Sonnest. Wir brauchen etwas Glück. Ich bin gerne hier in Darsalia und Keadis. Aber ich fürchte, wenn sich nicht bald etwas ändert, müssen wir weiterziehen."
Die Blicke von Wusch und Lorim – noch immer beim Essen –verfinsterten sich. Der Swindler fühlte sich hier wohl, weil es viele Marktplätze gab und entsprechend viele krumme Geschäfte und leichtgläubige Käufer für ihn. Und Lorim liebte die Berge. Er war ein Dnom und suchte von Haus aus die Nähe zu Gestein und davon gab es in Darsalia reichlich.
Cäsar nahm der Tafel seiner Gefährten die Anspannung. „Darum habe ich mich gekümmert. In einer Stunde sprechen wir im Stadtpalast vor. Jemand ziemlich wichtiges schmeißt mit Silberferrits um sich, um etwas erledigt zu wissen. Der Magistrat selber hat mich auf diese Gelegenheit gestoßen. Das könnte einen Blick wert sein, meinst du nicht?"
Hannibal nickte freundlich, aber stumm. Wert sein... Es gibt sehr wenige Dinge, die etwas wert sind. Er blickte noch einmal in die Runde zu seinen Freunden und Vertrauten, nahm sich ein Stück Brot und sagte schließlich: „Also gehen wir zum Stadtpalast." Nach einigen Momenten konnte man den Lärm der Straße vernehmen, den Darsalia machte, wenn es zum Leben erwachte. Die Stadt war im vollen Gange. Und unser nächstes Abenteuer wartet schon.
~2.Kapitel~
-Marronheim, Pfad zur Abtei von Ores-
4532.Narrenai - mittags
Aalan und Trillian kamen ins Schwitzen. Obwohl die Mittagssonne kaum im Zenit der Mithlandberge stand, sorgte die innere Unruhe und Hektik der beiden dafür, dass ihre Hemden von Schweiß durchtränkt waren, noch ehe ein kühles Lüftchen aus dem Norden sie hätte trocknen können.
„Ich hab es dir gesagt Trill, ich hab es dir mehrfach gesagt!" Aalan musste grinsen, obwohl seine Worte versuchten, wie stets mit scharfen Ton seinen Freund eines Besseren zu belehren. Innerlich wusste er natürlich, dass es nicht Trillians Schuld war, dass sie beide nun zu spät kamen. Natürlich wusste Aalan, dass sie beide zu gleichen Teilen in ein und demselben Schlamassel steckten – verschuldet durch beiderlei Versäumnis. Dennoch genoss es Aalan einfach, seinen Freund aufzuziehen. Trillian zuckte mit dem Mundwinkel und zog seine Stirn in Falten, wie er es immer tat. Seine Augenbrauen verengten sich zur Mitte, während seine Finger eine obszöne Geste in Richtung von Aalan machten.
Die beiden Jungs liefen die Hügelstraße entlang, die sie – wohin sollte sie denn auch sonst führen – zur Abtei auf dem Hügel bringen sollte. Natürlich gab es in Marronheim nur zwei wichtige Straßen. Die erste war wichtig für die Händler und das fahrende Volk. Sie führte einmal quer durch die runde Form des kleinen Dorfes, wie ein Durchmesser, der den Kreis durchtrennt. Es war die einzige Hauptstraße durch die Fuhrwerke, wie die der Karawanen und Theaterwagen, fahren konnten, wollten sie nicht, einmal falsch abgebogen, mitten in einem der breiten Felder stecken, die sich um Marronheim herum säumten. Vor allem aber war der Transport der kräftigen Marronbäume für das Örtchen von so entscheidender Bedeutung, dass die breite Hauptstraße mit Stämmen zusätzlich verstärkt wurde. So konnten die Lastenwagen, die schweren Stämme zu jedem Ort in Keadis und ganz Mistar transportieren. Das Marronholz war das Kapital von Marronheim. Zweifelsohne bekam es daher seinen Namen, obwohl einige Gelehrte gar die Ansicht vertraten, dass es genau anders herum sei, da das seltene Gehölz auf mysteriöse Art und Weise scheinbar nur in dieser Umgebung zu wachsen schien. Ob nun Ort oder Baum zuerst den Boden Keadis bedeckten, war reine Spekulation. Dass sich Marronheim aber mit dem Abbau dieses seltenen, aber kräftigen Holzes einen gewissen Namen nördlich des Gebirges verschaffte, war eine reine Tatsache.
Die zweite Straße, die für Marronheim selbst entscheidend war, führte auf einen kleinen Hügel nördlich des Dorfes. Sie war weder besonders verstärkt noch durch ein Geländer geschützt. Nein, vielmehr waren es die kleinen Schreine und das bedeutende Ziel am Ende des Pfades, welche für die Bewohner Marronheims noch nahezu wichtiger erschien als die breite Hauptstraße.
„Havièn!", schrie Trillian und warf sich ruckartig zu Boden, sodass Aalan beinahe über seinen Freund gestürzt wäre. Er brauchte nicht lange, sah sich flink den Schrein am Wegesrand an und warf sich neben seinen Freund zu Boden. Eine geflügelte Gestalt in Efeu gekleidet. Ihre offenen Hände tragen die Vielzahl des erschaffenen Lebens zur Schau. Stumm murmelten beide die Worte, die sie seit mittlerweile sieben Jahren Tag für Tag verinnerlicht hatten und standen genauso wortlos wieder auf.
„Du kannst mir doch nicht immer die Schuld an unserem Zuspätkommen geben, Aalan. Selbst Ores glaubt nicht mehr daran, dass du die Unschuld in Person bist!" Trillians Worte pressten sich gehetzt zwischen seine Zähne wie Wind, der durch zu enge Furchen bläst. Das Tempo, das beide anstreben mussten, ließ einige seiner Worte im Schnaufen untergehen. Aber Ores ließ man nun mal nicht warten.
„Zum einen habe ich dir nicht gesagt, du sollst den gesamten Wald nacheinem geeigneten Ast absuchen und zum anderen hat unser weiser Lehrer bisher immer den Anstand gehabt, mich das nicht spüren zu lassen, Trill!" Aalan und Trillian sprangen flink über eine Wurzel, die sich durch den staubigen Boden bohrte, ohne den Blick vom jeweils anderen zu nehmen. Nach all den Jahren, die sie tagtäglich zu ihrem Unterricht in der alten Abtei gingen – und meistens sogar unter Zeitdruck hetzten – hatten die Jungs die Strecke auswendig gelernt. Wie in ganz Marronheim veränderte sich auch der schmale Hügelpfad zur Abtei nur in ganz kleinen Schritten.
„Artiana!", schrie Trillian erneut unvermittelt, doch diesmal war Aalan noch eher am Boden und drückte seine Stirn in den Staub der Straße. Die einstudierten Worte flossen wie der Atem aus den Lippen der beiden.
Eine Frau hockend auf einem Stein. Eine Flöte ruht auf ihrem Schoß, während sie lächelnd den Wind bemalt.
„Wie dem auch sei. Zu spät kommen wir beide!", stellte Trillian nüchtern fest und wechselte dann schnell in heiteres Gelächter. Aalan presste seine Lippen aufeinander, konnte dem Drang zum Lachen aber nicht lange standhalten und so liefen beide Jungs den staubigen Weg entlang in heiterem Gebrüll, sodass ihr Lehrer auf dem Hügel die Ankunft der beiden schon hören musste.
„Im Endeffekt müssen wir wohl froh sein, dass du keinen Ast gefunden hast und uns auch niemand sah!" Aalans Augen drückten eine Träne der Freude fort, wechselten aber sofort in einen ernsteren Blick. Trillian überspielte dies mit noch lauterem Gelächter, obwohl er genau wie sein Freund wusste, dass das Spielen in den Marronwäldern und vor allem das unerlaubte Entfernen von dessen Hölzern eine harte Strafe nach sich ziehen konnte. Natürlich hielt sich kein junger Mensch an dieses Verbot, denn gerade das Unerlaubte machte daraus eine der größten Mutproben überhaupt, aber Tim Weizenknecht hatte sich vor einigen Siebttagen gehörigen Ärger eingehandelt. Der Umstand, dass weder Aalan noch Trillian den jungen Tim seitdem gesehen hatten, führte jedoch nicht dazu, dass beide ihre Ausflüge in die Wälder vermieden, sondern trieb sie nur noch mehr dazu an. Natürlich war der junge Tim Weizenknecht gehörig vermöbelt worden. Aber im Gegensatz zu den Schreckensgeschichten, die die beiden Jungs ihren Freunden im Dorf fortwährend erzählten, wurde Tim nur als Strafe für einige Siebttage zu seiner Tante nach Goldlingen geschickt, um ihr dort bei der Marktarbeit zu helfen. Beides wussten die Jungs jedoch nicht, doch schien diese Strafe zumindest dafür zu sorgen, dass Aalan und Trillian ihre Ausflüge in den breiten Marronwäldern, die Marronheim zu fast allen Seiten umspannten, mit gemischten Gefühlen betrachteten.
„Alisia!"Diesmal hatte Aalan den Schrein am Wegesrande vor seinem Freund entdeckt und drückte mit einem gezielten Schritt Trillian nach unten in den Sand der Straße. In einstudierter Genauigkeit drangen erneut die tonlosen Worte aus den Mündern der beiden. Die Frau ist nackt, nur ein Säugling in Ihren Armen verdeckt ein Teil ihrer Blöße.
„Du hast wahrscheinlich Recht, wir geben uns wirklich alle Mühe, uns unbeliebt in unserem Dorf zu machen!", sagte Trillian, nachdem sich beide genauso schleunigst aufrafften, wie sie zum Beten zu Boden gingen. Aalan schaute seinem Freund entgegen und verdrehte gespielt die Augen.
„Findest du wirklich? Ich war immer der Meinung, jeder im Ort schätzt uns wegen unserer freundlichen Art, Hilfsbereitschaft und vor allem wegen unserer Pünktlichkeit!" Bei dem letzten Punkt zeigte Aalan auf den Hügel hinauf, der sich neben ihnen sanft nach oben hob, während beide dem Pfad spiralförmig hinauf folgten. Die Kuppe war bereits zuerkennen, weiße Fahnen folgten dem Atem des Windes und deuteten das baldige Ziel ihrer Reise an.
Trillian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, schluckte dies jedoch sofort wieder herunter, als er dem Finger seines Freundes auf die Spitze des Hügels folgte. Selbstverständlich übertrieben die beiden maßlos in der Art und Weise, wie ihre Stellung in Marronheim tatsächlich war. Marronheim war ein ruhiger Ort. Es gab keinen Menschen mehr im Dorf oder der näheren Umgebung von Keadis, der Marronheim als etwas anderes kannte, als das, was es war: ein kleines Örtchen voll friedlicher Bewohner, die ihr Leben nur auf Erhaltung und Unterhaltung des Dorfes verstanden. Entweder man tat etwas direkt für die Bewohner des Ortes oder war Holzfäller und mehrte das Vermögen von Marronheim. In der Goldland-Region gab es die reichsten Städte in ganz Keadis und die große autarke Stadt Abastia hoch im Norden einmal ausgenommen auf ganz Mistar. Marronheim erwirtschafte vor allem in den letzten Siebttagen des Jahres einen Großteil seines Vermögens, musste jedoch nahezu alles davon versteuert an Goldlingen und schlussendlich auch an die keadische Hauptstadt Aluas abgeben. Für Marronheim blieb genug zum Leben und die Bewohner waren zufrieden damit. Die Bewohner des kleinen Ortes vor den Füßen der Mithlandberge genossen ihre Arbeit und vor allem ihre Ruhe.
Aalan und Trillian waren dabei ein Teil des Ganzen. Weder verstieß Marronheim jemanden aus seinen eigenen Reihen, noch behandelte es einen Einwohner schlecht. Von Tim Weizenknecht einmal abgesehen wurde schon seit Jahren niemand mehr des Dorfes verwiesen und dies dann auch nur zeitweise. Die beiden Jungs, so lausbübisch sie auch mit ihren 17 Jahren denken mochten, standen bereits fest im Arbeitskreislauf des Ortes. Sie genossen eine Lehre bei angesehenen Meistern des Dorfes und lernten die Weisen des Lebens vom weitgereisten Ores. Geboren in Marronheim, werden sie auch für Marronheim leben und schließlich im hohen glücklichen Alter in den Betten ihres Heimes sterben. So war es immer und so wird es immer sein. Marronheim genießt seinen Frieden und die Bewohner danken es mit der Spanne ihres Lebens.
„Onar! Iluvién!" Die beiden Jungs hätten den breiteren Schrein beinahe übersehen. Obwohl sie die Strecke jeden Tag zurücklegten, überraschte sie das Bild der beiden Götter, die in einem kleinen Baumhain etwas abseits der Straße zu ihnen blickten, immer wieder aufs Neue. Sie lag schmachtend auf ihren Knien, die Rose mit beiden Händen dem Reisenden entgegen gestreckt. Er hob mahnend den linken Zeigefinger, während auf seiner rechten Hand ein aufgeschlagenes steinernes Buch ruhte. Fast zugleich sagten beide ihre erlernten Verse auf und schlossen die Augen. Bei diesem einen Schrein ließen sie ihre Hektik ruhen, kamen dem Schrein um einige Schritte näher und legten - jeweils abwechselnd - ihre Hände auf das Buch, das in Onars Hand lag. Aalan sah seinem Freund fest ins Auge und blickte dann den Hang hinauf, der sich direkt hinter dem Schrein nach oben erhob. Die Kante, die das Plateau an ihrer Spitze umsäumte, lag einige Meter über ihnen. Hätte der Wind günstiger gestanden, so hätten die beiden Jungs hören können, wie Ores in diesem Moment seine Schüler begrüßte und den Unterricht einleitete. So jedoch rauschte eine Böe stetig über den Rand des Hügels und hüllte die gesamte Szenerie in ein behagliches Schweigen aus brausendem Wind und raschelnden Blättern.
„Wieso tun wir das eigentlich Tag für Tag?", fragte Trillian als sie beide nun schon etwas gemächlicher den Pfad auf den letzten Metern nach oben folgten.
„Den Göttern zu Ehren natürlich. Um den Acht zu huldigen, die uns und die Welt erschufen, in der wir leben und die wir lieben!" Trillian prustete laut los und klopfte Aalan fest auf die Schulter.
„Ores hätte es nicht besser sagen können!", rief Trillian beinahe unter lautstarkem Lachen. Dies war, dem gesamten Wind zum Trotz, bestimmt auf dem Hügelplateau zu hören.
„Oder vielmehr sind es ja genau seine Worte!" Aalan sah seinem Freund fest in die Augen. Entschlossenheit und diese bestimmte Art eines Glaubens in seinem Blick.
„Ja es sind seine Worte, dennoch sind es auch die unseren. Sag mir nicht, nach all den endlosen Stunden Unterricht in dieser Abtei, scheust du dich davor, das Wissen zu verstehen!"
„Oh ich verstehe es!", unterbrach Trillian knapp, „Und ich glaube auch daran. Es ist einfach nur komisch, dass wir nahezu jedes Mal zu spät zur Schule kommen und das nur, weil wir vor jedem Schrein diese Zeremonie abhalten müssen!"
„Die Verse der Acht!", gab Aalan kurz zurück, musste aber danach grinsend den Kopf schütteln, was dazu führte, dass nun beide in brüllendes Gelächter verfielen.
„Gut. Gut. Dann lass uns lieber schnell zum Unterricht kommen!", sagte er, nachdem er sich eine Träne aus dem Auge wischen musste. Trillian hob seinen Daumen und zwinkerte seinem Freund zu.
„Genau. Ores wird schon nicht merken, wenn wir ein einziges Mal unseren Pflichten nicht nachkommen." Yordan, der Gott des Lebens und der Schöpfung, stand mit verschränkten Armen auf einem kleinen Podest, während verschiedene steinerne Jünger vor ihm zu Knie fielen. Die beiden Jungs liefen den Pfad hinauf und auf das hölzerne Tor zu, das sie zur Abtei führte.
„Ihr habt Yordan vergessen." Ores sah nicht zu den beiden Spätankömmlingen auf und dennoch spürten Aalan und Trillian die mahnenden Blicke ihres Lehrers, die Ihre Augen durchstießen. Trillian riss den Mund weit auf, um etwas zu entgegnen, aber er wusste, wie sinnlos das war. Stattdessen ließ er ihn offen stehen und sah unter weit aufgerissenen Augen seinem Freund entgegen.
„Wie habt ihr", begann Aalan und stotterte unter schweren Atemzügen hindurch leise Worte, bevor er sich räusperte. Ores blickte den beiden immer noch nicht entgegen, viel mehr ignorierte er die Jungs so sehr, dass beide ernsthaft daran zweifelten, hier vor Ort zu sein. Er ging auf seinem kleinen Podest auf und ab und sah den jungen Menschen entgegen, die auf Holzpflöcken vor ihm saßen. Frische Luft wehte über den offenen Garten, der direkt am Südende der Abtei lag und durch spärliche Möblierung und einige Anschauungsmaterialien in den wärmeren Siebttagen zu einem Unterrichtsraum umfunktioniert wurde. Der alte Mann trug seine hellbraune Tunika weit auf, während der Wind sie ab und an aufwehen ließ. In seiner rechten Hand ruhte der Knauf eines Stabes, der aus den geschwungenen und verknoteten Wurzeln der Marronbäume geschnitzt war und mit reichhaltigen Mustern und Szenen aus den Büchern des Vielta Agentum verzier twurde. Obwohl es für Außenstehende nicht den Anschein hatte – und auch Aalan, Trillian und die restlichen Schüler hinter seinem Rücken ihren Lehrmeister desöfteren damit aufzogen – diente der Stab Ores nicht als Geh- oder Stützhilfe, sondern war vielmehr ein Werkzeug des alten Meisters, für jegliche Lebenslagen. Das dunkle Holz zeichnete einen strengen Kontrast zu den weißen Behängen, die um das Lehrerpodest die Bühne des Geschehens einspannten. Hellstrahlende Laken umsäumte Ores Platz und dienten sowohl als Hintergrund für verschiedene Teile seiner Lehre als auch zum Eindämmen der blendenden Mittagssonne. Sein Stab war sein Zeigestock, ein Mittel entfernte Dinge zu erklären, seine Schüler aus der Reserve zu locken und gleichzeitig auch die eine oder andere Rüge zu verteilen. Mit dem elfenbeinfarbenen Knauf in Form des Silbernen Rades hatte Ores ein wichtiges Instrument, welches ihm verschiedene Türen auf ganz Inahar eröffnen könnte. Mit der eisernen Spitze aus Jinaristahl hatte er notfalls eine Waffe, um sich zu verteidigen. In dieser Situation jedoch verließ sich Ores ganz und alleine auf seine Worte.
„Wie hab ich was? Gewusst, dass ihr zu spät kommt? Nun, eure Unpünktlichkeit hat euch verraten. Oder wie ich gewusst habe, dass ihr Yordan, euren Schöpfergott vergessen habt? Ich bin euer Lehrer und auch ein Vieza. Ich weiß einige Dinge und es ist meine Pflicht, alles herauszufinden." Aalan und Trillian sahen einander noch ungläubiger an.
„Und außerdem lacht, gackert und redet ihr beide so laut wie zwei Waschweiber in den Seifenstraßen von Aluas. Die gesamte Klasse hatte davon erfahren und mir sofort ihren Unmut darüber mitgeteilt. Und während wir darüber debattierten, welch göttliche Strafe Yordan wohl für euch beide auserkoren hat, stürmt ihr hier herein und stört erneut. Ich hoffe nur, ihr habt eine sehr gute Entschuldigung parat."
Aalan und Trillian gingen einige Schritte dichter an das Podest ihres Lehrers, wobei sie reumütig durch die Reihen ihrer Mitschüler schritten. Einige tuschelten, anderen sahen die beiden nur mit schüttelnden Köpfen an, die meisten jedoch schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen und widmeten sich weiter anderen Dingen.
„Also", fing Trillian leise mit brüchiger Stimme an, nachdem er und Aalan einige Atemzüge direkt vor dem Podest stehen blieben und den Kopf so tief zur Erde hängen ließen, dass man denken könnte, er würden ihnen beiden jeden Moment von den Schultern fallen. Es war eine gefühlte Ewigkeit, die die beiden Jungs mit verstohlenen Blicken verbrachten, stets in der Hoffnung, der andere würde das Wort ergreifen. Unzählige Male standen sie schon vor ihrem Lehrmeister in derselben Pose, unzählige Male wechselten sich die beiden ab, wer nun vor Ores und der gesamten Klasse die Entschuldigung auftischen würde. In der Gruppe, die gespannt hinter ihnen auf ihren Holzstämmen saß, kursierten bereits inoffizielle Wetten, welche Geschichte die beiden nun heute entwickelten.
„Wir waren auf dem Weg zur Abtei und wunderten uns bereits, wie zeitig wir heute zum Unterricht erscheinen würden.", sagte Trillian nun etwas lauter. Bereits die ersten Worte ließen die Mitschüler aufstöhnen und Ores verdrehte amüsiert die Augen, verkniff sich aber eine Bemerkung.
„Doch ganz ehrlich.", fuhr Trillian fort, drehte sich zu den jungen Menschen hinter ihm um und breitete seine Arme aus. Aalan wollte tief in Scham versinken. Sein Freund hatte diese Eigenart nach endlosen Lügengeschichten sich irgendwann dermaßen hineinzusteigern, dass er selber daran zu glauben schien. Zumindest klang seine Stimme heute wieder derart überzeugt, dass jeder Versuch Aalans, Trillian zu stoppen, vergebens sein würde.
„Wir gingen frohen Mutes auf direktem Wege der Hügelstraße entgegen und fragten uns beide über den Stammbaum Acherons aus – weil wir ja wussten, dass dies heute abgefragt wird – da hörten wir auf einmal ein monströses Schnaufen aus den Marronwäldern." Die Mitschülergrinsten breit und tuschelten miteinander, während Ores keine Regung zeigte. Nur Aalans Gesicht gewann eine komplett neue und ungesunde rote Farbe und es war fast zu spüren, wie die Scham seinen Körper einnahm.
„Wir dachten uns natürlich: Dem müssen wir nachgehen. Man erzählt sich ja allerhand Geschichten von Kreaturen, die unser Wäldchen bewohnen und keine von diesen wäre unserem schönen Dorf bekömmlich. Wir sahen es also als unsere Pflicht an, unser Marronheim vor jeder Gefahr zu schützen, auch wenn wir dafür unseren wichtigen und geliebten Unterricht säumen mussten."
Aalan zischte leise zu seinem Freund herüber: Nur nicht so dick auftragen, Trill. Er hörte das anschwellende Gelächter hinter ihm und wagte nicht, den Blick zu seinem Lehrer zu heben. Der Gedanke, wie Ores seinen Stab bereits über ihnen erhob, die hellbraune Tunika wie vom Sturmgepeitscht umher wehte und ein feuriger Zorn in seinen Augen stand, der dafür sorgte, dass Yordan sie selbst für ihren Frevel strafen würde, kam ihm vor Augen.
„Natürlich wussten wir, wie aussichtslos die Lage für uns beide war und dass wir die Marronwälder niemals betreten durften. Doch es war weit und breit niemand zu sehen und irgendjemand musste einfach etwas unternehmen. So hatten wir keine Wahl, als diese wichtige Regel zu brechen." Trillian kam immer mehr in Fahrt. Mit einem Sprung setzte er auf dem Podest auf und stellte sich neben Ores, die Hände zu Fäusten geballt und drohend in den Himmel erhoben.
„Im Schatten der großen Hölzer erschien nach wenigen Schritten bereits ein rot glühendes Paar Augen und heißer Atem schwang uns entgegen. Schleunigst suchten Aalan und ich den Wald nach einem kräftigen, herabgefallenen Ast ab. Schließlich wollten wir selbst angesichts dieser drohenden Gefahr keinen der stolzen Bäume verletzten." Zu viel Trill. Es wird zu viel!
„Und dann plötzlich brach dieses Ungetüm durch das Gehölz, fällte einige der ältesten Bäume wie kleine Streichhölzer und griff uns an. Es war ein Drachling. Doch ganz bestimmt. Wir schlugen mit unseren Ästen nach dieser Ausgeburt des Dämonenreiches, doch Aalan konnte nicht lange standhalten und sank erschöpft oder verwundet zu Boden. Ich musste etwas unternehmen und meinem Freund beistehen und so bohrte ich meine Waffe tief in die Augenhöhle des beschuppten Wesens. Ein gellendes Geschrei fuhr mir durchs Mark, als schwarzes Blut aus dem Kopf des Monsters sprudelte und der Drachling sich in die dunklen Tiefen des Waldes verkroch. Schnell lief ich zu Aalan und rüttelte ihn wach. Wie benommen kam er langsam wieder zu Kräften und rappelte sich auf." Nun brüllten alle Mitschüler in vereinter Kraft lauthals los, klopften sich auf Ihre Schenkel oder die Schulter des Nebenmannes und Aalan versank in tiefer Scham.
„Während der Atem des Monsters immer flacher wurde und das knackende Holz unter seinen Bewegungen immer leiser klang, meinte ich zu hören, wie er leise unsere Namen rief. Bedrohlich. Finster. Eindeutig und klar." Trillian senkte seinen Kopf und ließ seine Stimme leise abklingen. Dann stand er da wie ein Schauspieler vor seinem Publikum und genoss den Applaus der tosenden Menge, der in Gelächter und Beifall über ihn hinweg schwamm. Aalan indes wünschte, er hätte sich auf dem Weg nach oben ein Bein gebrochen und somit eine plausiblere Entschuldigung hervorbringen können oder vielmehr diese Peinlichkeit nicht ertragen müssen.
„Wir liefen danach so schnell wir konnten zu euch, Meister Ores, um euch davon zu berichten. Und natürlich hielten wir an jedem Schrein unserer Götter und sagten die Verse der Acht. Wir brachten Onar sogar die besondere Zuwendung, die euch so teuer und wichtig ist, dennoch war unsere Hektik zu groß, sodass wir den großen Schöpfer später unsere Ehre bezeugen wollten, denn Yordan weiß stets um die Gunst seiner Anhänger."
Trillian blickte zu Ores hinüber und übte sich in dem schuldbewusstesten Blick, den er aufbringen konnte.
„Eine gigantische Geschichte, Trillian Himmelssturm.", unterbrach Ores die ausgelassene Stimmung seiner Schüler und klatschte - zu der Verwunderung aller - ebenfalls langsam in seine Hände, während seine Augen gütig auf Trillian blickten.
„Aber Haccus hatte dem Drachling kein Auge ausgestochen sondern, seine Fäuste in die Kehle des Monsters gejagt. Und außerdem würde nicht einmal einer der großen Ritter des alten abastianischen Reiches es wagen, einen Ast aus den Marronwäldern zu missbrauchen, schon gar nicht für solch eine peinliche Entschuldigung.", Ores Miene verfinsterte sich schlagartig und er packte seinen Stab fester am elfenbeinfarbenen Knauf, während er langsam näher an Trillian herantrat.
„Und es war nicht das Auslassen von Yordans Schrein, dessen Entschuldigung ich hadere. Denn wie du sagtest, weiß unser Schöpfer, wie sehr wir ihn stetig verehren. Es war auch nicht unbedingt euer zu spätes Erscheinen. Denn dessen habe ich mich mittlerweile abgefunden, sodass ich mit meinem Unterricht auch immer einige Minuten warte. Nein, meine beiden Jungs..." Ores ließ seinen Stab hoch in die Luft fahren und schwang ihn dann im weiten Bogen nach unten. Aalan und Trillian sahen sich schon grün und blau geschlagen. Auch wenn Ores dies bisher nie tat und sich beide auch sicher waren, er würde dies niemals tun, waren beide für diesen Moment bereit, ihre Gedanken umzuändern.
„Ihr habt Sonnest und Roussa vergessen und diese beiden lassen sich längst nicht so einfach übergehen." Der Stab schlug mit der eisernen Spitze auf den Boden ein und Ores wirbelte ihn erneut einmal um seine Achse mit der Geschwindigkeit, die weit jenseits seiner Jahre lag. Dann zeigte der elfenbeinfarbene Knauf auf die großen Statuen, die links und rechts des Podestes standen und die weißen Laken hielten, als würden sie ein weites Segel spannen. Aalan schlug sich seine Hand gegen den Kopf und nickte. Trillian verlor die Stimme und verließ mit gesenktem Haupt die Bühne. Dann murmelten beide ihre stummen Verse, während sie zu ihren Plätzen marschierten. Ein zarter, gelockter Knabe, der seine Arme zu einer großen Umarmung ausstreckt und ein Hüne von Mann, im Gesicht mit Narben übersät. In der einen Hand ein Schwert und in der anderen einen Krug Wein haltend.
~3.Kapitel~
-Marronheim, Abtei von Ores-
4532.Narrenai - mittags
Nachdem sich das Publikum beruhigt hatte, konnte Ores mit seinem Unterricht beginnen. Der alte Vieza war einer der letzten seiner Art. Obwohl der Glaube noch weit verbreitet ist in Mistar und auch in anderen Teilen von Inahar, scheint sich mittlerweile in der Bevölkerung eine Art Entsagung durchzuziehen. Die Menschen begannen den Wundern einen wissenschaftlichen Sinn zu geben. Wo zuvor noch Havièn die Tiere nach Yordans Vorwerk erschuf, sind heute Geschehnisse der Natur für ihre Entwicklung verantwortlich. Als Vieza der alten Schule musste Ores sich einst entscheiden. Sein abenteuerliches Leben weiter führen und spüren, wie die Menschheit einem ihm fremden Pfad folgte oder aber den Menschen das alte, wahre Wissen wieder entdecken lassen. In Marronheim konnte man ihn am ehesten als Priester bezeichnen, obwohl dies ein gelehrter Vieza natürlich nicht gerne hörte. Ein Holzfäller schuf schließlich auch keine Bögen. Er versteht sich mit allen Arten des Holzes und weiß es zu schlagen. Um daraus einen filigranen Bogen, die Waffe eines Wächters oder Jägers zu fertigen, fehlt ihm aber das Wissen und Geschick. Gleichwohl kann ein Bogner aus einem Stück Holz die gefährlichsten Geschosse herstellen, wär ean einer Säge aber so unbedarft wie ein kleiner Junge. Dennoch gefiel sich Ores in seiner Rolle. Er lehrte das wahre Wesen des Vielta Agentums und segnete die Menschen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Er führte Vermählungen durch und Kinder in diese Welt. Und den Heranwachsenden wie Aalan und Trillian erteilte er Unterricht in allen möglichen Gebieten, wenn sie nicht ihrer Lehre und Arbeit im Dorf nachgingen.
„Nun meine Kinder, so können wir nun endlich beginnen. Eine erneute Begrüßung erspare ich mir aus naheliegenden Gründen und möchte ohne Umschweife den heutigen Unterricht einleiten." Ores war die Ruhe selbst und ging mit gefalteten Händen auf dem Podest auf und ab, wobei sein Blick jeden seiner Jünglinge mindestens einmal genau streifte und er tief in deren Augen sah. Blickkontakt war genauso wichtig wie die genaue Betonung der einzelnen Worte. Ores wusste, dass nicht jedes seiner Themen immer genau das Interesse seiner Zuhörer weckte, auch wenn er selber jedes Einzelne für extrem wichtig ersah. Um seine Schüler bei Laune zu halten, musste er bisweilen auf merkwürdige Lernmethoden zurückgreifen, Verse und Gedichte mit lautem Singsang vortragen, Geschichten und Legenden, atmosphärisch begleitet, mit epochaler Stimme aufsagen. Nicht selten verlegte er seinen Unterricht in die späten Abendstunden, um die Heldenerzählungen rund um Haccus und Belerian, den beiden größten Rittern ihrer Zeit oder Tragödien wie denen der Drei Brüder oder aber Laslow, dem Dichter, ein richtiges Gefühl mitzugeben. Dies sorgte mitunter für heiteres Gelächter unter den Schülern, aber auch dafür, dass ihr Lehrer für sie mehr als nur dies war, sondern auch ein Freund und Vertrauter.
Der alte Vieza hob seinen Atem und setzte zum Sprechen an. Sofort bracher ab, kniff seinen Augen zusammen und legte den Kopf schräg gen Himmel gerichtet.
„Wo waren wir gestern stehen geblieben?" Er sagte es mehr zu sich selber als zu seinen Schülern. Durch die weißen Laken, die ringsum den Freiluftraum gespannt waren, wirkte das Äußere Areal wie ein hell durchfluteter Raum im Inneren der Abtei.
„Ihr erzähltet uns gestern über den großen Bruderkrieg lange vor unserer Zeit. Wie Abas, Keade und Acheron sich im Streit trennten und schließlich Krieg im Namen ihrer Mutter gegeneinander führten." Es war Neria, das junge Mädchen, welches auf einem Holzstamm links neben Trillian saß. Die jüngste Tochter des Bürgermeisters war stets mit großer Begeisterung am Unterricht dabei und war eine der wenigen, die während der Ausschweifungen von Ores sogar Notizen machte. Man könnte meinen, es läge jungen Mädchen im Blut, Wissen begeisterter in sich aufzusaugen, als es Jungen tun würden. Doch Aalan befand immer, dass Neria es einfacher hatte dem Unterricht zu folgen, hatte sie doch als Bürgermeisterkind keine Lehre oder Arbeit, die ihren Kopf belasten würde. Trillian war, zumindest in Anbetracht dieser jungen Schönheit nicht ganz so hart mit seinem Urteil.
„Ah, der große Bruderkrieg. Das Ereignis, das Mistar in seine drei Reiche teilte. Herrlich..." Ores lächelte und schnippte mit den Fingern, als wäre ihm der Gedanke gerade eben gekommen.
„Und ihr solltet mir gewiss sagen, was ihr für Einzelheiten über den Krieg erfahren habt, oder?" Es klang weniger nach einer Frage, sondern eher nach einer Feststellung, die er mit einem Nicken selber beantwortet.
„Eigentlich wolltet ihr uns erst wesentlich später davon berichten. Wir hatten gestern mit dem Stammbaum von Acheron, dem ältesten Bruder, begonnen und ihr wolltet uns testen, wie weit wir ihn verinnerlicht hatten." Aalan verdrehte die Augen und ließ den Kopf langsam auf den Tisch sinken. Das hatte er vollkommen vergessen. Gestern war er direkt nachdem Unterricht zur Arbeit in die Taverne gegangen. Er und Trillian hatten sich vorgenommen, dass heute bei ihrem Ausflug in die Marronwälder einmal durchzusprechen, aber die Suche nach "einem Erinnerungsstück aus dem verbotenen Wald" hatte beide komplett alles vergessen lassen. Da schoss Aalan jedoch ein, was Trillian während seiner Entschuldigung sagte. Er wusste noch, was zu heute ihre Aufgabe war. Er blickte langsam zu seinem Freund herüber. Trill zuckte die Achseln und grinste ein wenig verlegen.
„Ach genau. Acheron der Ältere, Herr von Darsalia und dem später entstandenen Reich Ächeton. Nun denn Neria, ich merke, du bist aufs Beste vorbereitet und so wäre es doch nur recht und billig wenn" Ores nickte der Tochter des Bürgermeisters anerkennend zu. Dann blickte er suchend über die Runde von Schülern, die geduldig, zuweilen auch ängstlich von ihren schmalen Holzstämmen zu ihm hinaufblickten.
„Aalan uns an seinem Wissen über den Herren des südlichen Landes teilhaben lässt." Es war wie ein Tritt in die Magengrube und Aalan versank nun gänzlich mit seinem Kopf zwischen seinen Schultern.
„Also Acheron, ja?", begann er vorsichtig und ließ die Frage ein wenig zu lange im Raum hängen. Ores nickte ihm freundlich zu und bedeutete mit seinem Stab, dass der Junge sich erheben sollte.
„Also nachdem Acheron wieder nach Hause kam, hatte er eine Frau. Die war die schönste Frau jenseits des Gebirges und"
„Die Blume von Aturia. Fahre fort!", unterbrach ihn Ores milde und lächelte freundlich.
„Genau. Die Blume. Und mit dieser zeugte er drei Kinder. Fela, die schöne Tochter. Die wegen Ihrer Schönheit und Lustvorstellung die beiden Herzöge von" Aalan schnippte mit den Fingern, als lägen ihm die Namen auf der Zunge.
„Fahre fort!", sagte Ores abermals lächelnd und drehte seinen Stab in seiner Hand.
„Nun als dann gab es noch die beiden Söhne. Alchewon der braune Bär, Herr der Sandlegion und"
„Wer kann helfen?" Ores löste seinen gütigen Blick von Aalan und konnte so kaum sehen wie ein schwerer Stein von dessen Schultern genommen wurde. Erleichtert atmete der Junge aus.
„Trillian komm hilf deinem Freund. Er ist wahrscheinlich noch ganz angeschlagen von eurer Schlacht mit dem Drachling." Aus Ores Mund klang dies nicht belustigt oder ironisch, nein hätte nicht jeder gewusst, wie erlogen die Geschichte war, hätte man es seiner Stimme nicht entnehmen können.
„Natürlich. Der Bruder von Alchewon war selbstverständlich Achetan, Hofmagister seines Vaters und großer Magier an der Akademie der Winde am Südkap."
„Falsch. Fahre fort!", unterbrach Ores grinsend.
Trillian blickte verdutzt und unsicher. Er hatte gestern nach seiner Schicht in der Schmiede zusammen mit Neria den Stammbaum rauf und runtergesprochen. Er war sich sicher, dass er dabei keinen Fehler gemacht hatte.
„Also dann kamen die Zwillinge Lancos und Landad, die beide dem Schoß verschiedener Mütter am selben Tage entsprangen und ihrem Vater Alchewon in der Legion dienten."
„Falsch. Fahre fort!", unterbrach Ores erneut und lächelte.
„Das kann nicht euer Ernst sein.", sagte Trillian vorsichtig und wechselte einen kurzen Blick mit Neria, die ebenso verständnislos neben ihm saß und ihm zu nickte.
„Du hast die Essenz des Ganzen nicht verstanden, mein Junge. Aber versuche es ruhig weiter." Trillian schluckte seine Unsicherheit herunter und atmete ruhig durch.
„Gut, also Achetan hatte keine Nachkommen. Einige sagten, er wäre zu seltsam gewesen, um eine Frau für sich zu gewinnen, andere er habe durch die Magie, die er wirkte, die Fähigkeit verloren, Kinder zu zeugen."
„Falsch. Fahre fort." Trillians Unsicherheit wuchs allmählich zu einer unbeherrschten Form der Wut an, die einem Jungen seines Alters nur allzu häufig begleitet.
„Nein ist es nicht. Ihr habt uns gestern gesagt, dass Achetan kinderlos blieb. Neria und ich haben gestern stundenlang geübt und das sind genau die Worte, die ihr benutzt hattet und sie sich notierte." Ores nickte bedächtig und tat so, als dachte er tatsächlich über die Worte von Trillian nach. Aalan indes versuchte seinen Ärger herunter zu schlucken, dass Trill und Neria gestern den Abend miteinander verbrachten, um zu lernen und er heute unvorbereitet vor Ores treten musste.
„Das ist auch richtig. Aber es geht doch nicht darum, was die Geschichtsbücher schreiben oder ich euch sage. Es geht um die Rolle der Menschen in der Welt." Auf einmal sahen alle Schüler mit aufgerissenen, erstaunten Augen zu ihrem Lehrmeister hinauf, der sein Lächeln nun etwas schmälerte. Jeder wäre in diesem Test unvorbereitet gewesen.
„Natürlich war Achetan der Hofmagier von Acheron und blieb zuletzt kinderlos. Sicherlich war Alchewon Heerführer der Sandlegion und nahm seine beiden Söhne bei sich auf. Aber ist das die Essenz ihres Lebens? Die beiden Söhne von Acheron waren auch noch etwas anderes als Magier und Krieger. Sie waren die Söhne von Acheron." Nun verstand niemand mehr und Trillian krallte sich mit seinem Fingern in seinem Hosenbein fest.
„Sie trugen das Erbe ihres Vaters in sich, noch dazu die männliche Nachkommenschaft eines Menschen, der ganz Mistar in Krieg stürzte und seine eigenen Brüder bekämpfte. Die Rolle der beiden war mit ihrer Geburt vorherbestimmt und sie folgten ihr mit bestem Gewissen. Sie hätten nicht Magier und Krieger im Land ihres Vaters sein müssen. Sie hätte auch Händler werden können oder Reisende, Ärzte oder Schmiede. Nein, sie gefielen sich in der Rolle, die ihr Vater ihnen vermacht hatte und verwendeten die Essenz ihres Lebens, um etwas Eigenes zu schaffen. Des Schicksals Herr ist immer man selbst. Aber bitte Trillian, versuche es erneut." Trillian war zu verdutzt, um sofort der Bitte nachzukommen. Dann nickte er leicht benommen und sprach weiter.
„Fela schlussendlich hatte zwei Söhne. Jeweils einen von den beiden Herzögen."
„Das ist nun aber wirklich falsch.", unterbrach Ores erneut und sein Lächeln verschwand nun gänzlich.
„Fela hatte unzählige Kinder von unzähligen Herzögen. Sie hätte Sängerin werden können oder eine begabte Kräutersammlerin. Stattdessen wurde sie zur Dirne des Adels. Nicht nur die beiden Ländereien der Herzöge Festus und Ratio fielen wegen des Streits um ihre Schönheit ihrem Vater in die Hände." Ores ging aufgeregt das Podest auf und ab und blickte jedem seiner Schüler so fest ins Auge, wie er es bei der Begrüßung schon tat.
„Versteht ihr also, dass es einen Unterschied zwischen einem Leben und seiner Rolle im Leben gibt? Wie man lebt, kann von vielen Dingen beeinflusst werden. Bei den Kindern von Acheron war es der Vater. Bei Wölfen ist es der Instinkt. Aber wir sind schlauer als unsere Vorfahren und die Tiere. Wir haben immer die Möglichkeit, unser Leben zu bestimmen. Wir selbst können entscheiden, welchem Pfad wir folgen möchten und wie wir diesen entwickeln. Manch einer nimmt einen Umweg, ein anderer steht vor einer Abzweigung und einige - wie unsere geschätzten Vorfahren - enden in einer Sackgasse. Aber die Möglichkeit ist da. Und deshalb möchte ich, dass ihr euch dessen bewusst werdet und selber herausfindet, was eure Rolle im Leben ist." Ores schüttelte den Kopf, als wäre alles sinnlos gewesen. Er war nicht sauer auf seine Schüler, aber er wusste, wie heikel dieses Thema werden würde, wenn er erst einmal in Fahrt kam. Mit dem Schütteln seiner Hand entließ er die Kinder früher als geplant aus dem Unterricht. Nachdem seine Schüler fort waren, schloss Ores die Augen und drehte sich zu den beiden Statuen von Roussa, dem Reisenden und Sonnest, dem Freund um.
„Ich hoffe ich mache alles richtig.", seufzte der alte Vieza und stützte sich auf seinen Stab.
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