16
Als ich mitten in der Nacht aufwachte, war mir eiskalt. Kein Wunder, der Herbst neigte sich langsam dem Ende zu und die Nächte wurden auch immer kälter.
Ich sah mich um und kniff die Augen zusammen, um etwas in der Dunkelheit zu erkennen, da die Straßenlampen kaum Licht spendeten. Ich sah circa einen Meter entfernt von mir Frederic, er hatte sich genau wie ich an die Mauer gekuschelt. Irgendwie sah er süß aus wenn er schlief...
Oh Gott, Mar, denk nicht mal daran. Ich schloss die Augen schleunigst wieder, um wenigstens noch ein bisschen Schlaf zu bekommen.
Als ich wieder erwachte, hatte mir jemand eine Jacke übergelegt. Beim näheren Hinsetzen erkannte ich, das es Frederics war. Suchend sah ich mich um, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Ratlos ging ich zu den Obdachlosen hinüber, die anscheinend gerade frühstückten. Sie boten mir ein Stück Brot an, doch ich lehnte ab.
„Haben sie den anderen Jungen, der mit mir hier war, gesehen? Ist er weggegangen?" Sie sahen sich an, bevor der eine, ältere Herr sprach.
„Kind, dir ist doch sicher klar das solche Jungs nicht ewig bleiben. Irgendwann suchen sie sich eine Neue und dann sind sie weg."
„Nein, das ist ein Irrtum, ich..." Er unterbrach mich.
„Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Kleine, such nicht nach ihm. Leb dein Leben weiter und eines Tages wird er zu dir zurückkommen oder auch nicht." Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinem Frühstück zu und ich stand da, allein gelassen und konnte es nicht fassen.
Hatte er mich wirklich zurückgelassen? So oder so, ich musste zurück zu meiner Familie und die war momentan bei seinem Vater also würde ich ihn früher oder später wieder treffen. Nicht mal den Rucksack hatte er dagelassen, nur seine blöde Jacke.
Als ich aus der Unterführung heraustrat, merkte ich, dass es angefangen hatte leicht zu regnen. Das passte ja zu meiner Laune. Jetzt fang nicht an zu heulen, ermahnte ich mich selbst als ich ins dramatische abdriftete. Der immer stärker werdende Regen lief mir in die Augen, wütend wischte ich die Tropfen weg.
Das hätte dir doch von Anfang an klar sein müssen, er hat dich angelogen! Der Himmel war wolkenverhangen und auf den Straßen schien nicht viel los zu sein. Ratlos ging ich den Weg entlang, ich hatte keine Ahnung wie ich das Haus oder vielmehr den Bunker wiederfinden sollte, da man mich ja auf dem Weg dorthin betäubt hatte. Vom Gefühl her lag das Haus aber eher außerhalb der Stadt. Als ich um die nächste Ecke bog, traute ich meinen Augen nicht, wer mir da entgegenkam. Ich riss ihn am Ärmel herum.
„Du schuldest mir eine Erklärung!" Ich sah ihn vorwurfsvoll an.
„Wo warst du? Ich dachte, du hast dich aus dem Staub gemacht!" Er sah mich entschuldigend an.
„Sorry, ich hab noch Geld in meiner Tasche gefunden, da dachte ich, du freust dich vielleicht über ein Frühstück." Er hatte einen Regenschirm in der Hand. „Und den hab ich auch gleich gekauft." Er deutete darauf. Ich war verlegen, ihn verdächtigt zu haben, mich wieder alleine gelassen zu haben.
„Ähm...dann danke. Und hier, deine Jacke." Ich zog die inzwischen triefende Jacke aus und gab sie ihm zurück.
„Ich bestehe darauf dass du sie anbehältst."
„Du hast aber nur ein T-Shirt an. Und es ist eiskalt."
„Du auch. Und so kalt ist es gar nicht." Er drückte mir einen Apfel in die Hand. „Guten Appetit!"
„Du weißt aber schon, das das an Erpressung grenzt?!" Er lachte nur.
Eine Stunde später standen wir am Bahnhof von Athens, laut der Uhr über meinem Kopf war es zehn. Ich war nun schon fast vier Tag von zu Hause weg, die Suche nach mir hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht.
Ich hoffte, dass der schwarze Hoodie, den wir nicht ganz legal aufgetrieben hatten, seinen Zweck erfüllte und mich so gut es ging versteckte. Der Zug, auf den wir gewartet hatten fuhr mit einer halben Stunde Verspätung ein. Ich jubelte innerlich, als ich den vertrauten pinken Rucksack aus einem der Abteile kommen sah. Ich schubste Frederic an.
„Das ist sie." Lay hatte ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie älter aussehen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Als sie mich entdeckt hatte, schloss sie mich in die Arme.
„Ich hätte dich fast nicht erkannt.", sagte sie mit einem ungewohnten Zittern in der Stimme. Ich zog mir die tiefe Kapuze tiefer ins Gesicht.
„Ich werde gesucht, schon vergessen?" Wie als Antwort drückte sie mich noch fester an sich.
„Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Es tut mir so Leid das ich dir nicht eher gefolgt bin, die haben mich verhört und..." Gegenüber schaute Frederic, wohl etwas überfordert mit der Situation, ratlos drein.
„Schon okay, Lay, das habe ich dir doch schon längst verziehen. Wie haben dich deine Eltern überhaupt gehen lassen?" Sie lachte.
„Haben sie gar nicht. Ich habe ihnen einen Brief geschrieben, das ich eine Freundin in Athens besuche und das ist doch gar nicht mal gelogen, oder?" Schlaue Lay.
„Aber sie werden sich doch denken können, dass ich das bin!", warf ich ein.
„Dann müssen wir eben schneller sein als sie.", meinte Frederic.
Der gesamte Plan war Lay leicht zu erklären. Frederic würde allein zu seinem Vater zurückkehren und ihm vorspielen, er habe mich wie geplant zurück gelassen und das Gemälde mitgenommen. Ich würde mich derweil in die Zentrale einschleichen und meine Eltern und meinen Bruder befreien, nachdem Frederic schon zuvor das Sicherheitssystem außer Gefecht gesetzt hatte. Und hier kam Lay ins Spiel.
Sie würde mir helfen, all die Aufmerksamkeit allein auf uns beide zu lenken, damit die wichtigsten Daten seines Vaters kopieren konnte, die belastend waren. Das wäre der Untergang von THVS und ein Sieg für uns.
„Das könnte gefährlich werden, Lay.", warf ich ein, während wir auf dem Weg zu THVS waren. Mir war klar, dass Pläne nur in den wenigsten Fällen perfekt funktionierten und doch hoffte ich, das hier würde die Ausnahme sein.
Wir machten uns auf den Weg, immer darauf bedacht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf uns zu lenken. Frederic führte uns durch die Stadt, er kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche.
„Mein Dad hat mich nur alle paar Tage aus dem Haus gelassen und die Zeit hier habe ich dann eben genutzt.", erzählte er uns unterwegs. Nach einer halben Stunde gingen wir über einen alten Parkplatz und bogen dann in ein anderes Stadtviertel ein.
Die Gegend, in der wir uns nun befanden war zwar nicht gerade in der Innenstadt, aber trotzdem nicht die schlechteste. Es waren zwar hauptsächlich Firmengebäude, aber ich konnte mir vorstellen, dass sie genau deshalb perfekt waren.
„Stop!" Frederic hielt Lay und mich fest, gerade als wir um die Ecke biegen wollen. „Es ist gleich da vorne." Wir schielten um die Ecke in eine enge kleine Seitenstraße und erblickten eine nicht gerade ärmlich aussehende Fassade, die mitten zwischen den anderen herausstach.
Ein weißes Haus mit einer kleinen Glastür als Eingang, die Fassade war jedoch makellos und schien überhaupt keine Schmutzflecken aufzuweisen, was man von den daneben liegenden Gebäuden nicht gerade sagen konnte.
„Dein Vater hat anscheinend einen Sauberkeitsfimmel.", meinte ich zu Frederic. Seine Antwort kam sofort.
„Er sagt, mit Schmutz und Unordnung kommt der Untergang." Wie passend. Lay und ich lugten immer noch um die Ecke. „Und wie hast du dir das vorgestellt, ich meine, wir können wohl schlecht einfach reingehen." Der Plan sah vor, dass wir das zwar nicht machen sollten, aber Frederic schon. Er musste ja seine Rolle als „loyaler Sohn" voll ausfüllen.
„Keine Sorge, ich kenne einen Hintereingang, den ihr benutzen könnt." Er lotste uns einige Straßen weiter, bis wir vor einer verlassenen Fassade eines eher unscheinbaren Gebäudes stehen blieben, das verlassen aussah.
„Mein Vater nutzt eigentlich nur den Keller des Gebäudes und zufälligerweise ist der mit dem hier,", er deutete auf die Schmutzhöhle vor uns, „verbunden. Ihr müsst einfach immer dem Hauptgang im Keller folgen, bis ihr vor eine Stahltür kommt. Ich öffne euch dann von innen." Er öffnete auffordernd die nur angelehnte Eingangstür.
Lay schlüpfte hindurch und ich hörte ,wie sie laut schimpfte, dass man hier auch mal putzen könnte. Frederic lehnte sich in den Türrahmen und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an.
„Hast du Angst?" Ich versuchte, möglichst gelassen zu antworten.
„Ach Quatsch, ich hab so was schon...äh...auf jeden Fall schon öfter gemacht." Warum musste er mich so ansehen? Das machte mich ganz nervös.
„Aber hier geht es um alles oder nichts. Der Einsatz ist höher.", antwortete er. Ich versuchte ein sarkastisches Lächeln.
„Aber wo wäre ich, wenn ich daran denke, was ich alles zu verlieren habe?" Er nickte, nun wieder ernst, mit dem Kopf.
„Das stimmt. Ich gehe dann mal." Er wandte sich von mir ab und ging die Straße hinunter, nach zwei Schritten blieb er jedoch stehen und drehte sich noch einmal um. „Ich weiß, dass du das kannst, Mar, du musst nur in dich selbst Vertrauen haben, alles andere kommt dann von alleine."
Damit verschwand er um die Ecke und aus meiner Sicht. Ich blieb noch einige Sekunden am Eingang stehen, bevor ich durch die Eingangstür in das verlassene Haus ging. Ich war immer noch verwirrt von Frederics Blick. Sollte ich denn verwirrt sein? Ich konnte es nicht sagen.
„Mar? Wo bist du?", hörte ich Lay rufen. Ihre Stimme schien aus einem der Räume zu kommen, die von diesem Eingangsflur abzweigten. Ich sah mich um. Der Flur war geräumig, aber er schien dunkel und erdrückend, die Wände waren rußgeschwärzt, so, als ob es hier gebrannt hätte. Ich fuhr mit den Fingern an der Wand entlang, bis zu einem Türrahmen, bei dem aber die Tür fehlte. Ich sah ins Zimmer und entdeckte Lay, die in einer Ecke den Boden untersuchte.
„Lay! Was machst du da?" Sie fuhr erschrocken herum.
„Du hast mich erschreckt! Nach was sieht es denn aus? Ich untersuche den Boden nach einer Art Luke, in der der Kellereingang versteckt ist." Ich ging auf die Knie und warf einen Blick auf den Schmutz, in dem Lay herumwühlte.
„Wir könnten auch erst mal nach einer KellerTÜR schauen.", schlug ich vor.
„Ach Margareth, hier waren echt Profis am Werk, das siehst du doch, die haben alles abgefackelt." Lay war ganz in ihrem Element. „Die Brandspuren halten Besucher fern und gleichzeitig verstecken sie die Luke, die... hier irgendwo sein muss..." Seufzend stand ich auf.
„Ich schau mich mal weiter um." Doch sie hörte gar nicht hin. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Das war eben Lay, chaotisch und stur aber eben durch und durch meine beste Freundin. Und im Spurensuchen war sie schon bei den Pfadfindern die beste gewesen.
Ich ging wieder hinaus auf den Flur und hinein in den nächsten Raum, der dem, in dem Lay saß, zum Verwechseln ähnlich sah. Da ich bei näherer Betrachtung nichts entdecken konnte, ging ich wieder zum nächsten und so hatte ich in kurzer Zeit alle Räume durch. Als ich schließlich am Ende des Flurs stand, entdeckte ich eine Nische, gerade groß genug, das ein Mensch hineinpassen könnte, die vom Flur abzweigte.
Ich trat einige Schritte näher heran und strich über die schwarze Wand, wobei die zu meiner Überraschung an einigen Stellen abblätterte und ein winziger Spalt zum Vorschein kam.
Hastig fuhr ich den Spalt entlang und legte immer mehr davon frei. Nach einer Minute stand ich vor dem Umriss einer kleinen Tür, wie man sie von alten Häusern kannte. Da ich keine Klinke erkennen konnte, stieß ich mit der Hand dagegen und da schwang sie auf. Dahinter führten Treppenstufen in einem kleinen Gang nach unten in die Dunkelheit.
„Lay?", rief ich. „Ich glaube, ich hab die Tür gefunden."
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