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Hi. Ich bin Mar. Ich bin 16, habe wunderschöne blonde Haare und kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas in meinem Leben besser laufen könnte als es jetzt schon ist. Ich tippte die Wörter in meinen kleinen himbeerfarbenen Computer auf meinem Schreibtisch. Sie erschienen mir vor dem weißen Hintergrund so blass und leblos. Das hier ist meine Englisch-Hausaufgabe. Lieber Mister Finlay, ich habe leider keine Ahnung was ich schreiben soll, denn mit dem Auftrag "Schreibe einen Text über dich selbst. So, als würdest du dich dem Computer vorstellen", kann ich leider nicht viel anfangen. Und was hat das bitte mit einer Bewerbung zu tun? Aber bitte, wie sie wollen. Also, wo war ich. Ich bin...
„Margareth?" Das war es dann wohl mit meinem Aufsatz. Genervt drehte ich mich auf meinem Schreibtischstuhl um und sah meinen kleinen Bruder im Türrahmen stehen.
„Ja, du nerviger Idiot?" Er verzog das Gesicht und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er hatte gerade diese Justin-Bieber-Frisur-Phase, bei der seine Haare ihm fast bis über die Augen hingen. Wie alle anderen versuchte auch er, sie mit einem coolen Kopfdrehen aus dem Gesicht zu schütteln, nur leider sah das bei ihm eher dämlich als cool aus. Aber ich wollte ihn ja nicht entmutigen und so ließ ich ihm die Illusion.
„Kannst du mir bitte bei den Mathehausaufgaben helfen?", quengelte er weiter. Er war 12, aber Mum und Dad behandelten ihn, als wäre er gerade erst in die Schule gekommen, was beinhielt, ihm jeden Tag bei den Hausaufgaben zu helfen. Dummerweise waren sie heute Nachmittag nicht da, deshalb musste ich für sie einspringen.
„Kannst du die nicht morgen bei irgendwem abschreiben?", ich seufzte genervt. Ich hatte gerade absolut überhaupt keine Lust, ihm zu helfen, denn jeden Fehler, den man ihm zeigte und erklären wollte, diskutierte er so lange, bis man aufstand und ging. So lief das jedes Mal, jedenfalls wenn ich ihm half, Mum schien da irgendeinen geheimen Trick zu kennen, mit dem man ihn überlisten konnte.
„Mar!" Er sah mich entsetzt an. Ganz untypisch für sein Alter war er ein richtiger kleiner Streber, der sich nicht einmal den Gedanken an Abschreiben erlaubt hätte.
„Hilfst du mir jetzt oder nicht?", hakte er weiter nach. Genervt zog ich eine Augenbraue hoch.
„Ich habe zu tun."
„Du? Zu tun?" Er fing an zu lachen und versuchte, einen Blick auf das geöffnete Dokument auf meinem Laptop zu erhaschen. Ich wollte ihn zuzuklappen, doch es war schon zu spät und er drängelte sich an mir vorbei.
„Ich bin Mar, 16 und habe blonde Haare?", las er laut vor. „Was ist das? Ein Roman oder ein Versuch, deine Persönlichkeit durch Erstellen eines neuen Ichs zu ändern? Das ist erbärmlich. Außerdem sind deine Haare dunkelbraun! " Seit wann konnte er sich denn bitte so wissenschaftlich ausdrücken? Aber ich will ja nicht ablenken, er hatte ja in gewissem Maße recht. Ich hatte keine blonden Haare und mein Leben könnte um einiges besser laufen, als es das jetzt gerade tat. In Wirklichkeit hatte ich braune (meinetwegen auch dunkelbraune!) Haare und war nicht gerade sehr zufrieden mit allem. Die Hausaufgabe war nur ein jämmerlicher Versuch, mir etwas vorzustellen, dass in Wirklichkeit niemals sein könnte.
„Soll ich dir jetzt helfen oder nicht?" Ich zog ihn hinter mir her aus meinem Zimmer und machte die Tür zu, bevor er noch weiter fragen konnte.
Als wir am späten Abend beim Abendessen unten in der Küche um den Esstisch versammelt saßen, fragte Mum Anthony gewissenhaft über seine Hausaufgaben aus. Leider hatten sich meine Eltern auch für meinen Bruder keinen besseren Namen als für mich ausgedacht und so mussten wir nun unser Leben lang mit den Namen Margareth Liliana Santiago und Anthony Daniel Santiago leben. Vielen Dank auch, Mum und Dad! Meine Mutter beugte sich über den Esstisch und reichte meinem Vater die Salatschüssel, ihr langes braunes Haar fiel ihr schimmernd ins Gesicht. Sie hatte die gleichen braunen Haare und die grünen Augen wie ich, doch leider sahen meine Haare nie so toll aus wie ihre. Im Gegensatz zu denen meines Bruders, die den gleichen schimmernden Glanz hatten wie die meiner Mutter. Der Glückliche! Mum lächelte mir zu.
„Ich habe gehört, dass du deinem Bruder heute bei den Hausaufgaben geholfen hast."
„Was bleibt mir schon übrig, wenn er zu blöd ist, sie selbst zu machen?" Der eben genannte schrie empört auf.
„Sie hat mich beleidigt! Sie muss einen Euro ins Sparschwein schmeißen!" Meine Eltern stöhnten genervt auf.
„Ich hatte gehofft, wir hätten diese Phase ein für alle Mal hinter uns, Margareth!" Mum sah mich strafend an.
„Es nervt einfach, dass er immer so bemuttert wird. Er ist doch kein kleines Kind mehr!", verteidigte ich mich selbst. „Wie ist eigentlich euer Auftrag gelaufen?" Jetzt war es mein Bruder der mich wütend ansah. Er wehrte sich gegen alles, was mit der Arbeit unserer Eltern zu tun hat. „Mum, das ist nicht fair. Ich muss Geld abgeben, wenn ich ihn beschimpfe, also muss er es auch, wenn er mich so ansieht!"
„Kinder, hört auf!" Mein Vater schaltete sich ins Gespräch ein. „Anthony, hör du damit so zu schauen und Mar, es tut mir leid aber ich und deine Mutter haben uns besprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir dich nicht mehr in unsere Arbeit miteinbeziehen." Ich sah ihn fassungslos an.
„Was soll das denn bitte heißen?!"
„Das soll heißen, dass wir dir in Zukunft nichts mehr von unserer Arbeit erzählen werden und wir möchten auch dich bitten, dich herauszuhalten." Ich war entsetzt.
„Das ist vollkommen unfair! Ich habe nichts gemacht, ich habe sogar einigermaßen gute Noten in der Schule!" Naja. Wenn man mal von Physik absah. Meine Mutter beugte sich zu mir.
„Das ist doch nicht böse gemeint, Schatz, wir haben nur Angst, dass du in etwas hineingezogen wirst, das gefährlich sein könnte." Ich sprang vom Tisch auf.
„Warum darf ich mich nicht für euren Beruf interessieren? Normale Eltern wären glücklich, wenn ihre Kinder wenigstens etwas Interesse zeigen würden!" Wütend drehte ich mich um und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer. Ich konnte direkt spüren, wie mir meine Eltern besorgt nachsahen. Oben angekommen ließ ich mich aufs Bett fallen und kuschelte mich in meine weiche Blümchendecke. Nach einer Weile betrachtete ich mein Zimmer. Es war ganz in hellen Farben gehalten, weiß und beige und ab und zu ein paar Farben. Da unser Haus nur das Erdgeschoss und den ersten Stock beinhaltete, wohnte ich in einem Zimmer mit Dachschräge, was mir aber keinesfalls missfiel. Es war eher gemütlich, da die Schräge aus hellem Holz bestand, das dem Zimmer einen freundlichen Eindruck gab. Direkt an der Wand, wo die Schräge endete, hingen meine Fotos von Layla, meiner besten Freundin und mir, die wir in den letzten vier Jahren gemacht hatten.
Ich musterte mich selbst mit Zahnspange und Pfadfinderuniform. Das war kurz nachdem Lay hierhergezogen war und wir uns kennengelernt hatten. Ich hatte sie vor der miesesten Zicke in meiner Klasse verteidigt und seitdem waren wir unzertrennlich. Ich setzte mich auf. Ich war unfair zu meinen Eltern gewesen, das stimmte, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, diesen Teil meines Lebens so einfach hinter mir zu lassen, als wäre er nie geschehen. All die Abende, die ich abends an Mums Lippen gehangen hatte, wenn sie erzählt hatte, welche Abenteuer sie heute wieder erlebt hatten. Es war von Anfang an klar gewesen, das wir kein normales Leben führten, aber manchmal fragte ich mich ob ein normales Leben wirklich schöner wäre als das unsere. Ich konnte es mir nicht vorstellen, ich wusste schon mein ganzes Leben lang das wir anders waren. Das wir aufpassen mussten, wem wir vertrauten oder nicht. Denn was meine Eltern beruflich taten, war alles andere als gewöhnlich. Sie waren Diebe. Sehr professionelle Diebe.
Sie mochten es nicht, wenn man sie so darstellte, denn sie waren wirklich die nettesten und ehrlichsten Leute, die ich kannte. Deswegen waren Anthony und ich auch die einzigen, die über ihre wahren Berufe Bescheid wussten. Vor Freunden und anderen arbeitete Dad in irgendeinem Büro und Mum halbtags im Supermarkt, was Besseres war uns nicht eingefallen. Da sie wegen ihres nicht gerade üblichen Berufes für alle die genug zahlten, auf Auftrag arbeiteten, waren sie öfter zu Hause als mir lieb war. Familie hatten wir keine, der einzige Grandpa, den ich je kennengelernt hatte, war vor einigen Jahren gestorben und Geschwister hatten meine Eltern beide keine. Ich war noch nie ein Fan von Familiensonntagen oder anderem Zeug gewesen, da wir uns leider sehr schnell auf die Nerven gingen, und so wurde mein Zimmer mein kleiner Rückzugsort. Meine Eltern hatten noch nie jemanden für ihren Job verletzt oder gar getötet, sie gingen lautlos vor und waren so schnell wieder weg, das man nicht einmal bemerkte, dass sie überhaupt da gewesen waren. Also alles halb so schlimm.
Und doch waren sie ein roter Punkt auf den Zielscheiben vieler anderer. Alles hatte damit angefangen, dass mein Dad Mum kennengelernt hat. Dad war damals schon „Dieb" und Mum war Angestellte in einem Museum, in das er einbrach. Nun, bei diesem Einbruch lernten sie sich jedenfalls kennen und ein Jahr später kam ich. Man könnte wohl nicht behaupten, dass ich eine normale Kindheit gehabt hätte. Meine Eltern brachten mir alles bei, was sie für wichtig hielten, inklusive Knacken von Türschlössern und hacken in Computer. Man sollte also meinen, mich könnte nichts aufhalten. Doch in den letzten Jahren hatte ich gemerkt, dass es nicht immer von Vorteil war, sich unnormal zu verhalten. Also hatte ich versucht, mich einzuordnen in die Hierarchie aus endlosen Girlies und Zicken. Es ist nicht immer einfach, so zu tun, als hättest du keine Ahnung, dass deine Freundinnen dich anlügen. Als wärst du ein ganz normaler Teenager, was ich wirklich versuchte zu sein. Aber es langweilte mich endlos. Als ich kleiner war durfte ich meinen Eltern sogar einmal bei der Vorbereitung zum Einbruch in ein Büro irgendeines Managers helfen, um ihre Ausrüstung zu packen. Leider hatte ich statt eines Drahtes, um den Stromkreis zu unterbrechen, ein Handyladekabel eingepackt, wodurch Mum und Dad beinahe geschnappt worden wären. Zu meiner Verteidigung, ich war damals erst sieben. Seitdem war ich begeistert davon und bekam doch immer nur die Geschichten erzählt. Bis heute. Und jetzt war mein Leben noch langweiliger als zuvor.
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Am nächsten Morgen nahm ich wie immer den Schulbus um acht Uhr dreißig. Layla hatte mir wie immer einen Platz freigehalten, da sie früher einsteigen musste als ich. Naja, sie wohnte nur eine Straße weiter aber komischerweise stiegen immer alle Leute nach ihr ein, also vor mir. Dank dieser Logik hatten wir den nun angewandten Plan entwickelt, mir immer einen Platz freizuhalten. Und ich war wirklich froh darüber! Ich quetschte mich durch die stehenden Schüler, die sich irgendwo festhielten um bei Kurven nicht umzufallen und ließ mich neben Layla auf den freien Sitz fallen.
„Hi Lay, alles klar?"
„Oh mein Gott, du wirst es nicht glauben, aber rate mal wer mich gestern auf Facebook angeschrieben hat!" Im Gegensatz zu meinen dunkelbraunen Haaren, die wie immer machten was sie wollten hat, hatte Layla lockige, hellblonde Haare, die wie immer perfekt gestylt waren. Aber Lay sah immer perfekt aus. Im Gegensatz zu mir, die ich, wenn ich mich so herrichten würde, mindestens eine Stunde brauchen würde. Ich will nicht faul erscheinen aber diese Geduld hätte ich wirklich nicht. Ich war schon froh, wenn ich es morgens bis zur Kaffeemaschine und danach pünktlich zum Bus schaffte. Eine Stunde früher aufstehen? Nur über meine Leiche!
„Keine Ahnung, Lay, der Papst?", tippte ich.
„Mar! Du hast überhaupt keinen Sinn für Humor! Es war Patrick!"
„Etwa DER Patrick?", ich sah sie ungläubig an. „Ja, wenn ich es dir doch sage!" Lay stand schon sehr lange auf Patrick, der aber zu ihrem Unglück nicht zur High Society der Schule sondern zur eher unbekannten Kategorie der Bücherwürmer zählte.
„Wie kommt es dazu? Ich dachte, der liest lieber irgendwelche Romane, als ein Mädchen anzusprechen."
„Ich habe ihm unter sein Facebook-Bild von Jane Austens Stolz und Vorurteil einen Kommentar geschrieben." Sie sah mich an und ich erwartete fast schon, Herzchen in ihren Augen glitzern zu sehen.
„Was hast du geschrieben?" Ich bereitete mich auf das schlimmste vor.
„Ein Zitat aus dem Buch, es lautet: In Liebesdingen sind wir alle Närrinnen."
„Hast du nicht." Mir verschlug es fast die Sprache.
„Doch." Sie lächelte mich verliebt an. Ich konnte nicht fassen, zu was verliebte Mädchen alles fähig waren. Meine Freundin hatte noch nie im Leben ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite komplett durchgelesen.
„Wer bist du und wohin hast du meine beste Freundin verschleppt?", fragte ich sie mit neckischem Unterton. Layla lachte nur.
„Ach Mar, du wirst es auch irgendeines Tages verstehen." Na vielen Dank.
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