Kapitel 98
Als ich zurück in die Gegenwart gelangte, wartete schon jemand auf mich. Allerdings handelte es sich bei dieser Person nicht zufällig um Niall, wie ich insgeheim gehofft hatte, sondern um Kim. Humbalumba und seine Freunde waren einfach weg - genau wie Niall. Kim stand in einiger Entfernung und betrachtete die Bäume im Park. Er betrachtete einen bestimmten Punkt und als ich mich ihm näherte, erkannte ich, welchen. Den Busch, hinter dem Griffins Leiche gelegen hatte. Ein Schauer fuhr mir über den Rücken, aber ich erholte mich schnell. Kims Aufmerksamkeit richtete sich auf mich. Unsere Blick trafen sich. Es war eine schlechte Tatsache, dass ich ihm plötzlich in die Augen sehen konnte. Der Blickwechsel ließ mich erzittern, obwohl ich mich längst nicht mehr vor ihm fürchtete. Mir fiel auf, dass die Umwelt nicht mehr still stand. Ein älterer Mann ging pfeifend an uns vorbei. Er musste den Mittag für einen guten halten. Ich fand den Tag schrecklich. Zuerst küsste Niall mich und dann...Dann schloss ich einen Pakt praktisch mit dem Teufel, nur um mich entgültig von Niall zu entfernen. Ich...hatte mich in ihn verliebt. Und als ich so in Kims Augen schaute, erfasste mich eine Welle der Trauer, die zu beschreiben ich unfähig war. Wie auch sollte ich sie beschreiben? Trauer war Trauer. Ich hatte nie verstanden, was Tränen zum Fließen brachte.
Kim grinste selbstgefällig. "Siehst du, Ruby. Niemand ist gestorben", sagte er in diesem Tonfall, der mir bereits allzu bekannt war. Nein, niemand hatte sein Leben gelassen. Ich fühlte mich nur, als hätte ich meine Seele gelassen. Irgendwo, vermutlich in Hunahunas Seelenraum. "Wo ist Niall?", fragte ich. Lieber besah ich mich sofort dem wichtigen, anstatt mir die Zeit mit Kim zu vertreiben. Zwar war mein Verlangen, ihn umzubringen, bis auf weiteres gestillt, doch garantieren konnte ich für nichts. "Gegangen." Ich runzelte die Stirn. Wieso hatte er nicht gewartet, damit ich ihm erzählen konnte, was ich erhandelt hatte? Ich hatte ihm selbst davon berichten wollen. Immerhin wäre er ohne mich nicht mehr am Leben. Naja, ohne mich wäre er aber auch niemals in diese Situation gelangt. "Wohin?", hakte ich weiter nach. Ich musste ihn einfach finden. Zumindest ein Gespräch wollte ich noch mit ihm führen, bevor..wir beide dafür bezahlen würden. "Er möchte nicht mit dir reden", sagte Kim. Warum? Anscheinend sprach mein Gesichtsausdruck Bände, denn Kim erklärte seufzend: "Kalag hat eure Unterhaltung für uns zugänglich gemacht. Wir konnten eure Verhandlung hören." Ah. Verdammt. "Aber...sie ist doch milde ausgegangen. Niall lebt!" Kim schüttelte bloß grinsend den Kopf.
"Du verstehst es nicht." Himmel, warum taten sie alle andauernd so, als ob ich grundsätzlich kein Gehirn besaß? "Sag schon", verlangte ich. Erneut seufzte er. Zu meiner Überraschung antwortete er trotzdem. "Niall wollte nicht leben. Ihm war es schlichtweg egal." Das glaubte ich nicht. Sogar ein solcher Kerl, der Emotionen wie ein Kühlschrank an den Tag legte, scherte sich um sein Leben. "Kann er mir das nicht selbst sagen?" Ich hatte keine Ahnung, wieso ich Kim noch länger zuhörte. Er erzählte Märchen. "Kann er. Möchte er nicht." Ich schnaubte. "Und du bist jetzt sowas wie sein Dolmetscher? Bitte, das ist lächerlich." Mein Magen verkrampfte sich. Ein Gespräch. Ein einziges. Der Gedanke daran, ihn kein zweites Mal zu küssen, lähmte mich förmlich. Ich wollte ihn so gerne berühren. Wollte, dass er mich berührte. Anfangs hatte ich mir nicht eingestanden, was seine Berührungen in mir auslösten. Doch nun, da ich ehrlich zu mir selbst war, fehlten sie mir. Es war wie eine Entzugserscheinung.
"Ruby. die Vereinbarung, die du getroffen hast, ist mehr als deutlich. Ihr dürft euch nicht unterhalten, wie in alten Zeiten." Sein Blick wurde dreckig. Ich hasste diesen Kerl. Aus tiefstem Herzen. Dennoch erinnerte ich mich an Nialls Worte. Ausgerechnet seine Worte. Richtig, ich wollte nicht so schlecht sein wie Kim, indem ich ihn tötete - derweil ich sowieso keine Pistole mehr besaß. Langsam atmete ich tief durch. "Ein letztes Mal wäre doch nicht zu viel verlangt." Ich sprach ganz leise, eigentlich eher zu mir selbst als zu Kim. Er reagierte darauf. "Genau genommen schon." Tränen glitzerten mir in den Augen. Also kein Gespräch. Wir würden nie wieder mit einander reden. Die Ecke war vergessen. Alles schien vergessen. Ich wünschte mich zurück auf diesen Balkon. Damals wusste ich nichts von alledem, fast nichts jedenfalls. Es wirkte beinahe so, als gäbe es einen Ausweg. In diesem Moment sah alles anders aus. Ich hatte Corine verloren - meine erste und einzige beste Freundin. Diejenige, die zu mir gehalten hatte, selbst als man ihr eine verlockendere Einladung gemacht hatte. Diejenige, die nie genervt gewesen war, weil ich auf ihre Erzählungen nicht einging. Diejenige, die meiner verkorksten Persönlichkeit einen verkorksten Teil nahm und mich zu dem Menschen machte, der ich letzlich geworden war. Und jetzt sollte ich auch noch Niall verlieren? Niall, meinen Retter in Not. Den Kerl, der mich begrapscht und berührt hatte. Und bescheuerterweise der Kerl, mit dem ich nach so langer Zeit endlich eine Zukunft gesehen hatte. Fassungslos über diese dämliche Abmachung, die ich geschlossen hatte, hielt ich mir die Hand vor den Mund.
"Mach dir nichts draus", spottete Kim. Er wandt sich zum Gehen. "Es wird noch andere geben." Aber Niall war der Eine. Schon unsere Eltern hatten es gewusst. Bevor wir überhaupt das Licht der Welt erblickt hatten! Ich schüttelte wieder den Kopf und verdrängte die Tränen. Zu meinem Pech liefen doch ein paar meine Wange hinunter. Einer Eingebung folgend rief ich Kim, der den Park schon fast verlassen hatte, etwas hinter her. In der Hoffnung, dass er es tatsächlich gehört hatte. "Sag ihm, dass ich ihn liebe."
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