Kapitel 91
Ich rieb mir über die Arme, auf denen sich kurzzeitig eine Gänsehaut bildete. Die Welt um uns herum, schien stehen zu bleiben. Na gut, sie blieb definitiv stehen. Die Gabe der Schwarzen war mir ein Rätsel. Ich fuhr herum, wollte eine lässige Reaktion zur Schau stellen, aber das ganze lief aus dem Ruder. Als ich ihn sah und die Erkenntnis noch mehr einsickerte, erstarrte ich - mitten in der Drehung. Dank Niall, der mich auffing, fiel ich nicht um. Es war peinlich und unglaublich demütigend. Dabei kannte Kim mich. Vor mehreren Wochen hätte ich mich kein bisschen geschämt, wenn ich mich vor ihm lächerlich gemacht hätte. All die Wochen, die seither vergangen waren, waren eine einzige riesige Lüge gewesen. Dort stand er, ein Grinsen aufgelegt, das mir durch Mark und Bein ging. Die Hände in den Hosentaschen versteckt. Ich sah in seine Augen und wunderte mich kein bisschen darüber, dass mir die Tür zu seinem Seelenraum verschlossen blieb. Kim war ein Begabter, noch dazu ein schwarzer.
"Deine Seele ist nicht weiß", zischte ich. Verräter. Wieso hatte ich nicht sofort gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmte? Ein weißer Seelenraum. Niemand besaß eine weiße Seele! "Nicht im geringsten. Aber ich fand es süß von dir, dass du das tatsächlich geglaubt hast." Er kam einen Schritt auf uns zu. Griffin stieß ein Seufzen aus. "Ihr Roten seid ja so leichtgläubig", lachte Kim. Ich legte die Stirn in Falten. Warum tat Kim sowas? "Und ihr Schwarzen. Immer denkt ihr, ihr wärt die größten", konterte Niall für mich. "Ach, Niall! Schön dich zu sehen. Wo unsere letzte Begegnung doch so lange her ist." Kim zwinkerte ihm zu. Worauf spielte er an? Ich sah zu Niall, hob fragend eine Augenbraue. "Nicht wichtig." Aha. Wenn es nach Niall ging, war absolut gar nichts wichtig. Das stimmte nicht. Ich ergriff die Initiative und ging Kim einen Schritt entgegen. Er stand mittlerweile keinen Meter von uns entfernt. "Ich wünsche dir viel Glück, Cherubyn!" Nialls Dad, der feige Schweinehund, grinste zum Abschied, winkte ein letztes Mal und bevor ich ihn anmeckern konnte, löste er sich in Luft auf. Seelen konnten so gemein sein!
"Was willst du, Kim?", brachte ich die Sache direkt auf den Punkt. Ich ahnte bereits, dass diese Situation länger dauern würde. Kim hatte die Welt nicht umsonst angehalten. Ich fragte mich auch, weshalb er nicht gleich unsere Körper gelähmt und uns in den angrenzenden See gelegt hatte. Dort wäre alles schnell gegangen. Wir wären ertrunken und irgendwann von Spaziergängern, möglicherweise von meiner Mum, gefunden worden. Einfach und schmerzlos. Aber Kim, wie ich ihn einschätzte, hatte nicht vor, einfach und schmerzlos zu handeln. Kein Ahnung, was er überhaupt vorhatte. Er war undurchsichtig. All seine Taten ergaben für mich wenig Sinn. "Was ich will?" Erneut verfiel er in Gelächter. Alles. Seine Art, sein Aussehen. Ich erkannte den Jungen nicht wieder, den ich vor wenigen Wochen stürmisch umarmt hatte, nachdem wir feststellten, wer wir waren. Er trug eine zerfetzte Lederjacke, schwarze Jeans, dreckige Bikerboots und ein Bandana. Vermutlich las er genauso gerne wie ich. In meinen Büchern zogen sich die Bösewichte immer absichtlich so an, um gefährlicher zu wirken. Oder um einem bestimmten Image zu entsprechen. In Wirklichkeit wirkte er lächerlich. Niall. Ja, Niall hätte das Outfit gestanden. Passend zu seinem Piercing und dem Ohrring und den langen Haaren, die richtig rebellisch aussahen, die Lederjacke und die Bikerboots.
"Genau", sagte ich. "Was willst du? Du bringst ja nicht zum Spaß drei Menschen um, die du kaum bis gar nicht kennst und erschleichst dir mein Vertrauen. Der weiße Seelenraum, plus Seele, deine Unfähigkeit mit Dustin, deine Schauspielerei damals, als Niall dein Zimmer auf den Kopf stellte. Wozu das alles?" Niall folgte mir ein Stück, wie ich aus dem Augenwinkel heraus bemerkte. Er sagte nichts. Doch das erwartete ich auch nicht von ihm. Wahrscheinlich wartete er auf den richtigen Moment, Kim den Kopf abzureißen. Apropos. "Wie hast du sie gebissen? Du magst ja vielleicht Hasenzähne haben, aber selbst ein Hase könnte keinen so großen Biss anrichten." Immer mehr Fragen stellten sich mir. Die Logik schwand. Kim antwortete nicht. Er trat stattdessen noch näher. Schließlich standen wir uns so nahe, wie Niall und ich uns am Morgen, ehe wir... Ich stolperte zurück. Nialls Hand griff mir in den Rücken, weil er dachte, ich würde wieder fallen. Das tat ich nicht. "Finger weg", grummelte ich leise. Er nahm sie fort, hinterließ eine ungewohne Kälte auf meinem Rücken. Super, ich empfand Entzugserscheinungen. Kim lachte zum dritten Mal, ohne uns irgendwas zu erklären.
"Ihr solltet eure Blick sehen. So konzentriert und gleichzeitig verängstigt!" Seine Stimme nahm einen überheblichen Unterton an. Noch überheblicher als ohnehin schon. "Kim", stöhnte Niall. Er kratzte sich am Kopf. "Tut mir leid, Leute. Ich will euch nur nichts vorweg nehmen. Wisst ihr, wir werden hier viel Zeit verbringen. Da dachte ich mir, ich behalte die guten Sachen fürs Ende." "Was soll das heißen? Wir werden hier viel Zeit verbringen? Ich kann gehen, wann ich will. Dort ist das Tor!" Mein Magen zog sich zusammen. Eigentlich wusste ich, dass ich falsch lag. Er hatte sie angehalten! Die Welt. Und ich war mir nicht sicher, wie ich das von alleine rückgängig machen sollte. Ich war weder schwarz noch golden. Ich konnte diese dämlichen Sachen nicht. Niall schon. Nachdenklich betrachtete ich ihn. Aber wie sollte ich ihm von meinem Plan berichten? Außerdem, was verschaffte mir die Gewissheit, dass er es tatsächlich schaffen würde? Genau. Nichts. Wir waren gefangen. "Einsicht ist der erste Schritt zur..Huch. Habe ich das wirklich gesagt? Und Ruby, möchtest du mir jetzt auch eine reinhauen? Oder schlägst du nur gerne Niall?" Ich stolperte noch weiter zurück. Woher...
"Du hast...Bist du ein Spanner oder so?" Kim lief auf und ab. Dann entschied er sich dazu, stehen zu bleiben. "Ein Spanner mit gewissen Vorzügen, selbstverständlich", antwortete er. "Das glaube ich nicht", rief ich aus. Hier hörte mich sowieso niemand. Wir befanden uns buchstäblich im Nirgendwo. "Glaub es ruhig."
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