Kapitel 74
Keine Antwort. Niall hatte diese Frage rethorisch genommen. Also fromulierte ich sie um. "Wieso sind wir hier? Und was hast du angestellt?" Meine Stimme hörte sich ein bisschen schrill an. Ich fand das durchaus gerecht, bezüglich der Situation, in der ich steckte. "Wir sind hier, weil ich dir zeigen wollte, was dich nächstes Wochenende erwartet", erklärte Niall. Auf meine zweite Frage ging er nicht ein. Ich hasste es, wenn er das tat. "Ach ja?" Nächstes Wochenende...Nächstes Wochenend... Oh. Die Mutprobe. Das Aufnahmeritual. "Ich gehe nicht hin." Corine hatte es bisher nicht geschafft, mich voll und ganz zu überreden und ehrlich gesagt, zweifelte ich an ihren Fähigkeiten. Diese Mutprobe würde nur schief gehen, so wie alles in meinem Leben momentan. Ich wollte nicht hingehen, egal, was dann mit meinem gesellschaftlichen Rang passierte. Auch so war Corine meine einzige Freundin und ich brauchte niemanden sonst. Ich brauchte nicht mal Kim! "Das wirst du", sagte Niall. Konnte er auch noch die Zukunft vorhersagen oder was? "Nenn mir einen guten Grund. Daizys Gründe klangen nicht gerade überzeugend. Solche Rituale sind doch total bescheuert. Ich muss mich nicht anstrengen, um irgendwo dazuzugehören. Entweder man nimmt mich wie ich bin, oder man ist es nicht wert, dass ich mich anstrenge." Niall spielte mit seinem goldenen Ring. Ein Lichtstrahl fiel durchs Fenster und verlieh ihm diesen goldenen Glanz, von dem ich nie genug bekam.
"Du bist stur", stellte er fest. "Nein, nur schlau." Welcher Mensch, der halbwegs bei Verstand war, vollführte ein dämliches Aufnahmeritual um irgendwo dazuzugehören. "Und eingebildet auch noch." Ich verdrehte die Augen und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Die anfängliche Euphorie war wie weggewischt. Sie war ja nicht mal echt gewesen! "Was man nicht alles erfährt, in einem Baumhaus", zischte ich. Prompt wurde ich mir der Intimität des Baumhauses bewusst. Andere... Nein, ich dachte jetzt nicht daran, was andere hier schon getrieben hatten. Niall und ich würden nur reden, uns gegenseitig ankeifen. Nicht mehr und nicht weniger. Leider wusste mein Herz nicht, ob es das nun gut oder schlecht finden sollte. "Wirklich? Du denkst, deine Sturheit merkt man dir nur hier an?", höhnte Niall. So stur war ich gar nicht. Vielleicht ein bisschen. "Was denkst du? Merkt man dir deine Einsamkeit auch außerhalb an?", gab ich zurück und biss mir im selben Augenblick auf die Zunge. Das war zu weit gewesen. Niall hatte vor mir geweint, sich in gewisser Weise geöffnet und ich...begann mich darüber zu amüsieren. Doch zum wiederholten Mal an diesem Tag überraschte mich Nialls Reaktion. Er lachte. "Man merkt sie mir nur an, wenn ich es zulasse", konterte er. Ich musterte seine Gesichtszüge. Aber nichts in ihnen verriet, dass ihm meine Bemerkung weh getan hatte. Dann fiel mein Blick in seine Augen und tatsächlich glitzerten die Goldpartikel nicht ganz so golden wie sonst auch. "Red dir das ruhig an." Inzwischen konnte ich einschätzen, wann er log. Wann er Schmerzen empfand.
"Einbildung ist die beste Bildung", sagte ich noch, ihn selbst zitierend. "Richtig." Die nächsten Minuten entstand das altbekannte Schweigen zwischen uns. Ich ließ meinen Blick zum Fenster hinaus gleiten. Eine Uhrzeit war mir längst entfallen. Womöglich sollte ich mir doch bald eine Uhr zulegen. Um diese Jahreszeit konnte es ganz egal wie spät sein. Irgendwann raschelte es im Gebüsch unter uns. So laut, dass ich zusammen zuckte. Von der anfängliche Sicherheit, die ich empfunden hatte, war nicht mehr viel übrig. Wir würden sterben. Wahrscheinlich war das ein Wilder, oder ein Bär oder ein Verbrecher - ich hatte wenig Lust, so zu sterben wie Nialls Dad und die Barista. Ich zog die Beine an meinen Körper und wiegte mich vor und zurück. Niall beäugte mich einen Augenblick lang stirnrunzelnd, dann beugte er sich über den Eingang des Baumhauses und spähte hinunter. Wieder ertönte das Rascheln. Ich wimmerte leise. In Gedanken war mein letztes Stündlein bereits geschlagen. Ich hörte Niall kichern. Schließlich kam er mit dem Kopf wieder ins Baumhaus. Ihm folgte der Kopf eines Mädchens, das mir bekannt vorkam. Seine Cousine Macy. Schnell schaute ich weg, damit ich nicht in ihren Seelenraum gelangte. Aufwühlung hatte ich genug gehabt für fünf Jahre. Ich versuchte, mir meine offensichtliche Erleichterung, dass es kein Bär und auch kein Wilder war, nicht anmerken zu lassen. "Mir war klar, dass ihr hier seid", sagte Macy. "Ruby, wie fändest du es, hier eine Toilette einzubauen?" Sie lachte. Ich wurde rot. Diese Idee hatte ich wirklich ernst gemeint. Keine Ahnung, warum sie mich damit alle aufzogen. "Das wäre ein bisschen umständig, findest du nicht?", sagte ich, starrte weiterhin aus dem Fenster.
"Du kannst mir übrigens in die Auge sehen, ich beiße nicht." Ich räusperte mich. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich das nicht konnte? Moment. "Hast du..Bist du..?", stotterte ich, doch irgendwie wollte sich mir kein normaler Satz erschließen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie ihre Hand hob, an der ein Ring steckte, der Nialls Ring um einiges ähnelte. Bloß das Gold glänzte nicht so stark. Erleichtert atmete ich aus. Dann sah ich sie an. Ich wusste nicht, ob es an ihren Ringen lag, dass ich ihnen in die Augen sehen konnte. Zumindest funktionierte es. "Irgendwann verrätst du uns, weshalb du den Blick in Augen vermeidest", meinte Macy schulterzuckend. Diesmal gelang es mir, sie genauer zu mustern. Sie war hübsch, ziemlich arg hübsch. Ausgeprägte Wangenknochen, Sommersprossen, soweit ich das bei dem Licht erkennen konnte, kleine mandelförmige Augen, die anders als Nialls Augen nicht golden schimmerten, sondern bronzefarben. Ihre Stirn war rein, genauso wie ihre restliche Haut makellos. Sie wirkte immer noch perfekt auf mich. "Irgendwann", sagte ich ausweichend. Eigentlich hielt ich es für vernünftiger, niemandem davon zu erzählen. Seelen mochten cool sein, aber nicht ganz so interessant, dass man seine eigene unbedingt kennen musste. Es sei denn man hieß Ruby, immerhin wollte ich meine Seele sehen, seit ich klitzeklein war.
"Grant sorgt sich um dich. Und meine Mutter um dich!" Sie warf Niall einen bösen Blick zu. Stimmt, er besaß ja keine Mutter mehr. Und keinen Vater. Ich fühlte mit. "Kommt", meinte Macy erneut, als sich niemand von uns rührte. Niall war der erste, der sich bewegte und hinter Macy die Leiter hinab klettern wollte. Aber ich hielt ihn kurz zurück. "Tut mir leid", sagte ich, weil ich mich auf einmal dafür grämte, was ich ihm an den Kopf geworfen habe. "Was genau?", hakte er nach, ein klitzekleines angedeutetes Grinsen auf den Lippen. "Einfach...Alles." Ich seufzte. Er nickte.
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