Kapitel 73
"Und du?", hakte ich nach, ganz leise, weil ich nicht wusste, ob es ein guter Schachzug war, ihn das zu fragen. "Denkst du, du stehst auch auf dieser Liste?" Niall stieß ein frustriertes Seufzen aus, als die Ente davon lief, ohne das Brot anzurühren. Er schmiss das vollständige Brötchen zu Boden und trampelte darauf herum. Anscheinend hatte er genug davon, seine Gefühle andauernd zu verbergen. Heute zeigte er sie häufiger, als ich es für möglich gehalten hätte. "Denkst du etwa, du stündest auf der Liste deiner Eltern, Ruby?" Warum antwortete er immer mit einer Gegenfrage? Ich schwieg. Genau davon war ich ausgegangen. Bei näherem Betrachten fiel mir meine eigene Naivität auf. Sie hatten mich weggegeben. War ich ihnen nun wichtig? "Ich..", setzte ich an, doch unterbrach mich selbst. Keine Ahnung. "Genau." Niall seufzte erneut und dieses Mal klang sein Seufzen so erschöpft, dass ich unwillkürlich einstimmte. Eine Weile hingen wir beide unseren Gedanken nach, keiner sprach ein Wort. Bis er auf einmal aufstand. Ich blieb sitzen, rechnete nicht damit, dass er sich von mir verabschiedete, gar noch etwas sagte. Aber da täuschte ich mich. Auch für Niall hatte sich etwas an unserem Verhätlnis geändert, denn er drehte sich zu mir um, als ihm auffiel, dass ich keine Anstalten machte, ihm zu folgen. Er streckte die Hand aus und auf seinen Lippen erschien so etwas wie ein Lächeln. "Kommst du mit?" Ich zögerte. "Wohin?"
Er schloss die Augen und schien nachzudenken. Seine Wimpern warfen Schatten auf seine Augenringe. Magisch, schoss es mir durch den Kopf. "An einen Ort, den du nicht kennst", sagte er, nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte. "Klingt wenig vertrauenswürdig", entgegnete ich. Normalerweise gehörte ich zu den Menschen, die nicht lange Vor- und Nachteile abwägten. Ich war mutig. Doch sowohl Grants Erzählungen, als auch der Moment, in dem ich Niall beim Weinen zuschaute, hatten mich geprägt. Vorsicht war mir wichtig geworden. "Vertrau mir." Nialls ausgestreckte Hand schwebte keine zehn Zentimeter von mir entfernt. Kaum hatte ich meine in seine gelegt, zog er mich auf die Füße. Und dann rannte er los. Eines musste ich ihm lasse. Er rannte schnell. Dabei wich er Ästen und Bänken und freilaufenden Hunden, sowie Enten aus. Mich riss er einfach mit sich. Alleine hätte ich nie mit ihm Schritt halten können. Während wir den Park durch einen kleineren Ausgang verließen, neigte sich die Helligkeit dem Ende. Die Sonne schien beinahe komplett untergegangen zu sein. Obwohl der Wald, durch den wir unentwegt liefen, dadurch umso gruseliger wurde, fühlte ich eine innere Ruhe. Wir waren zu zweit. Jeden Angreifer aus dem Untergrund konnten wir mühelos k.o schlagen. Das redete ich mir jedenfalls ein. Es klappte. Nialls Anwesenheit bot mir das Gefühl von Sicherheit, was ziemlich seltsam war, angesichts der Tatsache, dass ich ihn Tage zuvor noch überhaupt nicht ausstehen konnte. Wir sprangen über am Boden liegende Äste, Steine und diverse Pfützen. Der eiskalte Wind peitschte mir die Haare aus dem Gesicht, aber ich empfand es nicht als unangenehm. Das totale Gegenteil geschah. Ich genoss das Rennen, das Adrenalin, das durch meinen Körper strömte und die Natur, die ich all die Jahre nur aus dem Fenster hatte sehen können. Als wir schließlich zum Stehen kamen, ging mein Atem tierisch schnell und mein Hals brannte. Doch ich spürte das Leben in mir. Ich spürte mein eigenes Herzklopfen, meine arbeitenden Lungen und das Lächeln, das sich seinen Weg auf mein Gesicht schlich, wo es verharrte.
Ich wartete darauf, dass Niall meine Hand los ließ, aber er tat es nicht. Stattdessen drehte er sich langsam zu mir um, legte den Kopf schief und breitete den Arm aus, der nicht meine Hand festhielt. Er zeigte hinter sich. Erst jetzt nahm ich unsere Umgebung richtig wahr. Wir befanden uns in einem Waldstück, genauer gesagt, auf einer Lichtung. Um uns herum standen Bäume und in der Mitte eine riesige Eiche, deren Äste ein kleines Häuschen hielten. Wir standen unter den Weiten des anbrechenden Nachthimmels und es war so atemberaubend schön, dass ich mich setzen musste um nicht zu kollabieren(was natürlich auch an meinem Keuchen liegen konnte). Da ließ Niall meine Hand endlich los. Obwohl endlich vielleicht nicht gerade passte. Ohne seine Hand in meiner fehlte etwas. Leider. Ich überspielte die Enttäuschung darüber und betrachtete das Haus in den Ästen. Es war klein, sehr niedlich. Der Mondschein warf flackerndes Licht in die Fenster und verlieh dem Häuschen einen mysteriösen Touch. Eine Leiter führte hinauf. Als sich mein Keuchen gelegt hatte, stand ich auf. Ich ging auf die Leiter zu und ignorierte Niall, der mich wissend ansah. Auf halber Strecke nach oben wandt ich den Kopf um.
"Kletterst du mit?", rief ich ihm zu. Und wie aus dem Nichts tauchte er plötzlich unter mir auf. "Los, mach schneller", sagte er. Ich schaute zu ihm hinab, direkt in seine Augen. Golden wie die Krone eines Königs. Mein Gott. Der Groschen fiel entgültig. Ich benahm mich wie eine liebeskranke Idiotin. Ich hatte das Leben in mir gespürt? Spinnte ich vollkommen? In Windeseile war ich nach oben, vor meinen merkwürdigen Gefühlen davon, geklettert. Unser Sprint durch den Wald kam mir im Nachhinein total verrückt vor. Ich war ja wie ausgewechselt gewesen. Hatte Niall mich manipuliert? Eine Frechheit. Er krabbelte hinter mir in die Dunkelheit des Häuschens und setzte sich gegenüber auf den Boden. Von innen wirkte das Baumhaus reichlich wenig misteriös. Es war bloß ein Baumhaus, das auf einer Lichtung stand und nachts vom Mond beleuchtet wurde. Vermutlich hatten irgendwelche kleinen Kinder ihre Eltern so lange damit genervt, dass der Vater sein Wekrzeug auskramte und anfing zu bauen. "Was zum Henker war das?", fragte ich schließlich. Das war nicht ich gewesen. Etwas hatte mir Gefühle aufgedrängt, die ich gar nicht gefühlt hatte. Niemals, niemals in meinem ganzen Leben, war ich so...unbeschwert und frei und glücklich gewesen. Jemand band mir einen Bären auf.
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