Kapitel 67
Wenige Minuten nachdem die Tür klirrend hinter Kim zufiel, kehrte Corine zurück in mein Zimmer. Statt sich wieder neben mich zu setzen, fiel ihre Sitzwahl auf den Stuhl, den Kim angewärmt hatte. Griffin wich ein Stück zur Seite und runzelte die Stirn. Ich fand es gruselig, dass Corine ihn nicht sehen konnte. Wäre ich nicht sicher gewesen, dass mit mir soweit alles stimmte, hätte ich ernsthaft an meinem Verstand gezweifelt. Gut, alles stimmte nun nicht alles, aber immerhin eine ganze Menge. "Ihr seid also wirklich beste Internetfreunde?", wollte Corine wissen. Sie zog die Beine an ihren Körper und umschlang sie mit beiden Händen. Da sie genauso klein war wie ich, reichte die Fläche des Stuhls. Manchmal hatten wir Zwerge eben doch einen Vorteil.
"Ich weiß, wir verhalten uns wie das totale Gegenteil." Ich seufzte. "Zum einen und ...zum anderen, hat er mir geraten, mich von dir fern zu halten. Das war...strange. Du hast in dem Moment auf der Toilette rumgeschimpft und wir haben uns unterhalten. Ich wollte das Gespräch dir gegenüber nicht in seiner Gegenwart erwähnen. Also hab ich gewartet. Aber wieso will er, dass ich dir aus dem Weg gehe, Ruby? Wenn ihr doch beste Freunde seid!" Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Alles, was mir soeben durch den Kopf geschossen war - Kims Lügen, sein Ring -, bildete die grausame Realität. Er hatte mich nicht nur angelogen, sondern mir etwas vorgemacht. Und das tat höllisch weh. Einmal hatte ich einen Roman über ein Mädchen gelesen, das weder Familie noch Freunde hatte, nachdem sie betrogen und belogen war, bloß einen kleinen Hund. Ich hatte stundelang gegrübelt, wie sie sich wohl fühlte, obwohl ich eigentlich in genau derselben Lage gewesen war. Mit dem Unterschied, dass man mich noch nicht betrogen und auch nicht belogen hatte. Jetzt wusste ich es.
Offensichtlich hatte Kim mir einen weiteren Teil meines Herzens entrissen und ihn zu den anderen Stücken in den Mülleimer geschmissen. Irgendwann, fürchtete ich, würde mein ganzes Herz in Einzelteilen dort liegen und vergammeln. "Keine Ahnung", antwortete ich ehrlich. "Nur so nebenbei, du hattest nicht vor, ihm aus dem Weg zu gehen?" Gleichzeitig war es außerdem verrückt, weil sowohl Kim, als auch ich, auf die Idee gekommen war, Corine vor dem anderen zu warnen. In einer anderen Situation und zu einem anderen Zeitpunkt, mit anderen Voraussetzungen, hätte ich womöglich lauthals losgelacht und nicht mehr aufgehört. Vielleicht kannten wir uns doch zu gut. In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Er kannte mich - sehr sehr gut. Und er war einer von den Schwarzen. Was, wenn er...Ich schluckte hörbar, schloss für einige Sekunden die Augen. Konnte es sein, dass Kim die ganze Zeit über Informationen gesammelt hatte, um mich auszuliefern? Entweder ich wurde paranoid oder mein Gehirn funktionierte ausnahmsweise mal einwandfrei. Hoffentlich ersteres. Ich hatte wenig Lust, demnächst von schwarzgekleideten Männern abgeholt und in einen See geworfen zu werden. Bei dieser Vorstellung durchfuhr mich ein Schaudern. Ich begann unmerklich zu zittern. Dieser Abend hatte doch stressabbauend und vergnügt werden sollen! Das Gegenteil davon war geschehen. "Verstehe ich das richtig? Du willst, dass ich ihn meide und er möchte, dass ich dir aus dem Weg gehe? Tickt ihr noch richtig, oder tut ihr nur so? Ich meine, das ist Humbuck. Wieso sollte ich auch nur einem von euch aus dem Weg gehen. Du bist in gewisser Weise meine beste Freundin - und meine einzige - und Kim habe ich neu kennengelernt. Er ist verdammt nett zu mir und ich..ich mag ihn. Dann werde ich ihn doch jetzt nicht sofort wieder aus meinem Leben streichen. Das wäre nicht nur Humbuck, das wäre Idiotismus." Ich schwieg. Mir wollte nichts einfallen, das irgendwie ihre Fragen - und ja, sie hatte Fragen - beantwortet hätte. Schließlch verließ die Wahrheit als Flüstern meinen Mund.
"Kim lügt. Alles, was er dir erzählt hat. Vermutlich von seinem ach so tollen Hund, den er mal von der Straße aufgelesen hat, bis hin zu seiner Mutter, die ihn immer nervt. Das darfst du ihm nicht glauben. Ich hab ihm zu lange vertraut." Und plötzlich, ohne Vorwarnung, fingen die Tränen an, zu fließen. Wie ein Wasserfall. Ich weinte so stark, dass Corine mich bestimmt komisch anstarrte und sich wunderte, weshalb sie meine Freundin geworden war. Das Leben war nicht fair. Niall hatte über diese Aussage gelacht. Ich weinte darüber. "Hey." Auf einmal saß sie neben mir und drückte mich an sich. Ihre Umarmung schenkte mir Wärme und Sicherheit. Ich hatte das Gefühl, das ich all die Jahre vermisst hatte. Geborgenheit. "Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, bevor ich hier aufgetaucht bin, aber mach dich nicht so fertig deswegen", flüsterte sie, während sie behutsam über meinen bebenden Rücken strich. Mein Zittern verstärkte sich mit der Zeit und ich spürte eine Gänsehaut auf meinen Armen. Es war alles zu viel für mich. Sowas nannte man klare Überforderung. "Er ist es irgendwie nicht wert." Dieser Satz war so widersprüchlich in sich, dass ich das Heulen tatsächlich für einen Augenblick vergaß. Anstelle dessen drang ein Hieksen an die Oberfläche und ich begann zu kichern. Gott, mit mir stimmte nichts.
"Du bist schräg", sagte Corine und baute einen kleinen Abstand zwischen uns auf. Ich schüttelte den Kopf. "Nicht schräg. Einfach geisteskrank", erklärte ich dann. Mein Blick fiel auf Nialls Vater, der abwesend durch die Gegend stierte. Diese Situation musste ihm deutlich unangenehm sein. "Welch ein Glück." Corines Stimme klang erheitert. Irgendwie fühlte ich mich auch wieder einigermaßen in Ordnung. Wer hätte gedacht, dass eine einfache Uarmung meine Stimmung heben konnte? Ich jedenfalls nicht, so viel stand fest. "Wieso Glück? Weil du weniger verrückt rüber kommst, wenn du mich, eine Geisteskranke, zur Freundin hast?" Sie schnappte gespielt eingeschnappt nach Luft. "Du bezeichnest mich als verrückt?" Ich hob abwehrend die Hände hoch. "Schön. Dann sind wir eben zwei Gestörte. Und jetzt, lass und erst mal Kim und Niall und Jungs und den albernen Teeniekram, der dir solchen Stress bereitet, vergessen. Soll ich dir ein Foto zeigen, das dich garantiert zum Lachen bringen wird?" Ich nickte. Erleichterung machte sich in mir breit. War mir mein Stress so sehr anzumerken?
Stress ist scheiße xxx
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