Kapitel 60
"Warum führen wir immer solche tiefgründigen Gespräche?", scherzte ich, seiner Frage ausweichend. Er verstand mein Ablenkungsmanöver. "Du musst mir nicht antworten, aber ich finde es nur fair. Immerhin hab ich es auch getan." Natürlich. Seine Antworten waren ungemein hilfreich und interessant gewesen. Ich seufzte und holte tief Luft. "In so einem Waisenheim lebt es sich nicht ganz einfach, weißt du?" Als er nichts erwiderte, ging ich davon aus, dass ich weiter reden sollte. "Ich war immer alleine, hatte keine Freunde. Manche haben mich...verspottet - nett ausgedrückt. Wegen dieser Sache. Mit den Augen und allem", druckste ich herum. Dann holte ich erneut tief Luft. "Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich damit wenige Probleme. Ich hab es genossen, alleine zu sein. Anstatt Einsamkeit war da nur das Gefühl von..." Beschämt schlug ich die Augen nieder. "Das Gefühl von was?" Als ob er was von Gefühlen verstand. Trotzdem erzählte ich weiter. "Von Macht." Ja, Macht. Ich hatte mich immer mächtig gefühlt. Als wäre ich imstande, alles zutun, was ich tun wollte. Leider entsprach das nicht der Realität. "Auf diesem Bild war ich gerade vierzehn geworden, Macy hat es genau im richtigen Moment aufgenommen, würde ich sagen. Ich sehe verdammt zufrieden mit mir und meinem Leben aus." Ich starrte die Teenagerin auf dem Foto an. "Und warst du das denn nicht?"
Niall rutschte ein Stück zur Seite und nickte neben sich. Oha, war das ein Freundschaftsangebot? Ich zögerte. "Na los, stell dich zu mir. Wir streiten ja gerade nicht." Ich deutete ein Lächeln an. Schließlich gab ich dem Drang nach, stehen zu bleiben, weil ich fürchtete, neben ihm zu vergessen, wie man atmete, und befolgte seine Anweisung. Tatsächlich erinnerte ich mich im rechten Moment an meine Atemfunktion. "Um deine Frage zu beantworten. Doch, ja, das war ich. Ich hatte zwar wenig Freiheit und eigentlich keine Hobbies, außer dem Lesen, aber irgendwie gab es nichts zu bemeckern. Ab und zu, finde ich, ist genau das bedeutend. Also, dass man etwas positives findet, wofür es sich lohnt, selbst wenn es so etwas einfaches ist wie das Lesen, und sich daran festklammert." Niall griff nach dem Bild in meiner Hand. Aber ich hielt es fest. Seine Finger verharrten daran. Wäre die Welt genau in dieser Sekunde stehen geblieben, wir hätten vermutlich ein ebenso schönes Bild abgegeben. Ich sammelte mich kurz, bevor ich fortfuhr. "Sie haben mich noch am selben Abend dazu gebracht, dieses 'Statement'", schnaubend malte ich Anführungszeichen in die Luft: "zu vergessen." Niall strich über das Mädchen auf dem Foto, ließ es nicht los. Beinahe berührten sich unsere Hände. Ich gab es nicht gerne zu, doch mein Herz setzte für eine Zentelsekunde aus.
Weil ich aufgehört hatte, ihm von meiner Leidengeschichte zu berichten, hakte er nach. "Was haben sie getan?" Ich lachte gekünstelt, obwohl es nicht lustig war. Alles, nur nicht lustig. Dafür musste ich ihn ansehen. Ich musste einfach. Also drehte ich den Kopf, sodass ich unmittelbar in seine Augen schauen konnte. Wunderschön, flüsterte mein Verstand. Ja, langsam konnte ich dem nicht mehr widersprechen. "Bist du jemals in einem Bett aufgewacht, das in blutrote...Farbe getränkt wurde?", flüsterte ich. Meine Stimme schaffte es nicht, mehr als ein Flüstern zusammen zu bringen. Seine Augen weiteten sich minimal. Keine andere Reaktion. Ich wusste nicht, ob ich etwas anderes erwartet hatte. "Nein, ich schätze, das bist du nicht. Tja, lass mich dir eins raten. Probier es auf keinen Fall aus. Erstens ist es echt ekelhaft, zweitens bekommst du den Schreck deines Lebens, drittens ist es eine schweine Arbeit, den Dreck danach auszuwaschen und viertens..." An viertens wollte ich möglichst nicht weiter denken. Viertens war es echt scheuslich, wenn man dann auch noch herausfand, dass es sich nicht um bloße Farbe handelte. Ich schaute weg. Zwar hatten seine Augen sich geweitet, aber mehr konnte ich ihm nicht entlocken. Wahrscheinlich hielt er das alles für lächerlich. Vielleicht war es das auch. Dennoch spürte ich die Erinnerung an diese Situation so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich in diesem Bett aufgewacht war.
Umringt von fremden Menschen, einige trugen Uniformen, die meisten wirkten verärgert. Und als ich begriff, worauf ich lag, setzte eine Sicherung in mir durch. Gleichzeitig empfand ich Ekel, Wut und Trauer, sowie Schock. Ich erinnerte mich daran, wie einer der Menschen in Uniform die Hand nach mir ausstreckte und grimmig sagte: "Sie haben das Recht zu schweigen." Und dann sah ich nur noch den Kadaver des Schweins, das neben meinem blutroten Bett lag und...nicht mehr atmete. Eine stille Träne verließ meinen Augenwinkel - sowohl in meiner Erinnerung, als auch im echten Leben. Fair, nein, fair war das alles nicht gewesen. Sie hatten mir die Schuld für den Tod des Tieres in die Schuhe geschoben. Den Prozess deswegen hatte ich total verdrängt, heute könnte ich keinerlei Informationen weitergeben. Es interessierte mich damals einfach nicht. Das einzige, das mir seitdem tagtäglich durch den Kopf ging, war das 'Wieso?'. Wieso hatte man dieses Schwein umbringen müssen, um mir eins auszuwischen? Wieso? Nie bekam ich eine Antwort auf diese Fragen. Niall fasste mir unter das Kinn und bewahrte die Tränen so davor, mir in den Ausschnitt zu kullern. Ich schüttelte seine Hand ab, verlegen, weil er mich schon wieder weinend erlebte. Himmel, in seiner Nähe konnte ich auch nie die Fassung bewahren, oder? "Schon gut", sagte er. "Wein ruhig." Ich lachte. Nicht besonders echt oder gar freudig. Aber ich lachte, während mir weitere Tränen über das Gesicht liefen. Bestimmt sah ich bald aus wie ein entlaufender Pandabär. "Ich...ehm..Sorry", nuschelte ich.
"Wofür?" Niall rutschte ein Stück näher und war im Inbegriff, mir nochmal unter das Kinn zu fassen. Aber eine schrille Stimme ließ uns beide auseinander fahren. In Windeseile wischte ich mir die Tränen weg, aber man konnte trotzdem sehen, dass ich geweint hatte. Mist. "Oh, tut mir leid ihr beiden!" Daizy stand vor uns, was ich an ihren pinken Stiefeletten erkannte. "Ich hatte ganz vergessen, Ruby etwas mitzuteilen", erklärte sie ihr plötzliches Auftreten. Es gongte. Andere Schüler kamen aus den Gängen und schon bald herrschte wieder reges Treiben. Niemand schien sich um uns zu kümmern. Ich warf Niall einen Blick zu. Er war wieder vollkommen er selbst. Der einzige auf der Welt, der für ihn zählte.
(2.11.16) Nachtrag, 17.11.16: Im Nachhinein frage ich mich selbst, wie ich auf die Idee mit dem toten Schwein gekommen bin - sagte die Vegetarierin. Crazy. Aber ihr kennt mich ja mittlerweile hahaha. Ich liebe es sadistisch zu sein. Das werdet ihr noch hautnah miterleben omg ich freu mich. Muhahah xxx
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