Kapitel 36
Im Leben würde es viele Momente geben, die mich zerstörten, hatte Heimleiterin Barbara gesagt, als ich gerade ein Jahr im Waisenheim gewesen war. Diese Momente seien normal und menschlich. Eine Sache, so Barbara, dürfte ich nur nicht tun. Mich unterkriegen lassen. Ich hatte immer angenommen, diese Momente hätte ich bereits durchlebt. Wie damals, als man mich beim Klauen erwischte oder als Mille, das Mädchen von nebenan, dummes Zeug über mich und meine Herkunft verbreitete. Ich wäre daran fast zugrunde gegangen und doch empfand ich viel größeres Leid, als Niall den Abzug betätigte. Der dumpfe Knall hallte durch den Nachmittag. Im Umkreis von mehreren hundert Kilometern musste er gehört worden sein. Noch während ich auf Niall zusprang, um ihn aus der Bahn zu werfen, wusste ich: Es war zu spät. Der Schuss dröhnte mir in den Ohren. Ich riss Niall zu Boden, vorbereitet auf alles - insbesondere auf starre Augen, Blut und den Tod.
"Heilige Scheiße. Du bist eindeutig der dämlichste Idiot, den ich kenne", fing ich an zu brabbeln. Er lag unter mir und wäre diese Situation nicht derart irre gewesen, wäre ich vermutlich überdosiert rot angelaufen. Niall öffnete langsam ein Auge. "Du lebst", keuchte ich. Unfassbar. Entweder der Schuss hatte ihn verfehlt oder er war sowas wie Superman. Eine erleichterte Träne verließ meinen Augenwinkel. Oh Gott. Schnell schaute ich weg, damit er meine Erleichterung nicht mitbekam. "Ich hatte vergessen, sie zu laden", meinte er. "Bist du eigentlich wirklich so selbstsüchtig? Ich dachte, du würdest jeden Moment in die Luft gehen und deine Ausrede lautet: Ich hatte vergessen sie zu laden." Rasselnd holte ich Luft. "Weißt du, wie es sich anfühlt, jemandem dabei zusehen zu müssen, wie er sich selbst abknallt? Nein, dann sag ich es dir. Grausam. Absolut grausam." Beinahe überlegte ich, ihm doch den einsamen Tod zu wünschen. "Ich weiß es", entgegnete Niall. "Also wirklich, du bist so ein... Warte, was?"
Er wusste... Hatte er jemandem dabei zusehen müssen, wie er sich einen Kopfschuss verpasste? Grundgütiger. "Meine Mum hat sich vor meinen Augen das Leben genommen. Zwar war ihre Pistole nicht ganz so glänzend und silber, aber dennoch wirkungsvoll. Und geladen." Ich stützte mich mit einer Hand am Boden ab und rappelte mich auf. Es kam mir unpassend vor, so obszön auf ihm drauf zu liegen, wenn er von etwas persönlichem sprach. Niall schüttelte seinen Kopf. Die langen Haare flogen wild durch einander und ich widerstand dem Drang, sie zu ordnen. "Das...eh...hab ich nicht erwartet", sagte ich. Es tat mir leid für ihn. Noch schlimmer, als nicht zu wissen, ob seine Eltern noch lebten, musste sein, seiner eigenen Mutter beim Selbstmord Beifall zu klatschen. "Naja. Leider war ich damals nicht so schlau wie du, sie aus dem Weg zu schubsen." Nun lief ich doch rot an. Und wie.
Er klopfte sich die Hände an der Jeans ab, nachdem er sich aufgestellt hatte. Dann vergrub er sie in seinen Taschen und schaute hinauf in den Himmel. "Ich...hatte nicht... Also wenn du denkst, dass ich von Anfang an vor hatte, mich vor deinen Augen ins Jenseits zu schießen, dann..." Er stutzte. "Das hattest du also nicht vor?", fragte ich. "Nein." Ich folgte seinem Blick. Wolken zogen auf, die herbstliche Abenddämmerung setzte ein. An jedem anderen Tag wäre ich entzückt gewesen. "Für mich war es nur schwer, die Geschichte zu verdauen. Ich habe eingetrichtert bekommen, mich selbst.. Wenn du auftauchst." Das klang so lächerlich. Wieso sollte ich der Grund für seinen Tod sein? Also, mal abgesehen von meinem Wunsch bezüglich des einsamen Todes. "Warum?", wollte ich wissen. "Warum, was?" Ich rang mir ein klägliches Lächeln ab. Ein Flugzeug flog über unseren Köpfen davon. Vielleicht nach Australien? "Warum... alles?" Er erwiderte mein Lächeln nicht, wie ich aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Stattdessen holte er seine linke Hand aus der Hosentasche. Ich befürchtete schon, dass er eine zweite Knarre herausholen und diesmal auf mich zielen würde. Aber dann sah ich den wirklichen Grund für seine Bewegung.
An seinem Ringinger befand sich ein Ring, dessen Form und Farbe sehr stark an einen Hochzeitsring erinnerte. Und an etwas anderes. Ich zog meine Kette, die irgendwann einmal wie aus dem Nichts auf meinem Bett im Waisenheim aufgetaucht war, aus meinem Ausschnitt. An meiner Kette baumelte ebenfalls ein Ring. Die beiden unterschieden sich im Wesenlichen nur durch die Farbe. Seine schimmerte in demselben Gold wie seine Augen. Meiner hätte mit Blut beträufelt worden sein können, so rot war er. Er zog sich den Ring vom Finger und hielt ihn mir vor die Nase. "Nimm ihn in die Hand", forderte er mich auf. Ich tat, wie mir befohlen. Der Ring war warm, aber nicht, weil Niall ihn gewärmt hatte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, gewann er an Wärme, bis ich das Gefühl verspürte, er würde explodieren. Der Ring war kurz davor, mir die Hand zu verätzen. Schnell reichte ich ihm den Ring zurück. "Und jetzt, gib mir deinen." Niall hielt mir die geöffnete Hand hin. Ich teilte den Ring von der Kette. Niall griff nach ihm und keine Minute später, begann seine Hand zu leuchten. Zuerst war es kein starkes Leuchten, aber irgendwann entstand eine kleine Flamme, die schließlich seine Hand in Brand steckte.
"Wahnsinn", sagte ich, während er mir den Ring wieder gab und die Flammen an seiner Hand abschüttelte. Es tat ihm nicht weh? Abgefahren. "Und was haben diese Ringe auf sich?" Endlich erschien doch ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. "Ich schlage vor, das fragst du deinen Pflegevater. Sein Ring ist noch beeindruckender." Aha. Er wollte sich schon abwenden, vermutlich um davon zu gehen, da hielt ich ihn zurück. Er durfte mich jetzt nicht alleine lassen. Ich fühlte mich ausgelaugter als nach drei Tagen ohne Schlaf. Das sollte was heißen. "Kann ich dich um was bitten?" Obwohl ich noch immer kaum Symphatie für ihn empfand, war mir diese Sache wichtig. Er schien nachzudenken. Daraufhin nickte er. "Gib mir die Pistole."
Ganz egal, was momentan war. Ich konnte nicht mit dem Gedanken leben, dass er jede Sekunde... Er durfte sich nicht umbringen. Ich mochte ihn nicht, ja, aber ich war kein schlechter Mensch und ich besaß ein Gehirn. Was man ihm aufgetragen hatte, würde er nicht ignorieren können. Vorhin hatte er ja auch keine Sekunde gezögert. "Ruby...", seufzte er. Es war das erste Mal, dass er meinen korrekten Namen nannte. "Niall", gab ich zurück. Ich blieb dabei. "Gib sie mir und wag es ja nicht, dir eine andere anzuschaffen." "Du verstehst nicht-", sagte er. "Oh doch. Vertrau mir, sobald du mir auf den Keks gehst, geb ich sie dir zurück."
Das wird bestimmt bald der Fall sein. Oiiiiii die Ringe. Jaja, noch so eine ungeplante Geschichte. Ich liebe ungeplante Szenen. Idk, bin so ein Mensch, der nicht plant. Obwohl ich organisatorische Sachen schon gern mache, ich plane meine Stories meist nicht und iwi fällt mir mittendrin Zeugs ein, mit dem ich fortfahren kann und tadaaa. Spontanität is the key xxx
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