Kapitel 30
Was sollte das heißen? "Das verstehe ich nicht", entgegnete ich. Entweder sie lebten oder sie verwesten auf irgendeinem Friedhof. Ganz so schwer konnte es also nicht sein. "Ruby, wenn du es verstehen willst, muss ich dir vertrauen können. Zu 101 Prozent." Er hörte auf mit den Fingern auf das Amaturenbrett zu klopfen. "Kann ich das?" "Auf jeden Fall." Zu mindestens 102 Prozent. Mich interessierte brennend, wozu Grant mein vollstes Vertrauen benötigte. Es klang kein bisschen wie eine kleine unbedeutende Familiengeschichte. "Deine Eltern mussten dich nach deiner Geburt weggeben." Ein kehliges Seufzen verließ seine Atemwege. "Eigentlich hätte man dich...umgebracht." Man hätte...was? Ich riss die Augen auf, wohl eher aus einem Impuls heraus, als absichtlich. "Im Stamm deiner Eltern gehört es sich so, dass Kinder - Babys wie du - direkt nachdem sie auf die Welt kommen, in einen bestimmten See geworfen werden. Dort werden sie entweder von...Tieren gefressen oder ertrinken." Das schockte mich. Ich hätte tot sein sollen. Moment. "Woher weißt du davon? Und..."
Er unterbrach mich, die Hände abwehrend in die Höhe gestreckt. "Lässt du mich ausreden?" Ohne meine Einverständnis abzuwarten, fuhr er fort. "Sie haben sich dagegen entschieden und stattdessen den...Stamm verraten, indem sie dich vor Barbaras Tür legten." GGG kannte Barbara, meine ehemalige Heimleiterin. Okay. Langsam lief ich Gefahr, in Ohnmacht zu fallen. "Drei Jahre hat Barbara dich bei sich versteckt, bevor der...Stamm", für einen Moment machte er eine Pause. Wieso schien er vor jedem Stamm überlegen zu müssen? Und um welchen Stamm handelte es hierbei? Um Marsianer? "Bevor der Stamm dich fand. Sie wussten zwar nicht, dass du illegal warst, doch sie zwangen Barbara, dich in ein Heim zu schicken." Also bitte! Ich war doch nicht illegal! Beinahe hätte ich empört geschnaubt. Aber ich verkniff mir das Schnauben, immerhin bekam ich endlich die Wahrheit aufgetischt. Zumindest hoffte ich, dass es diesmal die Wahrheit war. Sicher konnte ich mir bis jetzt nicht sein. Was er sagte, klang mehr als komisch.
"In diesem Heim hast du die letzten 12 Jahre gelebt und Barbara ist dir nie von der Seite gewichen." Und ich hatte immer geglaubt, die alte Schreckschraube würde mich hassen. Tja. "Und was hat das alles jetzt mit dir und der Gegenwart zu tun?", wollte ich wissen. Trotz der Fakten, die er mir geliefert hatte, verwirrte mich diese Geschichte nur noch mehr. "Barbara und ich sind...sagen wir alte Bekannte. Ich habe euch oft besucht, als du ganz klein warst. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht daran. Irgendwo in der Wohnung müsste ein Foto von dir als Baby liegen. Damals, als du gerade geboren worden warst, habe ich deinen Eltern vorgeschlagen, dich aufzunehmen. Sie wollten nicht." Die Geigenmusik aus dem Radio verwandelte sich in Klaviermusik. Mozart oder Beethoven. Grausam. Dennoch irgendwie beruhigend. "Wieso?" Zu gerne hätte ich den Kopf gehoben um seine Mimik zu begutachten. "Weil sie mich nicht in die Sache verwickeln wollten. Deine Eltern waren...sind gute Leute. Sie haben nur jeder für sich den falschen Ehepartner gewählt und eine Nacht zu viel in einem gemeinsamen Bett geschlafen." Hä. Anstatt mir seine Lügen zu erklären, lud er mein Gehirn mit noch mehr komischem Geschwafel.
Grant war also der Ansicht, meine Eltern wären besser dran gewesen wenn sie sich nie ein Bett geteilt, geschweige denn sich kennen gelernt hätten, verstand ich das richtig? Es traf mich wie eine Faust in den Magen. "Ich war ein Fehler", flüsterte ich. Wieso sonst hätte man mich um die Ecke bringen sollen? Ich durfte nicht existieren. "Nein. Deine Eltern haben einen Fehler begangen, das ja. Aber du bist nicht der Fehler." Ich spürte, dass sich meine Augen mit Tränen füllten. Vor Frust, weil ich einfach nicht verstand, was er mir damit mitteilen wollte. Weil ich das Gefühl bekam, ein Niemand zu sein. Eine dem Tod geweihte. Ha, schenkte man Grants Geschichte Glauben, war ich viel mehr als das. Ich stellte eine Aussätzige dar, gezeugt durch zwei Menschen, die zwar für sich gut waren, aber gemeinsam Unheil brachten. Oder was sollte ich daraus schließen? "Grant, ich höre dich reden. Jedes Wort. Aber alles, was du sagst, ergibt keinen Sinn. Du erzählst mir, dass meine Eltern, weiß Gott wo, sind. Dass ich tot sein müsste. Dass meine Eltern einen Fehler begangen haben, ich jedoch kein Fehler bin. Welches Puzzleteil passt hier nicht?"
Dummerweise lief mir in dieser Sekunde eine Träne über die Wange. Ich mochte nicht heulen. Die Tränen erinnerten mich zu sehr an die Barista, wie sie über ihren Tod weinte. Grausame Welt. "Der Stamm, dem deine Eltern angehörten, dem Barbara und ich angehören...Er ist kein einfacher Stamm, Ruby. Wenn es nach den Ältesten ginge, hätten wir alle Fehler begangen. Himmel, laut ihnen sind wir alle Fehler. Ich sage nicht, dass du ein Fehler bist, weil du es nicht bist. Du hast es verdient, auf dieser Welt zu leben. Genau wie alle anderen Babys, die das Schicksal tragen, nach ihrer Geburt im See zu landen." "Warum? Warum wollte man mich ausradieren?" Wortwörtlich. Normal konnte man Fehler einfach mit Radiergummi wegmachen. Auslöschen. Als seien sie nie da gewesen. "Weil du besonders bist."
Ich glaubte, zu hyperventillieren. Diese Worte ließen mich abermals an die Theorie mit dem Traum denken. Vielleicht wachte ich gleich auf. Im Waisenheim, wo Barbara mich gleich zum Abendessen schicken würde. Weil du besonders bist. Der Satz hing zwischen uns in der Luft, während Mozarts Klaviertöne durch das Auto hallten. Weil du besonders bist. Grant startete den Motor und das Radio ging aus, nur um im nächsten Moment wieder anzugehen. Ich ließ meinen Kopf auf die Brust sinken. Weil du besonders bist. Die eine Träne war bereits vertrocknet und ich atmete tief durch, damit auch die anderen Überreste meines Gefühlsausbruches dahin flossen. Was Grant mir erzählt hatte, ging mir die gesamte Fahrt und die nächste Nacht nicht aus dem Kopf. Trotz der Tatsache, dass es lange nicht seine Lügen aufdeckte, fühlte ich mich plötzlich wieder wohler in seiner Anwesenheit. Ich glaubte ihm, auch wenn ich nicht wusste, was ich überhaupt glaubte. Seine Geschichte war verworren, verrückt und behandelte ein absolut nerventauftreibendes Thema.
Sie ist besonders. Weil sie besonders ist. Ne echt jetzt? Ich dachte sie wäre völlig normal. Jeder kann schließlich Seelen sehen, richtig? xxx
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