Kapitel 1
Vermutlich wäre es besser gewesen, die Anweisungen meines neuen Dads, ich solle zu Nachbars rüber gehen und nach einem Staubsauger fragen, zu ignorieren. Ich hätte den Besen aus der Abstellkammer neben der Haustür nehmen können. Aber ich tat es nicht. Laut Grant, meinem neuen Vater, der genauso gut mein Großvater hätte sein können mit seinen langen grauen Locken und dem Bart, waren die Nachbarn ziemlich nett. Er musste sich definitiv schon öfters ihren Staubsauger geborgt haben. Während ich immer zwei Stufen auf einmal hinab stieg um zu der Wohnung direkt unter unserer zu gelangen, fiel mir auf, wie neu das Haus war, in dem ich ab sofort wohnen würde. Grant hatte mich gestern aus dem Waisenheim geholt - um nicht zu sagen, gerettet. Seine Worte lauteten wie folgt: "Ruby St. James, mitkommen. Keine Widerrede."
Im Nachhinein schätze ich, hatte er diesen Auftritt bloß so hingelegt, damit man mich ihm tatsächlich mitgab. Denn in Wirklichkeit war er kein strenger Mensch, der mit Befehlen um sich warf - okay, den Staubsauger mal ausgeschlossen. Grant Gaston Guggleton, mit Spitznamen GGG, war das komplette Gegenteil von einem aus dem Bilderbuche entsprungenem Vater. Er brachte den Müll nicht raus, war seit mehreren Jahren single, führte seinen Pitbull Wodka fünf Mal am Tag aus, erntete trotz schlechter Arbeit viel Geld und besaß keinen Staubsauger. Wenn man mich im Kindesalter einem solchen Mann mitgegeben hätte, wäre ich wahrscheinlich Amok gelaufen. Ich glaubte früher an Bürokaufmänner, deren Frau daheim kochte und sich um drei liebeswürdige Kinder kümmerte. Spätestens als ich anfing in den Augen anderer Menschen eine Art Film zu sehen, verblasste die Vorstellung der perfekten Familie wieder. Jedenfalls schien das Haus eindeutig neu gebaut worden zu sein. Die weißen Wände erinnerten mich stark an das Waisenheim. Einzig der Geruch nach Tabak, der in der Luft lag, passte ganz und gar nicht hier her. So wie ich.
Ich hatte nie weg gewollt. Das Waisenhaus war sozusagen mein Zuhause gewesen. Obwohl ich nicht von mir behaupten konnte, mich je wohlgefühlt zu haben, schenkte es mir in gewisser Weise ein wenig Sicherheit. Wir wurden im Waisenheim unterrichtet, keiner achtete auf mich, ich musste wenig hinaus in die Öffentlichkeit. Nun, da ich bei einem anderen Menschen lebte, der mich nicht kannte, wurde ich praktisch dazu gezwungen, die örtliche Schule zu besuchen, mit anderen zu agieren. Somit würde mein Leben ein tragisches Ende nehmen. Ich verabscheute Menschen. Wir alle gaben vor, jemand zu sein, der wir gar nicht waren. Grant war der erste Mann gewesen, dem ich begegnete, der ehrlich zu mir war. Andere Leute verrieten sich sowohl durch ihr Verhalten als auch durch ihre Augen. Ich war ein wandelnder Lügendetektor. Ich wusste, dass man mich belog, ehe man etwas gesagt hatte. Einerseits ein Segen, andererseits...
Meine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als zu meiner Rechten ein lautes Geräusch erklang. Vielleicht war irgendwem etwas runter gefallen, schoss es mir durch den Kopf, doch dabei wollte es nicht bleiben. Mehrere Male wiederholte sich das dumpfe Ploppen, bevor es plötzlich verstummte. Komisch. Ich bemerkte, dass ich stehen geblieben war. Eilig lief ich die letzten Stufen nach unten und klingelte an der Tür, die GGG mir beschrieben hatte. Tatsächlich prangten einige Schilder darauf. Unter anderem: "Bissiger Hund, isst gerne Menschen." Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen.
"Ehm... Was kann ich für dich tun?" Die Tür war geöffnet worden und vor mir stand eine Gestalt mit langen Beinen. Ich ließ meinen Blick hinauf gleiten, dennoch nicht zu weit, damit ich der Person nicht in die Augen schauen konnte. Normalerweise trug ich für den Notfall eine Sonnenbrille. So eine extrem teure mit beschlagenen Gläsern, die mich beinahe erblinden ließ. Grant hatte sie mir abgenommen mit den Worten: "Es regnet draußen. Heute brauchst du keine Sonnenbrille." Dass er mir damit riesige Angst einjagte, schien ihm nicht aufzufallen.
Ich musterte den Körper des Menschen vor mir. Männlich, groß, muskulös, Jogginghose. Mein Grinsen wurd breiter. Schnell sagte ich: "Ich wohne neuerdings bei Grant, er meinte, ihr leiht ihm öfters den Staubsauger." Ich konnte nicht sehen, wie der Kerl reagierte. "Aha." Er zog das Wort in die Länge, als warte er auf Ausschweifungen. Als ich nichts mehr erwiderte, entfuhr ihm ein Seufzen. "Moment." Dann verschwanden die langen Beine aus meinem Sichtfeld und ich atmete erleichtert aus. Bei dem Ganzen war mir nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten hatte.
"Kim?", hallte die Stimme des Kerls, der mir die Tür geöffnet hatte, durch das komplette Haus. Mensch, die Wände waren echt dünn. Ich sollte mir überlegen, wie ich von nun an Musik hören wollte. Im Waisenheim hatten wir eigene Zimmer gehabt, durch dicke Wände getrennt. Niemandem war aufgefallen, wie laut ich Musik hörte. Das könnte ein großes Problem werden.
"Was denn Niall?", plerrte eine andere männliche Stimme zurück. Ich fuhr mir durch die Haare. Das konnte was werden. "Irgend so ein Mädchen verlangt nach eurem Staubsauger!", rief Niall. Hysterisches Gekicher erklang. "Oh mein Gott!" Im nächsten Moment stolperte eine weitere Jogginghose um die Ecke. Die Beine darin waren um einiges kürzer, auch hier glitt mein Blick ein Stück höher. Muskulös, männlich. Und er hieß Kim? In meinem Kopf fingen die Zahnrädchen an zu rattern.
"Du bist Ruby!", sagte er, blieb dicht vor mir stehen. Okay, das war mir ein Stück zu gruselig. Ich trat einen Schritt zurück. Staubsauger hin oder her, diese Situation war mir unangenehm. "Ich glaube, ich schicke Grant zu euch...", setzte ich an, aber wurde unterbrochen. Kim folgte mir nach draußen. "Ruby! Ich bins, Kimberley!" Heilige Scheiße. Wir kannten uns. Bevor ich ganz fassen konnte, wie mir geschah, hatte Kimberley mich an sich gedrückt.
Das ist jetzt sozusagen das erste Kapitel. Ich werde sie weiterhin in dieser Länge halten, damit es nicht zu viel ist. Ich hoffe, das Lesen bereitet euch genauso viel Spaß wie mir das Schreiben. xxx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro