Was bisher verborgen war
Es ist diese winzige Bewegung, die mich davon abhält, den blutrünstigen Gedanken zu Ende zu denken und der mich aus der Fantasie reißt.
Eine eiskalte Wand aus Bosheit trifft mich, noch bevor das Echo seine verkrüppelten Gliedmaßen durch die Tür geschoben hat. Ich erschauere.
Leif fährt herum. „Das hier ist kein Ort für dich!", herrscht er das Echo an. „Geh!"
Etwas verändert sich an ihm. Und es ist nicht nur, dass er wieder größer wird. Die Freundlichkeit weicht aus seinen Zügen und etwas Dunkleres tritt an ihre Stelle. Ich habe es bereits einmal gesehen, als er mich das erste Mal fragte, ob ich einen Ausweg suche. Seine Stimme ist nicht mehr unscheinbar, stattdessen lässt sie meine Knochen erbeben.
Das Echo duckt sich zusammen, viel weiter, als es seine verkrümmten Gliedmaßen eigentlich erlauben sollten. Aber es weicht nicht zurück.
„Miriam, das hier ist deine letzte Gelegenheit", sagt Leif sanft, aber er findet nicht mehr ganz in den weichen Tonfall zurück, den er eben noch an den Tag gelegt hat. „Mach jetzt keinen Fehler."
Der Schmerz ist immer noch in mir, pulsiert durch meine Geisteradern. Richtig. Ich wollte ihn loslassen. Gerade will ich die Augen schließen und mich darauf konzentrieren, da richten sich die verzerrten Nicht-Gesichtszüge des Echos zweifellos auf mich. Es stößt ein jämmerliches, kleines, krächzendes Geräusch aus und die Wahrheit trifft mich wie ein Schlag.
„Du machst ein Echo aus mir." Leif erstarrt und ich fahre fort, meine Stimme lauter mit jedem Wort, das über meine Lippen kommt. „Du bringst mich dazu, Besitz von einem Gegenstand zu ergreifen und jeden umzubringen, der mir zu nahe kommt! Wie kannst du es wagen!"
„Vorsichtig, Miriam. Ich bin deine einzige Möglichkeit, dem hier zu entkommen." Leifs Stimme ist wie ein Abgrund, der sich vor mir auftut, jegliche Weichheit ist daraus verschwunden und hat Bedrohung Platz gemacht. „Noch hast du die Chance, nachzugeben. Ich würde dir verzeihen."
Das Echo kriecht auf uns beide zu. Ich kann es kaum gleichzeitig mit Leif im Blick behalten, aber für den Moment geht von ihm die größere Gefahr aus.
„Du ..." Ich weiß nicht, ob ich noch weitersprechen darf. Aber dann richten sich Leifs Augen auf mich, die gar nicht mehr so blass sind, wie ich sie kennengelernt habe, und ich entscheide, dass ich ohnehin nichts mehr zu verlieren habe. „Du ... konfrontierst Poltergeister mit ihren Erinnerungen! Du bringst sie dazu, ihre schmerzhaftesten Erlebnisse noch einmal zu fühlen und – oh."
Mein Blick fällt auf das Echo, das sich gerade zu uns hinbewegt, die verwischten Gesichtszüge mit den Löchern darin noch immer auf mich gerichtet.
„Theresa", flüstere ich.
Sie legt den missgestalteten Kopf schief, aber die Bosheit, die mir von ihr entgegenschlägt, ebbt ab.
„Was hat er dir angetan."
Ich will Theresa die Hand entgegenstrecken, als Leif sie auch schon wegschlägt.
„Rühr sie nicht an", zischt er und wieder lodert das gefährliche Feuer über seine Gesichtszüge, auch wenn er immer noch wohlweislich seinen Abstand vor mir einhält. „Sie ist mein. Sie ist freiwillig zu mir gekommen und sie hat mir ihre Erinnerungen freiwillig überlassen. Du hast kein Recht an ihr."
Theresa ...
Etwas an den Worten sorgt dafür, dass ich das Bild von Freiheit, das Leif mir vermitteln wollte, endgültig abschütteln kann. Es wäre keine Freiheit. Ich würde mich nur das aufgeben, was ich gerade erst gefunden habe.
„Und du hast keines an mir."
Leif weicht einen Schritt zurück.
„Keines an mir und keines an meinem Schmerz."
Es sieht aus, als müsste ich den harten Weg gehen. Die auf den Schrank geräumte Karte ist ein in der Distanz schmerzhaft pulsierender Fleck in meinen Gedanken, aber ich werde ihn nicht aufgeben.
„Hau ab!", schleudere ich Leif entgegen. „Du bist hier überflüssig!"
Theresa krächzt. „Welch Glücksfall für dich", höhnt Leif. Beinahe ist er schon zum Türrahmen hinaus. „Du bist deinem Schicksal entkommen. Willkommen in deinem traurigen Dasein." Wut lodert über seine ehemals unscheinbaren Gesichtszüge. „Du wirst für immer in den Schatten vor dich hin vegetieren, beobachten, wie alles, was du auf diesem Planeten liebst, alt wird, verwelkt und stirbt und dann, dann wirst du dich fragen, ob du mein Angebot nicht lieber angenommen hättest."
Aus irgendeinem verborgenen Punkt meines Körpers ziehe ich die Kraft, mich gerade aufzurichten und Leif in die ausdruckslosen schwarzen Augen zu blicken. „Ich weiß, was mein Dasein bedeutet. Und ich bin nicht zu schwach, um mich dafür zu entscheiden."
Gerade fühlt es sich nicht einmal gelogen an.
Er mustert mich nur mit Herablassung in seinen Augen. Aber als er den Mund öffnet, um etwas zu erwidern, stößt Theresa ein ohrenbetäubendes Kreischen aus und stürzt sich auf ihn. Ich glaube, etwas wie Schrecken in Leifs Zügen aufflackern zu sehen, dann wirbelt er herum und flieht, das wütende Echo auf seinen Fersen.
Ich bin mir sicher, dass er nicht zurückkommen wird.
Stille kehrt ein.
Ich stehe für einige Zeit stumm auf der Stelle, an der Leif mich losgelassen hat. Mit seinem Verschwinden ist alles wieder auf mich eingestürzt. Die Erleichterung, die er mir gewährt hat, ist verschwunden und aus dem pulsierenden Fleck in meinem Hinterkopf ein loderndes Inferno geworden. Als ich Noah betrachte, der eingeschlafen ist und ganz offensichtlich nichts von dem mitbekommen hat, was sich um ihn herum abgespielt hat, ist der brennende Schmerz in meinem Herzen nur zu präsent.
Aber ... der Schmerz ist mein.
Zum zweiten Mal knie ich mich neben sein Bett. Am liebsten würde ich die Karte eigenhändig vom Schrank holen, doch ich tue es nicht.
Unsere Sommer in der Sonne kommen wieder in mir hoch. Die Erinnerungen fühlen sich nicht mehr fremd an, sondern, als wären sie schon immer da gewesen. Ich dachte einmal, wir hätten so viel Zeit. Es war so viel weniger gewesen.
Wenn ich Leifs Angebot angenommen hätte, dann wäre ich jetzt ein Echo. Ich betrachte das kleine Segelbootmodell auf Noahs Nachtisch, direkt neben seinem Wecker. Vielleicht wäre das genau der Gegenstand gewesen, von dem ich Besitz ergriffen hätte. Wobei ein besessenes Segelbootmodell nicht unbedingt die Vorstellung eines guten Horrorfilmgegenstands ist.
Denn zu so etwas wäre ich wahrscheinlich geworden. Ich hätte jeden angegriffen, der Noah zu nahe gekommen wäre. Auf mehreren Ebenen.
Ich seufze. Es war richtig, Leifs Angebot abzulehnen. Aber wenn ich es jetzt zu Ende denke, dann bedeutet das, dass ich nicht bleiben kann. Auch aus eigenem Antrieb darf ich nicht dazu werden, zu dem er mich machen wollte.
Ich gehöre nicht mehr hierhin.
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