Verbogen und verdreht
Als das Taxi anhält, ist draußen schon längst wieder die Nacht angebrochen. Ich werfe Leif einen Blick zu. Er sieht mit abwesendem Lächeln nach draußen und rührt sich nicht. Es wirkt, als würde ich eine Fotoaufnahme betrachten. Aus irgendeinem Grund lässt mir das Bild allerdings einen Schauer den Rücken hinunterlaufen, deswegen bin ich nicht unglücklich darüber, als ich endlich wieder aussteigen kann.
Wir stehen vor Sinas und Noahs Zuhause. In Sinas Zimmer brennt noch Licht.
„Tu, was du tun musst", sagt Leif, bevor ich die Tür hinter mir zufallen lasse.
Wenn ich nur wüsste, was das ist ... Ich bin mir nur einigermaßen sicher, dass es heute nicht darum geht, jemandem einen Schrecken einzujagen.
Trotzdem schleiche ich die Treppen bis zu Sinas Zimmer hinauf und betrete es durch die geschlossene Tür. Im Gegensatz zum letzten Mal fühlt sich ihr Zimmer vertraut für mich an. Allerdings ist Emily heute nicht hier.
Alles sieht so normal aus, dass es irgendeine Geisterfaser von mir berührt, die mir nicht gefällt. Sina sitzt im sanften Schein ihrer Schreibtischlampe über ein paar Hefte gebeugt, ein paar blonde Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Eine konzentrierte Falte zeichnet sich auf ihrer Stirn ab.
Ich trete näher heran.
Ist es schon so weit, dass sie für ihre Abschlussprüfungen lernt? Vage glaube ich, dass wir vorgehabt hatten, uns gemeinsam vorzubereiten. Dass wir nicht den Fehler machen würden, uns in unsere Kämmerchen zu verkriechen und uns wochenlang nicht mehr zu sehen.
Ich entscheide, dass das für den Moment einfach das ist, was ich brauche. Für den Moment kauere ich mich neben Sina an den Schreibtisch, starre mit ihr auf das Heft und versuche, mir das Konzept der nukleophilen Addition in den Schädel zu prügeln.
Ich gestatte mir das Gefühl der Normalität, der Zugehörigkeit. So hätte es sein sollen. Wenn ich mich gerade daran festklammern kann, werde ich es tun.
Dann verändert sich etwas.
Etwas kommt.
Eisige Kälte durchflutet mich und ich reiße mich von dem wohligen Sommerabendgefühl los, das sich in mir breitgemacht hatte.
Eine dunkle Wolke aus Hass kriecht die Treppe hinauf und streckt die Schattenfinger nach mir aus.
Was macht das Echo hier?
Widerstrebend löse ich mich aus meiner Position und richte mich auf. Gerade bin ich fast froh, nicht mehr am Leben zu sein, denn sonst wären meine Knie unter Garantie steif geworden.
Vorsichtig öffne ich die Tür und luge in den Gang. Wo ist die Kreatur?
Ich kann spüren, dass sie da ist, die Feindseligkeit und den Hass, den sie versprüht. Immerhin hat sie noch nicht von irgendetwas Besitz ergriffen, das würde es deutlich schwieriger machen, sie wiederzufinden.
Ich schleiche hinunter in die Küche. Dann ins Wohnzimmer. Dann ins Badezimmer. Dort finde ich das Echo.
Es sitzt in der Badewanne, die verbogenen Beine angezogen, sodass die Knie fast auf der Höhe der gekrümmten Schultern sind. Seine Haut ist faltig und ledrig wie die einer Moorleiche. Es ist ein besonders hässliches Exemplar.
Alles an seinem Anblick drängt mich, zurückzuweichen. Poltergeister reden nicht mit Echos. Sie stehen in der Geisterhierarchie über mir, aber dieses Exemplar hier tritt nun schon das zweite Mal auf und das in einem Haus mit Menschen, die mir etwas bedeuten – bedeutet haben jedenfalls.
„Was willst du hier?", frage ich scharf.
Ich würde das Echo gerne anschauen, aber die verzerrten, verwischten Züge verursachen mir Übelkeit.
„Das ist heute Nacht mein Revier", stelle ich klar.
Das Echo rührt sich nicht, gibt nur ein kurzes, würgendes Geräusch von sich. Wahrscheinlich ist seine Kehle so verformt, dass es keinen Laut mehr von sich geben kann.
Dann löst es sich langsam aus seiner kauernden Position. Es streckt ein verkrümmtes Bein aus der Badewanne, dann das andere, bis es den spindeldürren Körper nach sich zieht. Die ganze Erscheinung ist der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, angefangen bei der Art, wie es die Füße über den Boden zieht, über die verkrüppelten Schultern und das röchelnde Geräusch, das es beim Atmen macht.
Schritt für Schritt geht es auf mich zu und ich glaube, ich kann die Stelle sehen, an der einmal die Augenhöhlen gesessen haben. Es sind nur noch schwarze Löcher, die Risse nach außen ziehen und mich dennoch mustern. Als könnte das Wesen mich sehen.
Schließlich steht es direkt vor mir und ich kann es riechen. Ein beißender, modriger Geruch, der wirkt, als stamme er aus einem geöffneten Grab.
Einen Moment lang starren wir uns an.
Dann reißt das Echo den Mund auf, weit, viel weiter als es möglich sein sollte. Sein Kiefer reicht beinahe bis hinab zum Boden und ich starre in ein gähnendes, allumfassendes Loch. Dann schreit es, ein schriller, kreischender Ton, der meine Geisterzähne zum Vibrieren bringt und mich einen schockierten Schritt nach hinten stolpern lässt.
Diese Bewegung nutzt das Echo, um anzugreifen. Den Schlund noch immer aufgerissen, rast es auf mich zu und stößt mich zu Boden. Auch wenn ich halb damit gerechnet habe, ist meine Reaktion doch zu langsam.
Hart schlage ich mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf und unmöglicher Schmerz durchzuckt meinen Kopf. Ich kann mich nicht verletzen, ich bin ein Geist. Wieso kann dieses Ding mir Schaden zufügen?
Das Echo landet auf mir, es ist kleiner als ich und leichter, aber es ist auch wütender. Sein Schlund beugt sich über mich, als wolle es mich verschlingen, seine knochigen, verbogenen Gliedmaßen bohren sich in meinen Körper und erschweren mir das Atmen.
Dann stößt es sich von mir ab. Sein Knie, oder das, was einmal sein Knie gewesen ist, trifft mich am Kinn und rammt meinen Kopf ein weiteres Mal zu Boden.
Ich sehe Sterne. Unmögliche Sterne, aber sie sind trotzdem da und sorgen dafür, dass mir das Aufstehen schwerfällt.
Als ich wieder stehe, ist das Echo verschwunden und ich kann es nicht mehr spüren. Aber ich glaube nicht einen Moment daran, dass es tatsächlich weg ist.
Eine Hand an meinen schmerzenden Hinterkopf gepresst, eile ich dem Echo hinterher, wieder die Treppe hinauf. Ich stürze in Sinas Zimmer, kümmere mich nicht darum, dass die Tür aufschlägt und meine Freundin zusammenfährt. Das Echo ist nicht hier, aber ich glaube, es immer noch spüren zu können, wie es seine Klauen in dieses Haus schlägt.
Spannung baut sich auf.
Ein enges Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Ich muss mich beeilen. Denn wenn ich zu langsam bin - wenn ich zu langsam bin -
Die Dunkelheit, die das Echo umgibt, bäumt sich auf, dehnt sich aus, als würde sie das Haus verschlingen wollen.
Ich reiße die nächste Tür auf, im selben Moment, als die Dunkelheit in sich zusammenfällt, gleich eines Luftballons, in den eine Nadel gestochen wurde.
Das Echo hat von etwas Besitz ergriffen. Ich war zu langsam.
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