Unglücksboten
Theresa lacht. Sie ist schon deutlich länger ein Poltergeist als ich und wahrscheinlich gibt es wirklich den einen oder anderen exzentrischen Aristokraten des 19. Jahrhunderts, der ihr den Verlust seines Verstandes zu verdanken hat.
Wir gehen gemeinsam zurück in das Wohnzimmer und stellen die Bücher, mit denen ich meine Gruselaktion gestartet habe, zurück in die Schränke. Ich achte darauf, von mindestens zwei Büchern die Plätze zu vertauschen. Zwar soll Jeremy am nächsten Tag keine Spuren dessen mehr finden, was ihm in der Nacht widerfahren ist, aber ein winziger, kleiner Hauch des Zweifels kann sicherlich nicht schaden.
Wieder grinse ich ein diabolisches Grinsen. Theresa wirft mir einen Blick von der Seite zu.
„Nicht übel, Miri", kommentiert sie. „Ich denke nur, dass die blonden Locken dabei irgendwie hinderlich sind. Sie lassen dich mehr nach Engel aussehen als nach Poltergeist. Nur so als Denkanstoß."
Ich fahre mir mit der Hand durch den Gegenstand ihrer Kritik. Dann konzentriere ich mich und statt den Locken fällt mir nun ein Schleier an schwarzen Haaren ums Gesicht, wallt über meine Schultern und breitet sich dann wie eine Teerpfütze auf dem Boden aus.
„Hattest du dir etwas in der Richtung vorgestellt?", hauche ich im gleichen Tonfall, den Theresa bei ihrem ersten Auftritt angeschlagen hat.
„Viel besser." Ihre Augen blitzen rot auf, als sie mir einen Daumen nach oben zeigt.
Wir müssen beide lachen, Theresas Augen nehmen wieder ihr normales Braun an und ich schüttele einmal den Kopf und die blonden Locken sind zurück. Ich kann aber nicht leugnen, dass ich ein winziges bisschen neidisch bin. So kurzfristig meine Augenfarbe zu verändern, würde meine Fähigkeiten aktuell übersteigen. Das ist das Problem mit allen Anfängern – sogar als Poltergeist muss man sich erst einarbeiten.
Kurze Zeit später sieht das Wohnzimmer wieder aus wie einem Katalog entnommen.
Die Missbilligung auf Theresas Gesicht spiegelt meine. „Ein Mann ohne Charakter", urteilt sie härter, als ich das wahrscheinlich getan hätte, und ich streiche mir unangenehm berührt eine der eben bemängelten blonden Locken hinter die Ohren. Ich meine, wir haben Jeremy gerade so viel Angst eingejagt, dass er vor Schrecken ohnmächtig geworden ist. Vielleicht sollten wir hinter seinem Rücken nicht auch noch gemein über ihn reden.
„Das ist ja wohl das langweiligste Wohnzimmer, das ich in meinem gesamten Leben gesehen habe."
Jetzt habe ich mich erschrecken lassen und bin zusammengezuckt. Mit einem Augenrollen drehe ich mich herum, auch wenn ich längst weiß, wen ich zu erwarten habe.
Hinter mir hat sich ein weiterer Geist manifestiert. In Skater-Klamotten. Ich werde nicht urteilen, ich werde garantiert nicht urteilen ... Ich urteile doch. Es sieht furchtbar aus. Wieso konnte Kyle nicht ein Mal auf die Baseball-Cap verzichten? Das ist unterstes, und ich meine unterstes Stilniveau.
Über Kyles Gesicht breitet sich allerdings nur ein amüsiertes Grinsen aus und ich mache eine Beobachtung, die ich nicht das erste Mal anstelle: Wäre da nicht die furchtbare Aufmache, dann wäre dieses Grinsen weit, wirklich weit, von unattraktiv entfernt. „Du weißt, dass es als Poltergeist eigentlich deine Aufgabe ist, anderen Angst einzujagen? Nicht, dich erschrecken zu lassen?"
„Klappe", brumme ich, aber es ist kein wirklicher Nachdruck dahinter. „Ich war in tiefer, geistlicher Reflexion meiner Selbst und meines Todes versunken", rede ich mich dann heraus.
Aber Kyle schüttelt nur den Kopf, wenn auch meine Hoffnung, dass ihm dadurch die Baseball-Cap von der Stirn fliegen könnte, nicht erfüllt wird. „Zieht nicht."
„Hi, Kyle", begrüßt Theresa ihn. Sie beäugt Kyle immer mit einem gewissen Misstrauen, in das nicht nur eine Prise Arroganz gemischt ist.
Im Gegensatz zu uns ist Kyle kein Poltergeist, sondern ein Medium. Seine Aufgabe ist es, mit der Welt der Sterblichen in Kontakt zu treten. Eine Kommunikation mit Ouijabrett? Kyle ist der Ansprechpartner. Ein Podcast über Geister-Sichtungen? Wahrscheinlich war Kyle involviert.
Wir alle starten unser Geisterdasein als Medium. Nur ... manche kommen eben weiter. Andere nicht.
„Hallo Theresa", grüßt Kyle Theresa ebenso förmlich zurück. „Seid ihr schon durch für heute?"
„Der Bewohner dieses charakteristischen", der andere Poltergeist schließt den gesamten Raum in einer Geste ein, „Wohnzimmers lag vor einer Weile noch in der Küche. Wahrscheinlich ist er mittlerweile aufgewacht und ins Bett gegangen."
Kyles Blick huscht fragend zwischen mir und Theresa hin und her.
„Fluffy", sage ich schließlich und Erkenntnis breitet sich auf Kyles Zügen aus. Theresas Dämonenmonsterhund hat einen gewissen Ruf in der Geisterwelt.
„Ihr solltet nicht allein hier bleiben", wechselt Kyle abrupt das Thema und jedes Grinsen ist aus seinem Gesicht verschwunden. „Es geht das Gerücht um, dass es zurück ist."
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter. Es. Sogar in unseren Kreisen wird davon nur in geflüstertem Ton gesprochen. Poltergeister, die verschwinden und nie wieder auftauchen. Medien, von denen das Letzte, was man hört, Schreie sind. Echos, die sich windend in Rauch auflösen.
Jedenfalls ist es das, was ich gehört habe. Ich bin erst seit ... seit ... weißer Nebel breitet sich in meinem Kopf aus, als ich versuche, den Gedanken zu fassen. Jedenfalls bin ich noch nicht sehr lange dabei. Da fällt es mir noch nicht leicht, zwischen dem zu unterscheiden, was erzählt wird, um mir einen Schrecken einzujagen, und dem, was ich tatsächlich im Hinterkopf behalten sollte.
„Es", echoe ich und versuche so, den Faden wieder aufzugreifen, den ich vorher gekonnt habe fallen lassen.
„Es", wiederholt Kyle.
Ich werfe einen vorsichtigen Blick zu Theresa, um festzustellen, ob ich Kyle ernstnehmen muss. Sie mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen.
„Woher willst du das wissen?", fragt sie scharf.
„Ich weiß vieles." Kyle zuckt nur mit den Schultern. „Also, wenn ihr euch den Rest der Nacht nicht langweilen wollt – kommt ihr mit mir zu einem Spukhaus, Geisterjäger beunruhigen?"
Niemand, nicht ein Poltergeist auf diesem Planeten, würde so einen Vorschlag jemals ablehnen und Theresa und ich bilden da keine Ausnahme.
Als die Welt sich vor unseren Augen wieder zusammensetzt, stehen wir vor einem Schloss, bei dem ich mir sehr leicht vorstellen kann, wieso es Geisterjäger anzieht. Das Tor vor uns ist verrostet und sogar auf die Entfernung kann ich sehen, dass sich von dem Dach des Schlosses die Ziegel lösen und verstreut auf dem Boden des Hofes liegen, der sicherlich einmal von Statuen begrenzt war. Von diesen sind allerdings nur noch grau-grün überwucherte Klumpen übrig.
Theresa, Kyle und ich treten problemlos durch das Tor. Jetzt sehe ich die Lichter von Taschenlampen, die hinter den leeren Fensterrahmen hin und her zucken.
„Sie sind schon hier?"
Die Antwort ist selbsterklärend. Wir tauschen ein Grinsen aus, dann betreten wir das Schloss. Es entspricht genau dem, was man sich unter einem Gespensterschloss vorstellt. Verstaubte Gemälde in ehemals prachtvollen Rahmen zieren die Wände und eine spinnwebenumwobene Treppe führt in die oberen Stockwerke. Der Boden ist stellenweise mit dickem Teppich ausgelegt und ich mache mir einen Spaß daraus, so weit in Kontakt mit der Welt der Lebenden zu treten, dass kleine Staubwölkchen bei jedem Schritt aus dem Teppich hervorwirbeln, während Theresa die elegante Variante wählt und einige Zentimeter über dem Boden in der Luft schwebt.
Wir folgen den Stimmen unserer Besucher – oder sind wir die Besucher? Schwer zu sagen – in den Ballsaal. Wie sollte es auch anders sein. Blind gewordene Kristalle hängen an einem Kronleuchter, dessen Silber so oxidiert ist, dass er maximal noch als dunkelgrau beschrieben werden kann. Spinnweben wehen in einem Luftzug.
Das Einzige, was hier noch tanzt, sind die Staubteilchen in der Luft.
Kyle legt die Hände trichterförmig um seinen Mund und ruft: „Halloooo? Ist jemand hier?"
Ich muss mir prompt ein Kichern verkneifen, denn ich kann praktisch hören, wie die Möchtegern-Geisterjäger über ihre eigenen Füße stolpern, um dem Ruf zu folgen. Allerdings sind sie nicht so begeistert, wie ich das zuerst erwartet hätte.
„Haut ab!", ist nämlich das Erste, was ich verstehen kann. „Wir sind heute Abend hier, ihr könnt nicht einfach –"
Die Sprecherin bricht ab, als sie in den Ballsaal gerannt kommt und niemand zu sehen ist. Ich kann die Verwirrung auf ihrem Gesicht praktisch spüren, auch wenn wir bestimmt noch zehn Meter entfernt von ihr sind.
„Hallo?", ruft sie in den Raum und bedient damit genau das gleiche Klischee, über das ich eben noch gelacht habe.
„Es ist niieemand hier", flüstere ich, wohlweislich aber so leise, dass sie mich nicht hören kann. Theresa hinter mir kichert.
Die Geisterjägerin ist im Teenageralter und ihr folgen jetzt zwei Jungs, die irgendwelche ominösen Geräte in der Hand halten. Wahrscheinlich die neuesten Ideen, wie sie Geister sichtbar machen können. Ich habe da keine allzu großen Bedenken. Und selbst wenn, was erwarten sie eigentlich?
Kyle deutet hoch zu dem staubigen Kronleuchter. „Möchte jemand von euch?"
„Der schöne Schmuck", jammere ich gekünstelt, aber Theresa ist schon in der Luft und weder Kyle noch ich wollen uns den Spaß nehmen lassen. Wir steigen gemeinsam nach oben.
An der Decke dauert es nicht lange, bis wir die Schrauben gefunden haben, die den Kronleuchter an seinem Platz halten. Sie sind so verrostet, dass ich mich wundere, warum das Ding nicht schon längst heruntergekommen ist.
Was auch immer es war, Theresas, Kyles und mein magerer Kontakt zur Welt der Lebenden reicht aus, um ihnen den Rest zu geben. Der Kronleuchter glitzert noch eine oder sogar zwei Sekunden in der Luft, bevor er splitternd auf dem Boden auftrifft. Tropfenförmige Kristalle werden in alle Richtungen geschleudert und ein hohes Klingen erfüllt die Luft.
Die drei Geisterjäger springen entsetzt zurück und suchen Abstand zu den sich explosionsartig ausbreitenden Glassplittern.
Kyle und ich geben uns in der Luft ein High Five. Das war ein voller Erfolg. Dann müssen wir beide lachen und Theresa hat die Idee, dieses Lachen zu den Geisterjägern dringen zu lassen, die sich auf der Stelle herumdrehen und aus dem Ballsaal fliehen.
Es geht doch nichts Gruseligeres über Lachen in einem Ort, an dem es absolut nichts zu lachen gibt.
„Hinterher!", fordert Kyle uns auf und gemeinsam rasen wir den drei Jugendlichen nach. Wir sind dabei natürlich bemüht, möglichst unauffällig zu sein. Wir wollen keine Spuren hinterlassen, die unsere tatsächliche Existenz belegen. Stattdessen lassen wir die drei nur so viel ahnen, dass sie wieder kommen, und dabei wenig genug, dass ihre Freunde sie für verrückt halten.
Die Möchtegern-Draufgänger haben kurz darauf ihr Lager erreicht und streuen einen Salzkreis um sich herum aus. Theresa und ich erzeugen gerade genug Wind, dass das Salz zu ihnen zurück geweht wird, aber die Zugluft auch aus dem großen Gang kommen könnte.
Dann allerdings holt einer der Jungen eine Flasche hochprozentigen Alkohol aus seiner Tasche und spritzt ihn in unsere Richtung. Ich habe keine Ahnung, was er damit bezweckt oder woher diese Verschwörungstheorie stammt, aber von dem Geruch, der mir in die Nase schlägt, wird mir schlagartig übel.
Kyle bemerkt es sofort, obwohl er gerade Luft geholt hat, um den Geisterjägern einen richtigen Schrecken einzujagen. „Ist alles –?"
„Später", bringe ich hervor, da fliehe ich auch schon. Der Alkohol brennt mir in Nase, Mund und Rachen, obwohl ich nur einen Atemzug davon überhaupt wahrgenommen habe.
Ich breche durch die Schlossmauern und fliehe in den Garten. Was ist nur los mit mir?
Kalte Nachtluft schlägt mir entgegen, empfängt mich in einer kühlenden Umarmung und ich stütze die Ellenbogen auf die Knie, obwohl ich über keine Lungen in dem Sinne mehr verfüge.
In dieser Haltung verharre ich erst einige Sekunden, als ein Motorengeräusch die nächtliche Stille zerschneidet und mir Kyles Warnung in den Sinn kommt.
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