Schwarz wie Druckertinte
Wohin das Echo verschwunden ist, ist im ersten Moment unwichtig. Es stellt eine Gefahr dar und ich habe nur bis zum Morgengrauen Zeit, es aufzuhalten.
Während ich die Treppe zu Sinas Zimmer wieder nach oben rase, fallen die Puzzleteile von Leifs Plan nach und nach an ihren Platz, ergeben das Bild, nach dem ich gesucht habe.
Eigentlich müsste ich zu Noah hetzen, aber Sina ist empfänglicher für mich, wenn ich mich klug anstelle, wird sie vielleicht verstehen –
Ich bin hier, um sie vor dem Echo zu retten.
Meine Freundin.
Meinen Freund.
Diejenigen, die mir in meinem Leben etwas bedeutet haben.
Die Frage, welches Interesse Leif daran haben könnte, werde ich später beantworten.
Der neugefundene Zweck meiner Anwesenheit hier wühlt mich so sehr auf, dass ich beim Eintreten die Tür verfehle und stattdessen durch die Wand stolpere. Sina sitzt immer noch am Schreibtisch, in ihre Chemienotizen vertieft, obwohl es mitten in der Nacht ist.
Ich muss irgendetwas finden, mit dem ich mich mitteilen kann.
Mit einem Ruck reiße ich Sina den Kugelschreiber aus der Hand. Sie schreit auf und wäre beinahe seitlich von ihrem Stuhl gefallen. In meiner Hast stoße ich das Glas mit rötlichem Saft um, das Sina neben dem Heft stehen hatte. Blutrot ergießt der Inhalt sich auf den Boden, aber ich habe Wichtigeres zu tun.
Ich setze den Stift auf ein Blatt Papier.
Aber er will sich nicht rühren, es ist, als würde ich gegen eine Wand aus Glas drücken. Der Stift gehorcht meinen Anstrengungen nicht, ich bin kein Medium, ich kann nicht mit der Welt der Lebenden in Kontakt treten.
Frustriert schleudere ich den Kugelschreiber von mir, klappernd fällt er auf den Boden, aber ich schenke ihm keine Aufmerksamkeit. Das Echo kann sich überall verstecken und Sina muss wissen, dass sie vorsichtig sein soll.
Vielleicht kann ich Wörter in ihren Chemiezetteln unterstreichen? Hektisch überfliege ich die Seite, kann aber nichts erkennen, das mir weiterhelfen würde.
„Miri?", höre ich Sinas verängstigte Stimme, aber ich kann der Wärme, die mich gerade durchflutet, keine Aufmerksamkeit schenken. Zu einem anderen Zeitpunkt. Da werden wir uns alles sagen, was wir uns noch zu sagen haben.
Ich durchwühle Sinas Unterlagen. Irgendwo muss doch noch etwas geschrieben sein, mit dem ich arbeiten kann. Ich werde die Wörter herausreißen, wenn es sein muss.
„Es tut mir leid", wimmert Sina. „Ich verstehe, dass du wütend bist, aber –"
Diese Worte dringen nun doch zu mir durch. Für einen Moment werde ich bei meiner Suche langsamer. Wir haben uns bereits beieinander entschuldigt, dafür, was wir niemals teilen werden. Aber Sinas zweite Aussage passt nicht dazu.
Meine Suche kommt zum Erliegen.
Haben wir uns für unterschiedliche Dinge entschuldigt?
„Bitte tu mir nichts", wispert Sina, so weit weg von ihrem Schreibtisch wie nur möglich, aber immer noch auf ihrem Stuhl.
Dabei würde ich ihr doch niemals etwas tun. Das versuche ich ihr ja gerade mitzuteilen.
Da, endlich, fällt mein Blick auf einen offiziell wirkenden Brief, der bis eben unter Lernmaterial begraben war. Vielleicht kann der mir helfen.
Achtlos streife ich den Umschlag ab und ziehe das Schreiben heraus, bereits auf der Suche nach Worten, die ich verwenden kann, um mit Sina in Kontakt zu treten.
Allerdings verrutscht meine Aufmerksamkeit ein zweites Mal. Ich bin nämlich auf ein Datum gestoßen. Wäre mein Ausflug mit Leif heute Mittag nicht gewesen, hätte es mir überhaupt nichts gesagt, aber so ... so ... das ist mein Todestag. Wieso steht mein Todestag in einem Brief an eine meiner einst besten Freundinnen?
Und wieso sticht mir der Geruch des Safts, den ich umgestoßen habe, so in der Nase?
Ich ignoriere Sinas unverständliche Worte im Hintergrund und lese den Brief von vorne.
Bald darauf verschwimmen die Buchstaben vor meinen Augen. Anhörung ... fahrlässige Tötung ... alkoholisiert am Steuer ... Opfer ... vor Gericht zu erscheinen am ...
Ein Bild setzt sich vor meinem inneren Auge zusammen.
Langsam drehe ich mich wieder um und blicke Sina an. Ich weiß, dass sie mich nicht sehen kann, aber sie spürt trotzdem, dass sich im Raum etwas verändert hat. Vielleicht auch, weil es plötzlich einige Grad kälter geworden ist.
Ich lasse den Brief fallen. Möglicherweise ist er mir auch aus meinen plötzlich steif gewordenen Fingern geglitten.
Ich stehe vor einer Mörderin. Nein. Nicht vor einer. Vor meiner.
Ein letztes Mal Feiern, bevor uns das Schulabschlussjahr in Anspruch nehmen würde. Sina mit den Flaschen Alkohol in der Hand. Einen Vorgeschmack auf das Erwachsenenleben, hat sie es genannt.
Den Abend habe ich mit dem Geruch von Alkohol in meiner Nase verbracht.
Der gleiche widerliche Gestank, der mir auch jetzt in die Nase steigt, denn es ist kein Saft, den ich umgestoßen habe. Es ist Wein.
Natürlich kann ich noch fahren.
Ich, die sich weigerte, einzusteigen. Sina, die, erbittert darüber, dass ich ihr den Abend verderben wollte, zu schwungvoll aufs Gaspedal trat, während ich noch versuchte, sie mit ausgestreckten Händen davon abzuhalten, selbst nicht mehr ganz nüchtern.
Ich hätte mir einen anderen Platz zum Stehen suchen sollen als mitten auf der Straße.
Die gleißenden Lichter, die sich viel zu schnell näherten, bis sie mein ganzes Blickfeld ausfüllten. Sinas entsetzt aufgerissene Augen, als sie erkannte, was geschehen würde, ihr Mund, bereits zu einem Schrei geöffnet. Der Aufprall, der mir erst alle Luft aus den Lungen presste und dann sämtliche Knochen brach. Der kurze und doch unendlich lange Flug durch die Luft und die knallharte Landung auf dem Boden.
Das Gefühl, wie von einem LKW getroffen worden zu sein. Nicht atmen zu können.
Stimmen, die sich miteinander vermischten. Panik, Sirenengeheul und über allem der widerliche Gestank von Alkohol. Stille.
„Du warst es." Ich möchte schreien, aber ich kann es nicht. Sina soll mich hören, nicht nur die leere, geisterhafte Luft um mich herum, die mich von der Welt der Lebenden trennt. Sie soll mich hören und meinen Schmerz annehmen. Aber sie kann es nicht.
Kaum bemerke ich, wie sich die Gegenstände auf dem Schreibtisch hinter mir in die Luft erheben. Die Noten, die auf dem zugehörigen Notenständer in der Ecke stehen, flattern in dem Wind, der plötzlich durch das Zimmer tost und in meinem Kopf flammt die Erinnerung auf, dass Sina Querflöte spielt. Nie habe ich eine Erinnerung weniger gebraucht.
Und dann endlich kann ich schreien. Der schrille Laut dringt über meine Lippen und ich bin mir sicher, dass Sina, Sina, SINA ihn hören kann, denn sie zuckt zusammen und umklammert die Kante ihres Stuhls, die Knöchel weiß unter ihrer Haut. Ich hoffe, mein Schrei zerreißt ihr das Trommelfell.
Das Ouijabrett rutscht von der Bettdecke und fällt zu Boden. Ich umfasse es und schleudere es an die Wand. So sehr nach Kontakt gesehnt habe ich mich und so wird es mir gedankt. Mit meinem Tod. Mit der Bekanntschaft meiner Mörderin.
Irgendetwas hinter mir kracht, vielleicht ist der Notenständer umgefallen und hat das Fenster zerstört, es ist mir egal, es ist mir alles egal, ich will, dass sie so leiden, wie ich gelitten habe, wie ich leide. „DU HAST MIR ALLES GENOMMEN!"
Einrichtungsgegenstände schießen auf Sina zu, wie Kugeln, wie geballte Boten meines Zorns. Es tut so gut, es endlich herauszulassen, meine Wut zu kanalisieren und gegen jemanden richten zu können, der es verdient hat.
Ein Wirbelsturm aus dem, was ich von seinem angestammten Platz gerissen habe, bildet sich um mich und ich schreie wieder, lege den Kopf in meinen Nacken und meine Kleidung verwandelt sich in einen schwarzen Fetzen. Vorbei mit dem Poltergeist von nebenan. Sina hat ihn getötet. Meine blonden Locken verfärben sich pechschwarz. Sie alle werden meine Rache noch zu spüren bekommen. Aber nicht jetzt.
Ich wende mich um und fliehe. Warum bin ich überhaupt noch hier? Ich habe mich in die Irre führen lassen, von meinen eigenen Wünschen, meiner eigenen Sehnsucht – das Taxi steht bereits vor der Tür und ich kann es kaum erwarten, mich in den Beifahrersitz fallen zu lassen und weggefahren zu werden, weg von alldem, was mich quält und mich verraten hat.
Aber ich komme nicht bis zu ihm. Aus dem Nichts steht Leif vor dem Wagen und er ist groß. Viel größer als das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Er türmt sich weit über mir auf und ich weiß, dass ich nicht mit ihm streiten kann, als er die Hand ausstreckt und mich zurückhält.
„Du bist hier noch nicht fertig."
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