Ignorieren oder nicht ignorieren
Meine These, dass so etwas wie Himmel und Hölle nicht existieren, behalte ich nach wie vor bei, aber der Ort, an dem ich die Tage verbringe, kommt Ersterem ganz schön nah. Mein Geisterzuhause ist ein großes, lichtdurchflutetes Haus mit hellen Möbeln und flauschigen darauf verteilten Kissen. Durch den Austausch mit Theresa und Kyle habe ich erfahren, dass sich Geisterzuhause immer dem anpassen, was man gerade als komfortabel empfindet.
Das Ganze hat nur einen Nachteil: Ich kann zwar anderen Geistern den Zugang zu meinem Zuhause gewähren, aber sie befinden sich dabei immer noch in ihrer Welt – weder können sie mein Haus sehen noch ich ihres.
Das führt dazu, dass sich Kyle zwar in seinem Zuhause auf irgendeinen Sessel oder ein Sofa fläzt, er in meiner aber wie ein fauler Flaschengeist in der Luft hängt.
Während sich vor meinen Fenstern ein traumhaft schöner Sonnenaufgang entfaltet, setze ich mich auf einen kleinen runden Sessel, ziehe ein Kissen und meine Knie an die Brust und schlinge meine Arme um beides.
„So", sage ich und versuche, mich nicht von Kyles irritierender Pose verwirren zu lassen. Manchmal glaube ich, er legt es darauf an. „Raus mit der Sprache. Was zur nichtexistenten Hölle ist in Theresa gefahren?"
Kyle seufzt und stellt viel zu lange sicher, dass sich die Baseball-Cap noch sicher auf seinen Haaren befindet. Dann murmelt er etwas so schnell und so vernuschelt, dass ich absolut nichts verstehen kann.
„Wie war das?"
„Es ist nicht nur eine Geistergeschichte."
Ich schiebe zumindest meine Beine von dem Sessel herunter und richte mich auf, auch wenn ich das Kissen immer noch als emotionalen Schutzschild verwende.
„Was ist nicht nur eine Geistergeschichte?"
„Es."
„Was es?"
„Es eben", fährt Kyle mich an, wirft mir dann aber einen entschuldigenden Blick zu und breitet sich dann wieder über seine ominöse Sitzgelegenheit aus. „Das Taxi", schiebt er hinterher.
„Kyle", sage ich langsam. „Wenn ich dir jede einzelne Information aus der Nase ziehen muss, werde ich einen Weg finden, in dein Zuhause zu kommen und dich von deinem Sofa zu schmeißen."
„Woher willst du wissen, dass es ein Sofa ist?", feuert er zurück. „Ich könnte mich auch auf meinem Schreibtisch räkeln."
„Danke, auf dieses Bild in meinem Kopf hätte ich verzichten können", murre ich, schweige dann aber, in der Hoffnung, dass ihn das dazu bringt, mit der Sprache herauszurücken.
„Es wurden auch einmal andere Geschichten über das Taxi erzählt", erfüllt er mir meinen Wunsch, wenn auch mit einem tiefen Seufzen. „Dass es dich dahin bringen kann, wohin du musst."
Verwirrt ziehe ich die Stirn in Falten. „Ist das nicht genau der Sinn von einem Taxi?"
Die Sonne hat sich mittlerweile vollkommen über den Horizont erhoben und der hölzerne Boden strahlt bereits Wärme ab.
„Schon." Kyle ringt offensichtlich um Worte. „Aber ... diesem Taxi ist es angeblich egal, wohin du willst. Es bringt dich dahin, wohin du musst." Er wirft mir einen seitlichen Blick zu, während er die Arme über seinen Kopf streckt. „Es bringt dich zu deinem Schicksal", schließt er dann sarkastisch, nur um noch ein „Irgendwie sowas" hinterherzuschieben.
„Aber ..." Jetzt suche ich nach Worten. „Das ergibt doch keinen Sinn."
„Du bist ein Poltergeist, Miri. Willst du wirklich ein magisches Taxi hinterfragen?"
„Das nicht." Ich muss aufstehen und das Kribbeln in meinen Beinen loswerden. „Aber ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich mein Schicksal schon erreicht habe. Ich bin tot, der einzige Ort, an dem ich noch sein muss, ist mein Grab!"
Kyle lässt den Kopf nach hinten über das hängen, von dem ich davon ausgehe, dass es eine Sofalehne ist. Jedenfalls schaut er überdeutlich nach oben.
„Und, wo ist das?", fragt er die Decke. „Wie bist du überhaupt da reingekommen?" Er wirft mir einen Blick zu. „Hohes Alter wird es nicht gewesen sein. Wie alt warst du, als du gestorben bist? Sechzehn? Siebzehn?"
Ich hole tief Luft. Und atme dann langsam wieder aus. Das wiederhole ich noch ein paar Mal, aber in meinem Kopf ist wieder dieser Nebel aufgetaucht, den ich einfach nicht durchdringen kann. „Ich weiß es nicht", flüstere ich schließlich.
Kyle blickt immer noch an die Decke, nickt aber langsam. „Du erinnerst dich also nicht an dein Schicksal."
Ich höre auf, in dem Zimmer auf und ab zu tigern, sondern bleibe am Fenster stehen und betrachte das vormittägliche Licht.
„Und Theresa denkt, dass dieses Taxi ...?" Ich lasse die Frage unbeendet in der Luft hängen.
„Jep", bestätigt Kyle. „Deswegen wollte sie schneller da sein als du."
Es ging ihr also nicht um mich. Bei dem Gedanken steigt Bitterkeit in mir auf. Ich weiß natürlich, dass Theresa und ich nicht unbedingt eng befreundet waren, aber ... wahrscheinlich sollte ich einfach froh sein, dass ich nicht ich in das Taxi einsteigen musste. Ich lege keinen Wert auf die Wiederholung des widerlichen Gefühls, an einem Fischerhaken zu hängen.
„Wieso hast du mir nichts gesagt?", frage ich Kyle schließlich.
„Weil der Aspekt mit dem Wer dort einsteigt, verschwindet mir wichtiger vorkam", verteidigt der sich. „Außerdem ist es ungesund, dem hinterherzuweinen, was man nicht mehr ändern kann. Lebe den Tag und so."
Einen Augenblick denke ich darüber nach. Bis mich die heutigen Ereignisse auf die weiße Nebelwand in meinem Kopf gestoßen haben, hatte ich nicht das Gefühl, das mir etwas fehlt. Kyle hat recht.
Also schüttele ich mich einmal und gehe zu ihm zurück, wo ich mich wieder auf den kleinen Sessel setze. „Ich brauche diese Antworten nicht", sage ich bestimmt. „Ich vermisse sie nicht."
Kyle schenkt mir ein schiefes Grinsen. „Das ist die richtige Einstellung." Er angelt nach etwas über seinem Kopf, das ich nicht sehen kann. „Nächstes Mal ignorierst du das Taxi einfach."
Es ist nur ein winziger Funke des Zweifels, der in mir bei diesen Worten aufglimmt: So, wie sich das gestern angefühlt hat, hätte ich ohne Theresas Einschreiten nicht wirklich eine Wahl gehabt.
Der Tag vergeht schneller als die Nacht. Und das meine ich ganz wortwörtlich. Die Geisterhäuser liegen auf eine seltsame Art und Weise außerhalb der Realität der Lebenden. Und außerhalb ihrer Zeit.
Ein Tag der Lebenden dauert für uns etwa drei Stunden. Genug, um die kreativen Energien wieder aufzuladen und sich die nächsten Ziele auszusuchen. Allerdings ... will ich heute nicht allein sein. Es ist schwer zu greifen, was mich genau beunruhigt, aber Theresa ist nicht wieder aufgetaucht und die Begegnung mit dem Taxi liegt mir buchstäblich schwer im Magen.
Glücklicherweise scheint Kyle kein größeres Problem damit zu haben, dass ich mich ein zweites Mal an ihn gehängt habe. Er muss heute zu einer Séance, entweder einer sterbenslangweiligen oder todeslustigen Angelegenheit – ganz abhängig von der Gesellschaft.
„Es ist gleich da drüben", sagt Kyle und deutet auf ein Haus auf der anderen Straßenseite, in dem noch Lichter brennen. Allerdings sind es offensichtlich Kerzenlichter und die Vorhänge davor sind zugezogen, als wären keine Zuschauer erwünscht.
Einen Augenblick später stehen Kyle und ich in einem weiteren Wohnzimmer. Und was soll ich sagen ... es hat Charakter. Allerdings, wenn ich sage Charakter, dann meine ich damit nur, dass es den Charakter seines Bewohners erkennen lässt.
Beinahe alle Oberflächen sind mit rotem Samt überzogen, angefangen von den Möbeln, über die plüschigen Sofas, bis hin zu dem kleinen runden Tisch mit Klauenfüßen, der die Hauptattraktion des Zimmers bildet. An genau diesem Tisch sitzt eine verschleierte Frau, in wallende Gewänder in unterschiedlichen Farben gehüllt, und hält die Hand auf ein annähernd dreieckiges Holzteil gepresst, das auf einem mit schwarzen Buchstaben übersäten Holzbrett ruht.
Großartig, einfach großartig.
Der Frau gegenüber sitzen zwei Mädchen im Teenageralter und klammern sich in einer Mischung aus Faszination und Angst aneinander fest. Eines von ihnen, mit den langen blonden Haaren, kommt mir vage bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher.
„Ich spüre eine Präsenz", verkündet das Medium und seine Stimme ist eingefärbt von jahrelangem Kettenrauchen. „Jemand ist hier." Ihre Stimme sackt in ungeahnte Tiefen ab und irgendwo in meinem gelangweilten Hinterkopf frage ich mich, ob das Medium vielleicht eine Karrierechance als Sängerin gehabt hätte.
„Könnt ihr mich hören?", fragt die Frau atemlos und die Blicke der zwei Mädchen richten sich auf das Dreieck auf dem Ouija-Board.
„Willst du oder soll ich?", fragt Kyle. „Dir als meinem Gast würde ich dir Ehre sogar überlassen."
„Ich weiß nicht, was ich mit so viel Großzügigkeit anfangen soll", murmele ich, aber dann beuge ich mich doch nach vorne und ziehe das Holzstück zu einer von den Antworten, die vorgedruckt auf dem Brett stehen. Nein.
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