Hallo Echo
Die Tore der Hölle ragen vor mir auf. Gequälte Schreie dringen in meine Ohren und der Gestank von faulen Eiern beißt in meine Nase. Das zumindest ist es, womit ich rechne, als sich die Welt vor meinen Augen wieder zusammensetzt.
Aber es entspricht nicht die Wahrheit, die Wahrheit ist nämlich beruhigend langweilig: Ich stehe in meinem ganz normalen Wohnzimmer. Flauschige Kissen bedecken die knautschigen Möbel und vor der Fensterfront, die eine Seite des Raumes einnimmt, geht die Sonne auf.
Leif hat mich tatsächlich gehen lassen.
„Kyle!", rufe ich in den leeren Raum, gefolgt von einem vorsichtigeren: „Theresa?" Wenn ich hierher durfte, vielleicht ist sie auch zurück?
Es dauert quälend lange, bis ich eine Reaktion bekomme. Dann materialisiert sich Kyle aus dem scheinbaren Nichts vor mir. Theresa ist und bleibt verschwunden.
„Kyle!" Das Medium sah selten so überrascht aus, mich zu sehen. Fairerweise muss man aber sagen, dass ich mich Kyle bisher auch eher selten an den Hals geworfen habe. Und ihn mit mir gerissen habe, sodass wir beide auf dem Boden landen. Nunja.
„Miri?"
Ich reibe meinen schmerzenden Ellenbogen – Warum noch gleich muss ich in meinem Zuhause noch Schmerzen empfinden können? – und rappele mich auf.
„Guten Morgen", murmele ich wenig überzeugt.
„Miri!" Kyle ist schneller wieder auf den Beinen als ich, richtet als Erstes seine Baseball-Cap und starrt mich dann an, als hätte er einen Geist gesehen. Einen, mit dem er nicht gerechnet hat jedenfalls.
„Hi", sage ich schwach.
„Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!", ruft er, steht aber immer noch wie erstarrt auf der Stelle.
„Das dachte ich auch", erwidere ich kleinlaut.
Kyle geht halb, halb taumelt er zwei Schritte zurück, dann lässt er sich augenscheinlich auf seinem Sofa nieder. So eindeutig zu erkennen ist das nicht, aber ich weigere mich, seine Schreibtischvariante anzuerkennen. Kyle legt die Fingerspitzen zusammen und mustert mich darüber hinweg. „Erzähl mir alles."
Also erzähle ich alles. Von dem Taxi, von Leif, von Sina und Noah. Einmal angefangen, sprudeln die Worte nur so aus mir heraus, obwohl ich die ganze Zeit darauf warte, dass mir irgendeine Leif-Kraft den Mund verbietet oder Kyle nur noch Kauderwelsch verstehen lässt.
„Ich muss mit ihnen reden", schließe ich. „Ich muss wissen, wer sie waren."
Kyle richtet die Baseball-Cap, bevor er antwortet. „Ich weiß doch gar nicht, wo sie wohnen." Natürlich hat er sofort erkannt, worauf ich hinauswill.
„Das ist eine lahme Ausrede", stelle ich fest. „Wenn du das willst, findest du den Ort. Eine Nacht ist lang und du bist ein Geist."
„Vielleicht", gibt er vage zurück.
„Bitte." Ich tigere unruhig in meinem Wohnzimmer auf und ab. „Ohne dich kann ich nicht wirklich mit ihnen reden. Ich werde nicht mehr schlafen können, wenn ich nicht herausfinde, wer sie waren."
„Du schläfst nicht."
„Metaphorisch gesehen."
Die Sonne steigt schon wieder so schnell in den Himmel. Warum will Kyle nicht mit mir zu Sina und Noah gehen?
„Was kann denn schon passieren?", frage ich flehend in Richtung Fenster.
Er seufzt. „Tut mir leid, Miri. Ich misstraue diesem Taxi einfach nur. Ich glaube nicht, dass es zu irgendwas Gutem führt."
Ich drehe mich zu ihm herum. „Dann lass mich das doch herausfinden."
Nachdenklich zieht Kyle die Wangen nach innen und lässt sie dann wieder nach außen ploppen. „Also schön. Ich werde dir mit meinen unübertroffenen medialen Fähigkeiten zur Seite stehen. Wir treffen uns da bei ... Dings." Er schnippt mit den Fingern. „Sina?"
Die Spannung weicht aus meinem Körper und Erleichterung durchflutet mich. „Ja. Das klingt gut."
Kyle nickt knapp. „Okay." Für einen Augenblick mustert er mich prüfend. „Dann tu mir jetzt bitte einen Gefallen und geh einen Schritt zur Seite. Du stehst mitten in meinem Regal."
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Der Tag vergeht schneller, als es mir lieb gewesen wäre. Ich habe kaum Zeit, noch einen Blick mit Kyle auszutauschen, als mein Zuhause um mich herum sich bereits wieder auflöst und die Umgebung sich zu dem mir bereits bekannten Vorgarten wieder zusammensetzt. Ich bin genau da, wo ich mich gestern geweigert habe, in Leifs Taxi einzusteigen.
Von diesem ist weit und breit nichts zu sehen und kein Motor dröhnt. Die Nacht ist nahezu unheimlich still.
In Sinas Zimmer brennt noch Licht. Wann Kyle hier eintreffen wird, weiß ich nicht, wahrscheinlich hat er noch andere Verpflichtungen. Aber das heißt ja nicht, dass ich hier auf ihn warten muss. Ich habe gerade einen Schritt auf den Gartenzaun zu gemacht, um das Haus zu betreten, als sich etwas verändert.
Etwas nähert sich. Und es ist nicht das Taxi.
Sofort bleibe ich stehen. Die Nacht ist schlagartig mehrere Grad kälter geworden. Die Sterne haben sich zurückgezogen und das Licht des Mondes ist abgekühlt. Ich schaudere und werfe einen argwöhnischen Blick in die Umgebung.
Etwas raschelt zu meiner Rechten und ich springe praktisch in die Luft. Ich kann die Präsenz des Etwas spüren, die kriechende Bewegung, mit der es seinen Körper näher zu mir schleppt.
Dann sehe ich es. Im Schatten eines Apfelbaums kauert es. Die Gliedmaßen verbogen und verkrüppelt, die Gesichtszüge verwischt, als wäre ein Kind mit einem trockenen Schwamm darüber gefahren.
Ein Echo.
Ich bleibe stehen wie eingefroren und spüre meinen nicht mehr existenten Herzschlag in meinen Ohren pochen. Was will es hier?
Wir mustern uns über die Entfernung zwischen uns, messen uns gegenseitig ab. Ich hoffe sehr, dass das Wesen nicht zu dem Schluss kommt, dass ich kein ernstzunehmender Gegner bin.
Such dir irgendwas weit weg von hier, von dem du Besitz ergreifen kannst, beschwöre ich es innerlich.
Bevor jedoch einer von uns das Blickduell für sich entscheiden kann, dringt das vertraute Röhren von Leifs Motor durch die Nacht. Ich fahre zusammen und wirbele zum zweiten Mal herum, als auch schon die Scheinwerfer des Taxis die Dunkelheit durchschneiden.
Nur, dass sie nah sind. Viel, viel zu nah. Und sie kommen direkt auf mich zu.
Entsetzt schreie ich auf und taumele einen Schritt zurück, stoße gegen den Gartenzaun, an dem ich mich gestern festgeklammert habe.
Die Scheinwerfer nehmen mein gesamtes Blickfeld ein, das Röhren das Motors und quietschende Bremsen graben sich in meinen Gehörgang und ich glaube bereits zu wissen, wie sich der Aufprall anfühlen wird, wie das Taxi mich in die Luft katapultieren und direkt vor die Füße des Echos schleudern wird – Nur Zentimeter von meinem bebenden Geisterkörper entfernt kommt das Taxi zum Stehen. Dampf steigt von der schneeweißen Kühlerhaube auf, die mich beinahe zu Geisterhackfleisch verarbeitet hätte.
Wieder tritt Stille ein, in der ich mit aufgerissenen Augen in die Scheinwerfer des Taxis starre, vollkommen reglos. Beinahe hätte es mich erwischt.
Die Fahrertür öffnet sich. „Steig ein, Miriam."
Es dauert eine Weile, bis ich genügend Kontrolle über meine Gliedmaßen habe, um Leifs Aufforderung Folge zu leisten. Bis nach und nach die Realität zu mir durchdringt, dass das Taxi mir nichts anhaben kann.
Als ich mich aus dem schmalen Zwischenraum zwischen Taxi und Gartenzaun kämpfe, werfe ich noch einen Blick zurück zu dem Apfelbaum. Das Echo ist verschwunden.
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