„Was soll das werden?", fahre ich Leif an, als er die Tür sanft schließt und das Auto sich in Bewegung setzt. Meine Wut ist noch lange nicht erschöpft, und in Leifs ruhigem Tonfall finde ich weiteres Futter dafür. „Was soll das alles hier werden?"
„Du scheinst wütend zu sein."
Ich hasse alles an ihm. Ich hasse den unschuldigen Gesichtsausdruck, ich hasse das verwaschene pastellfarbene Hemd.
„Ich scheine wütend zu sein?", rufe ich. „Was hat dir den Hinweis gegeben? Ist es die Tonlage? Der Gesichtsausdruck? Oder doch die LAUTSTÄRKE?"
„Du hast dich nicht angeschnallt." Leif deutet auf ein rot blinkendes Licht auf seinem Armaturenbrett.
„Ist das dein Ernst?!", brülle ich und ich bin so kurz davor, ihm meine Poltergeistfaust ins Gesicht zu rammen. „Ich bin tot, verdammte Scheiße! Ein Autounfall würde mir nichts anhaben und du bist das einzige verfluchte Geistertaxi, das ich in meinem Leb- in meinem Poltergeistdingens gesehen habe, du wirst also auch keinen bauen!"
Schwer atmend halte ich inne, schnalle mich nicht an, sondern fixiere die Straße, die sich als grauer Wurm vor uns durch die Nacht windet. Nach und nach geht mir das protestierende Plingen des Autos auf die Nerven, aber so schnell werde ich nicht nachgeben.
Langsam beruhigt sich mein Atem allerdings etwas und der Drang, Leif anzuschreien, lässt nach. Ich kann das. Prompt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Kyle angeschrien habe. Er hat es doch nur gut gemeint.
„Warum hast du mich da weggeholt?", frage ich schließlich. „Ich hätte noch einiges erfahren können." Ich wollte nicht gehen. Ich wollte bis in alle Ewigkeit neben Noahs Bett sitzen und mich an dem festhalten, was hätte sein sollen.
„Du musstest nicht mehr dort sein", erwidert Leif. „Es hätte dir unter Umständen geschadet."
Ich zähle für einen Moment die Straßenlaternen vor unserem Fenster, damit ich nicht wieder anfange zu schreien.
„Aber jetzt hier in diesem Taxi zu sitzen, schadet mir nicht?"
„Nein."
Ich seufze.
„Wohin bringst du mich? An den nächsten Ort, an dem ich sein muss?"
„Noch nicht."
Langsam richte ich mich auf und streiche mir einige blonde Locken, die mir ins Gesicht gefallen sind, hinter die Ohren. „Warum nicht?"
„Schnall dich an."
Für einen Augenblick überlege ich, ob es die Situation wert ist, es auf ein Kräftemessen ankommen zu lassen, dann entscheide ich mich dagegen. Ich angele den Gurt hinter mir nach vorne und stecke ihn in das vorgesehene Anschnallding.
Das nervtötende Piepen verstummt und ich atme zugegeben erleichtert auf und glaube, Leif das Gleiche tun zu sehen. Aber ich war bestimmt nicht kindisch. Es ging darum, etwas zu beweisen.
„Also ...", nehme ich vorsichtig den Gesprächsfaden wieder auf. „Wohin fahren wir?"
„Im Moment nirgendwo hin", sagt Leif.
„Dann darf ich nicht zurück nach Hause?"
„Nein. Das war einmalig."
Da ist sie wieder, die diffuse Angst, die ich seit dem Anfang in diesem Taxi verspüre. Das Unwissen darüber, dass ich nicht weiß, wohin diese Reise geht – und ob es eine Wiederkehr gibt. Für Theresa gab es augenscheinlich keine. Und wenn ich Kyle nicht wiedersehe ... ich muss mich doch dafür entschuldigen, was ich ihm an den Kopf geworfen habe.
„Nie mehr?", flüstere ich.
„Das wird sich zeigen", erwidert Leif und ich atme zitternd aus. Alles. Wird. Gut. Ich bin tot, mir kann nichts passieren.
„Was muss ich tun?", will ich schließlich wissen. Denn darum ging es hier doch ursprünglich.
„Du könntest damit anfangen, mir zu sagen, warum du so wütend bist", sagt Leif leichthin.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Schulterstütze. Vor dem Fenster ziehen mittlerweile gleichmäßige Nadelwälder vorbei. Ich weiß nicht, wo wir langfahren und für diesen kleinen, losgelösten Moment in der Zeit interessiert es mich auch nicht.
„Ich habe ... eine Ahnung dessen, was ich verloren habe", sage ich schließlich und halte meinen Blick auf die Nadelbäume gerichtet. Gerade will ich Leif nicht ansehen.
„Und was hast du verloren?", will er wissen.
„Alles", flüstere ich und ich weiß, was Leif antworten wird, bevor er es tatsächlich tut.
„Da musst du präziser sein."
Will ich aber nicht. Aber ich tue es trotzdem, auch wenn ich nicht genau weiß, wieso. Diesem kleinen unscheinbare Mann kann ich einfach nichts abschlagen.
„Ich habe mein Leben verloren." Noch immer richte ich meinen Blick stur nach vorne. „Ich habe meine Freunde verloren ... und jemanden, von dem ich dachte ... dass ..." Ich kann jetzt nicht von Liebe sprechen. Ich weiß doch gar nicht mehr, was das ist. Deswegen beginne ich neu, mit einem anderen Satz.
„Ich habe mich verloren. Was bin ich denn noch?"
Zur Veranschaulichung halte ich meine Hände nach oben, geisterhaft blass.
Leif schweigt und alles, was mir durch den Kopf geschwirrt ist, bricht aus mir heraus.
„Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin. Ich glaube mich zu erinnern, aber es ist, als würde ich einen Film anschauen, es fühlt sich nicht nach mir an! Dieses Mädchen bin nicht mehr ich, ich kann es nicht erreichen, aber ich habe auch nichts, das nur mir gehört. Ich bin ein Poltergeist-Pappaufsteller!"
Leif biegt um eine Kurve und ich lasse mich von der Fliehkraft nach außen drücken. Vielleicht kann ich durch die Türen dieses Taxis treten wie durch eine Hauswand. Dann kann ich einfach auf der Straße landen und durch die Nacht wandern, weg von all dem.
Wobei mir jetzt auffällt, dass es gar nicht mehr Nacht ist. Der Himmel hat eine orange-rosa Färbung angenommen und die Sonne lugt bereits über den Horizont.
„Du lässt mich heute wirklich nicht mehr zurück, oder?", frage ich.
„Nein."
„Hast du denn irgendetwas Kluges zu sagen?" Ich weiß nicht, ob ich mir von Leif tatsächlich eine Antwort erhoffe.
„Würdest du es rückgängig machen wollen?", fragt Leif. „Das, was du jetzt weißt?"
Endlich schaffe ich es, meinen Blick von der Straße wegzureißen und ihn anzublicken. Dabei fällt mir auf, dass er den Blick ebenfalls nicht mehr nach vorne gerichtet hat. Das Taxi verlässt allerdings nie die Spur.
Das macht mir allerdings weniger Sorgen als der lauernde Ausdruck, der in Leifs Augen getreten ist. Gerade, in diesem Moment, als er mir die Frage stellt, habe ich das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen.
Leif lächelt immer noch, aber ich glaube, etwas erkennen zu können, das hinter dem pastellfarbenen Hemd und der Cordhose und dem fliehenden Haaransatz lauert. Ganz, ganz vorsichtig, Miri.
„Es gibt keinen Weg zurück", sage ich und selten habe ich so kontrolliert gesprochen. „Die Zeit läuft immer nur vorwärts."
Leif rührt sich nicht, seine Augen bohren sich nur immer noch in meine. „Bist du dir sicher?"
„Ziemlich", weiche ich aus. Ich meine, es gibt offensichtlich Poltergeister und Medien und Echos und seltsame Geistertaxis, wieso sollte es nicht auch Zeitreisen geben? Immerhin hat Leif mir auch schon einmal vier Tage gestohlen. Aber für den Moment ziehe ich Kraft daraus, auf der Wahrheit zu beharren, wie ich sie einmal kannte. Soll mich doch jemand dafür verurteilen.
„Hmm", macht Leif, dreht sich wieder zurück auf den Fahrersitz und richtet den Blick auf die Straße. „Wenn du dir da so sicher bist, will ich dir nicht reinreden."
Jegliche Bedrohlichkeit ist wieder von ihm verschwunden, aber ich habe trotzdem das dringende Bedürfnis, mir mit den Händen über die Arme zu rubbeln. Vielleicht habe ich etwas zu sehr aus den Augen verloren, worauf ich mich hier eingelassen habe.
„Habe ich dir denn dann die Antwort gegeben, die du haben wolltest?", frage ich.
„Für den Moment, ja", bestätigt Leif, den Blick auf die Straße gerichtet. Die Sonne ist hinter einer dichten grauen Wolkendecke verschwunden und in dem Moment, in dem mir das auffällt, prallen auch schon die ersten dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Es ist so lange her, dass ich etwas Echtes im richtigen Tageslicht gesehen habe, dass ich das Fenster des Taxis öffne und meine Hand hinaushalte. Die kühlen Tropfen kühlen meine erhitzte Haut, auch, wenn sie nicht echt ist. Aber wen kümmert es, solange es sich echt anfühlt.
„Wohin fahren wir dann jetzt?", frage ich Leif.
„Dorthin, wohin du musst", erwidert er. Prompt verfinstert sich der Himmel und ich ziehe sicherheitshalber meine Hand wieder nach innen.
„Woher weißt du das eigentlich?", will ich wissen. Bevor Leif mir eine Abfuhr verpassen kann, präzisiere ich meine Frage zu: „Was bist du?"
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