Ende und Beginn
Es ist ein seltsames Gefühl, mir diese Tatsache einzugestehen. Ich gehöre nicht mehr hierhin. Einerseits fühlt es sich an, als wäre ein Gewicht von meinen Schultern genommen worden. Andererseits schlingt sich die Erkenntnis um mein Fußgelenk und fesselt mich an das Bett, vor dem ich nun kniee.
Vorsichtig strecke ich die Hand aus und streiche Noah die Haare aus der Stirn. Es überrascht mich nicht einmal, dass ich es jetzt kann. Er ist eingeschlafen und ich stelle keine Bedrohung für ihn dar.
Aber ich möchte mich noch nicht verabschieden, jedenfalls nicht sofort. Einen kleinen Aufschub habe ich mir verdient.
Also schleiche ich mich aus dem Zimmer und hinüber zu Sina. Auch nach dem Schrecken, den ich ihr eingejagt habe, ist sie irgendwann eingeschlafen.
Ich lasse meine Poltergeistfähigkeiten spielen und Sinas Zimmer nimmt wieder einen normalen Zustand ein. Sind wir ehrlich, das, was sie und Noah aufgeräumt haben, war mehr pro forma.
Es ist so eine Sache mit der Vergebung, überlege ich mir. Ich wünsche mir Gerechtigkeit für Sina. Nachdenklich betrachte ich sie, die blonden Haare, beinahe silbrig im Mondlicht, das durch die offenen Läden fällt.
Es ist so eine Sache mit der Vergebung. Ich glaube nicht, dass ich wirklich schon bereit dafür bin, zu frisch ist die Erinnerung daran, zu schmerzhaft das, was sie mir angetan hat. Aber die Gerechtigkeit, für die ich gerne sorgen würde ... das wäre wohl nicht wirklich gerecht. Und bevor sich diese Wut, die ich vorhin gefühlt habe, in mich eingräbt und mich zu etwas macht, das ich unter gar keinen Umständen sein will ... da lasse ich sie lieber los.
Um meinetwillen.
Vielleicht kann Sina für sich selbst irgendwann das Gleiche tun, aber das ist nicht meine Aufgabe.
Schließlich gehe ich zurück in Noahs Zimmer, während sich der Himmel draußen langsam hellblau und der Horizont bereits rosa verfärbt. Es ist der härteste Gang meines Geisterdaseins. Es wäre so viel leichter, weiter zu schreien und zu weinen. Aber wenn ich Leif wirklich beweisen will, dass er Unrecht hatte, was mich betrifft, dann muss ich jetzt loslassen.
„Ich weiß nicht, ob ich wirklich genau weiß, was das bedeutet", murmele ich an Noah gerichtet. „Aber ich glaube, ich habe dich geliebt, als ich noch am Leben war. Ein Teil von mir tut das immer noch. Aber ... ich möchte als Tote nicht der Klotz an deinem Bein sein, der dich zurückhält, wenn du die Welt sehen möchtest."
Ich denke an die Weltkarte auf dem Schrank zurück.
Während ich noch überlege, was meine nächsten Schritte sein werden, bemerke ich, dass meine Haare ihre Farbe ändern. Das Schwarz verblasst und überlässt dem ursprünglichen Blond seinen Platz, die schwarze Spitze wird wieder zu Jeans und einem Kapuzenpulli. Ich bin wieder ich.
„Vielleicht kannst du dir eine neue Karte nehmen und eigene Linien darauf ziehen. Vielleicht solche, die nicht darauf basieren, wohin ich mit meinen furchtbaren Zielkünsten einen verbogenen Dartpfeil geworfen habe. Und ... wenn du etwas anderes machen möchtest, dann mach das."
Das meiste davon sage ich für mich, denn Noah war klüger als ich und hat vieles davon selbst schon erkannt. Ich muss mich aber noch einmal daran erinnern, dass es auch für mich gilt. Denn ich muss weitermachen. Wahrscheinlich hätte ich es mir als Lebende niemals träumen lassen, dass das für Geister ebenso gelten könnte.
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Als ich noch in Noahs Zimmer stehe und versuche, mich abzuwenden, spüre ich, wie etwas anderes sich wie Fühler nach mir ausstreckt.
Es ist ein warmes Gefühl, ähnlich den ersten Strahlen des Sonnenaufgangs. Wenn ich müsste, würde ich es als golden betiteln.
Mir wird ein weiteres Angebot vermittelt, begreife ich. Weiterzugehen. Als ich mich gedanklich danach ausstrecke, habe ich das Gefühl, mich aufzulösen. Allerdings auf eine Art, die mich sicher sein lässt, dass alles in Ordnung ist.
Will ich das?
Bevor ich auf diese Frage eine Antwort finden kann, tritt jemand durch das Fenster ein. Und zwar buchstäblich durch das Fenster. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, Kyle ist außer Atem. Aber wir können nicht außer Atem geraten, wir sind Geister.
„Ist alles in Ordnung bei dir?", keucht er. Doch, er ist eindeutig außer Atem. „Ich wollte eigentlich früher hier sein, aber da hat irgendjemand mal einen anständigen Salzkreis gezogen und –"
Er bringt seinen Satz nicht zu Ende. Ich bin zu ihm gestürzt und habe ihn in die Arme geschlossen. Trotz der geschmacklosen Skater-Klamotten.
Kyle lässt es einen Moment über sich ergehen und schiebt mich dann eine Armeslänge von sich. „Bist du von diesem Taxi durch einen Doppelgänger ersetzt worden?"
Ich lache schwach. „Es hat sich alle Mühe gegeben", erwidere ich, nachdem Kyle mich anschaut, als müsste er überprüfen, ob ich meinen Verstand verloren habe. „Aber ich habe es nicht gelassen."
Er rückt die Baseball-Cap auf seinen Haaren zurecht. „Klingt nach einer spannenden Geschichte."
Ich zucke mit den Schultern. „Kyle ... es tut mir leid, was ich gesagt habe. Das war ... mies. Entschuldige bitte."
Kurz mustert er mich ungewohnt ernst, dann zieht sich ein viel gewohnteres schiefes Grinsen über sein Gesicht. „Du bist ein Poltergeist, Miri. Mies sein ist so etwas wie deine Jobbeschreibung."
„Ich –"
„Ich weiß, was du sagen willst", winkt er ab. „Du brauchst es nicht wirklich sagen. Eigentlich will ich nur wissen, was dich so wahnsinnig einsichtig gemacht hat."
Das vorsichtige, warme Angebot ist zurückgewichen, aber ich kann es noch immer spüren, irgendwo in der Ecke meines Geisterhirns. Wenn ich das Bedürfnis haben sollte, könnte ich darauf zurückkommen. Aber für den Moment ... für den Moment brauche ich es nicht.
Ich werfe noch einmal einen Blick zurück zu Noah. Seine Haare liegen nun so, dass sie ihm nicht in die Augen fallen, sondern ganz knapp darüber enden. Es ist dieser Anblick, an den ich mich erinnern möchte. Erinnern. Aber an dem ich mich nicht mehr festklammern werde.
Vielleicht ist es auch für mich Zeit, manche Dinge auf den Schrank zu räumen. Nachdem Leif mich dazu gezwungen hat, die Inhalte meines Schranks über mir auszuleeren. Übertragen gesprochen.
„Wenn du willst, erzähle ich dir sogar alles", sage ich. „Ich habe noch eine wichtige Neuigkeit."
„Bitte."
Kyle und ich schlendern gemeinsam zu dem Fenster und treten heraus, direkt in den Sonnenaufgang, der seine Strahlen gerade über die Dächer der Häuser schickt und einen neuen Beginn ankündigt. Für den Moment habe ich sogar das an Sicherheit grenzende Gefühl, dass es heute nicht regnen wird.
„Ich habe es mir anders überlegt", sage ich, noch während wir langsam zu Boden schweben. „Ich erzähle dir die Geschichte doch nicht."
Kyle streift mich mit einem empörten Blick. „Wieso?"
„Weil ich noch eine Bedingung setzen will. Du ziehst diese Baseball-Cap ab."
„Kommt gar nicht in Frage", protestiert er und zieht das verfluchte Ding noch fester auf seinen Kopf. „Ich bin mir sicher, als ich noch gelebt habe, war sie von essenzieller Bedeutung für mich."
Ich seufze. „Du weißt überhaupt nichts über das, was war, als du noch gelebt hast!"
Kyle grinst nur. „Und dabei bleibt es. Ich habe echt gar keine Lust, mir durch irgendwas meine gute Laune kaputtmachen zu lassen. Außerdem kannst du so nicht beweisen, dass ich Unrecht habe." Kurz blitzt etwas wie Ernsthaftigkeit in seinen Augen auf. „Ich bin glücklich, da, wo ich bin. Da brauche ich den ganzen Rest nicht."
Als wir auf dem Rasen aufkommen, bewegt sich etwas am Rande meines Blickfelds. Direkt unter dem Apfelbaum.
Theresa kommt auf offensichtlich wackeligen Gliedmaßen auf uns zu. Und glaubt mir, es gibt nichts Gruseligeres als ein Echo, das zu lächeln versucht. Ich bin froh, dass ich keine Albträume mehr bekommen kann.
„Ach ja", sage ich leichthin und grinse Kyle zu, dem sehr unästhetisch der Mund offen stehen bleibt. „Da haben wir die Neuigkeit ..."
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