Ein enormes poltergeistliches Dilemma
Die Luft in Leifs Taxi fühlt sich dick an, als könnte ich meine Hand ausstrecken und hineingreifen. Ein enges Band scheint sich um meine Brust geschlossen zu haben und dafür zu sorgen, dass ich nicht mehr richtig atmen kann. Oder falsch. Oder was auch immer das ist, was ich gewohnheitsmäßig tue.
Was habe ich mir dabei gedacht, hier einzusteigen? Kyle wird mich vermissen. Mein Fehlen wird sicherlich nicht nur ihm auffallen.
Sollte ich Leif fragen? Was, wenn ihm wegen dummen Fragen Hörner und Fangzähne wachsen? Es kann doch niemand so unauffällig aussehen wie er und dann auch noch so sein.
Da hat mir mein Poltergeistdasein anderes beigebracht.
Aber ich muss die Stille irgendwie füllen, sonst werde ich verrückt.
„Kennst du Theresa?", frage ich schließlich und die Luft ist trocken in meinem Mund. „Sie ist auch ein Poltergeist." Und sie hat mich gestern von deinem Taxi weggestoßen.
„Ja", sagt Leif und lächelt unverbindlich.
„Hast du sie ... neulich gesehen?"
„Nein." Das Lächeln bleibt unbewegt.
„Oh. Okay." Ich schlucke und schweige. „Könntest du mir etwas mehr darüber erzählen, wo sie ist?"
„Wo sie sein muss."
Das ist mehr als das schlichte Nein, das ich erwartet habe, aber es trägt nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Eher im Gegenteil.
„Ist sie ... noch am Leben?"
„Nein."
Für einen Moment scheint sich ein Loch in dem weichen Leder aufzutun und mich zu verschlucken, sodass niemand mehr den Schrei hören kann, der sich in meiner Kehle aufstaut. Dann stocke ich.
„Sie war auch schon nicht mehr am Leben, als sie hier eingestiegen ist, stimmt's?"
„Stimmt."
„Weil wir Geister sind."
„Stimmt."
Ich stoße die Luft aus. Vor uns ziehen die nächtlichen Straßen vorbei.
Leif ist offensichtlich nicht unbedingt ein redseliger Gesprächspartner, aber irgendwie habe ich auch nicht das Gefühl, dass mir im Moment von ihm Gefahr droht.
„Geht es Theresa denn gut, da, wo sie sein muss?"
„Das weiß ich nicht." Leif wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er die Augen wieder auf die Straße richtet. „Ich begleite euch nicht dahin, wo ihr sein müsst. Ich setze euch nur an der Schwelle ab."
„Oh." Mir fällt keine bessere Erwiderung ein.
Eine Weile schweigen wir beide.
„Bist du auch ein Geist?", nehme ich irgendwann den Faden wieder auf.
„Nein", erwidert Leif, das unverbindliche Lächeln zurück auf seinem Gesicht. „Ich bin anders."
Bevor ich weiter nachfragen kann, bremsen wir.
„Was ist los?" Ich werfe einen irritierten Blick aus dem Fenster. Wir sind nicht sehr weit gekommen.
„Hier musst du sein. Heute Nacht."
Ich kann es nicht genau beschreiben, aber irgendwie hatte ich mehr erwartet. Ein Fahren in den Sonnenaufgang der metaphorischen oder der wortwörtlichen Art. Nicht ... einfach zu einem Haus. Es ist eine Eigenschaft des Poltergeistdaseins, dass ich Menschen und Häuser instinktiv zuordnen kann. Deswegen weiß ich auch, wer hier wohnt: das Mädchen mit dem angeblichen betrügerischen Freund.
Mit leicht geöffnetem Mund starre ich durch die getönte Scheibe von Leifs Taxi nach draußen.
„Hierher?", stelle ich noch einmal sicher.
„Du hast heute Abend deine Pflichten vernachlässigt, als du mit Kyle gegangen bist", betont Leif. „Hier solltest du sein. Deine Tätigkeit ist wichtig."
Jetzt reiße ich den Kopf ruckartig zu ihm herum. „Das ganze Gerede und jetzt ist deine Aussage eigentlich nur ‚Kind, es ist wichtig, seine Arbeit zu machen'?"
So langsam ärgert mich das unverbindliche Lächeln auf Leifs Gesicht. „Du musst heute hier sein", ist alles, was er erwidert.
Ich kann gerade noch ein Schnauben zurückhalten. Deswegen habe ich mir solche Angst einjagen lassen? Um jetzt dorthin gefahren zu werden, wo ich ohne Probleme – Ich erspare es mir, den Gedanken auch nur zu Ende zu führen.
Schön, ich muss hier sein? Dann kann ich die Gedanken an das Taxi immerhin hinter mir lassen. Ich bin eingestiegen und es hat sich gezeigt, dass es einfach nur ein exzentrisches Geistertaxi ist, eine Laune der Zwischenwelt, geeignet, um ein paar Poltergeister zu verängstigen. Lächerlich. Und vorhin habe ich doch sowieso geplant, dem Mädchen noch einen Besuch abzustatten. Dann ist das hier meine Gelegenheit.
„Gut." Das Wort kommt nicht ganz so scharf über meine Lippen, wie es in meinen Gedanken geklungen hat. Der kleine Teil von mir, der immer noch Angst vor einem Leif mit Fangzähnen hat, hat meiner Stimme wahrscheinlich ein wenig die Kante genommen.
Ich nicke Leif noch einmal zu, er lächelt und ich öffne die Taxitür. Es fühlt sich immer noch alles so normal an.
Als ich sie hinter mir zuschlage, rechne ich halb damit, dass das Taxi sich in Luft auflöst. Das tut es aber nicht, es bleibt einfach stehen, lautlos wie immer. Erst, als ich die ersten Schritte auf das Haus zu gehe, setzt es sich langsam in Bewegung und der Motor dröhnt in meinen Ohren.
Gut. Ein Haus heimsuchen, mit einem Mädchen, das ein Medium ausgenutzt hat. Das kann ich.
Ich versuche meine Gedanken zu sammeln. Irgendetwas an diesem Abend lässt sie schwirren und sich verknoten.
Dann schüttele ich mich einmal. Ich kann das. Ich bin ein Poltergeist und ich bin gut in meinem Job. Und wenn ich heute hier sein muss oder was auch immer Leif damit sagen wollte, dann werde ich eben hier sein und meinen Job machen.
Es ist nicht einmal das erste Mal, dass ich hier bin. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass hier eine vierköpfige Familie wohnt. Absolute Vorstadtidylle, ein heterosexuelles Pärchen, ein Junge, ein Mädchen.
Nur, dass das Mädchen eine wirklich grundbescheuerte Idee hatte. Jetzt wird das es verfolgen, dessen Aufmerksamkeit es versehentlich auf sich gezogen hat ... oder so. Ich überlege noch, ob das ist, wie ich in einem Horrorfilm dargestellt werden würde, da gleite ich auch schon durch die Vordertür und stehe im Hausinneren.
Ich gehe eine Treppe nach oben, die dankenswerterweise unter meinen Schritten quietscht. Ich weiß genau, wo ich das Mädchen finden werde, in welchem Zimmer es jetzt liegt und schläft.
Blassblaues Mondlicht fällt durch das Fenster, vor die sie nur einen dünnen Vorhang gezogen hat. Auf dem säuberlich aufgeräumten Schreibtisch stapeln sich Schulunterlagen. Sina steht darauf, mit einem Herzchen anstelle des Punktes über dem i.
Sina selbst liegt eingerollt unter ihrer pastellgrünen Bettdecke, eine leichte Falte zwischen den Augenbrauen, ihre blonden Haare wie einen Fächer auf ihrem Kopfkissen verteilt. Sie schläft.
Das werde ich ändern.
Zuerst drücke ich auf den Einschaltknopf ihres Computers. Leise surrend fährt das Gerät hoch, dann springt, genau wie von mir geplant, der Bildschirm an, leuchtend blau und ohne sonstige Anzeige. Er ist so ausgerichtet, dass er direkt auf Sinas Bett leuchtet.
Und auch sonst habe ich Glück gehabt, denn Sina hat offensichtlich einen leichten Schlaf. Der Bildschirm leuchtet kaum fünf Sekunden, da richtet sie sich schon verwirrt in ihrem Bett auf und blinzelt zu der unerwarteten Lichtquelle hinüber.
Sie murmelt etwas Unverständliches, streckt erst die Füße und dann ihre ganzen Beine aus dem Bett und schlurft zu ihrem Bildschirm hinüber. Gähnend tastet sie nach dem Anschaltknopf, drückt eine Zeit lang darauf, bis der Bildschirm mit einem unglücklich klingenden Ploppen wieder ausgeht.
Ich lasse Sina Zeit, bis sie wieder im Bett liegt und die Decke hochgezogen hat, bis ich den Bildschirm wieder anschalte. Dieses Mal wirkt sie schon wacher, als sie sich aufrichtet. Das diabolische Lächeln spielt um meine Lippen.
Als Sina sich aus dem Bett erhebt, bringe ich den Bildschirm zum Flackern. Genau genommen flackert er Verrat im Morsecode aber ich bezweifle, dass Sina das erkennt. Nicht, dass mir das wichtig wäre, manchmal geht es mir auch ganz einfach um mein eigenes Vergnügen. Ich bin ein einfach gestrickter Poltergeist.
Sina erstarrt auf der Stelle. In einem Windstoß schicke ich ihr ihre Hefte vor die Füße. Ich habe natürlich nicht darauf geachtet, um welche Fächer es sich handelt, aber heute musste mein absoluter Glückstag sein. Eines ist nämlich Biologie und die Seite, auf der es vor Sinas Füßen aufschlägt, zeigt die detailgetreue Zeichnung eines menschlichen Herzens.
Und damit kassiere ich meinen ersten Schrei des Abends.
Ich rücke weiter vor, lasse die Vorhänge vor Sinas Fenstern erbeben und die Baumzweige dahinter zu konturlosen Schatten verschwimmen. Sina weicht langsam zurück in Richtung Tür, doch ich stelle sicher, dass der Schlüssel sich in dem Moment, als sie ihn ansieht, langsam im Schloss dreht und sie einsperrt. Anschließend rutscht er aus dem Schloss und fällt zu Boden.
Jetzt kann sie nicht mehr entkommen.
Mit einem zweiten Schrei tastet Sina mit den Händen nach dem Schlüssel, blind in dem Zimmer, das nur noch durch das ekstatische Flackern des Bildschirms erleuchtet wird. Sie wird den Schlüssel so schnell nicht finden und ich habe – auch Sina hat offenbar einen Glückstag. Bevor ich mir eine neue Option ausdenken kann, hat sie den wiedergefudenen Schlüssel ins Schloss gerammt und stürzt nach draußen in den Flur – wo sie direkt in ihren Bruder hineinläuft, der gerade aus dem Bad kommt. Die beiden stürzen zusammen zu Boden, ich eile hinterher und – und gerate in ein enormes poltergeistliches Dilemma.
Ich habe es heute ausschließlich auf Sina abgesehen. Sie hat meinen Unmut auf sich gezogen mit ihrer bescheuerten Idee, eine Séance für ein Teenagerproblem einzuberufen. Ihr Bruder hat nichts damit zu tun.
Dabei hatte ich mich gerade warmgemacht. Wie enttäuschend. Ich begnüge mich damit, das Fenster zu öffnen und einen wütenden Windstoß hinter Sina in den Flur zu schicken. So. Dann kann ihr Bruder sie immerhin lächerlich machen, weil sie das Fenster nicht geschlossen und dann im Halbschlaf halluziniert hat.
Die beiden Geschwister haben sich gerade unter einigen halbernstgemeinten Beleidigungen voneinander befreit.
Zeit für mich zu gehen. Die Sonne müsste ohnehin bald aufgehen.
Als ich mich abwende, laufe ich allerdings beinahe in Sinas Bruder hinein. Er ist zwei oder drei Jahre älter als sie und wirft gerade einen denkbar skeptischen Blick ins Zimmer seiner Schwester.
„Du hast dein Fenster –", fängt er gerade an, da fällt sein Blick auf mich.
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