
Kapitel 9
Gemächlich schaukelte er auf den Wellen hin und her. Elvis hielt er fest umklammert, denn entgegen seiner Erwartungen, war absolut nichts geschehen. Kein einziges Boot. Kein Hubschrauber. Nichts.
Patrick war noch immer gefangen im Nirgendwo.
Das Wasser hatte zwar nicht wirklich an Wärme verloren, doch an der Oberfläche sorgten leichte Brisen für eine eisige Kälte. Er zittert am ganzen Leibe, unfähig, etwas dagegen zu unternehmen.
Müde fuhr er sich durch's Gesicht. Das Salzwasser brannte in seinen Augen, aber lenkte ihn vom Kältestechen in seinen Wangen ab. Patrick warf einen Blick Richtung Himmel, wo ihm ein Lichtermeer entgegen blitzte.
Ihm war entgangen, wie schön diese Nacht hätte sein können, wäre er nicht alleine im Indischen Ozean gewesen, dazu verdammt, seine letzten Atemzüge nass und zitternd zu verbringen.
Er riss seinen Blick wieder los, zurück aus der verträumten Welt der Sterne in die grausame Realität. Doch etwas war anders in seinem mittlerweile vertrauten eintönigen Umfeld. In der Ferne leuchtete ein rötlich schimmerndes Licht, wie eine Flamme auf dem Wasser.
Patrick stutzte, verwundert über das eigenartige Spektakel. Kurz hatte er die Hoffnung, das Rettungsboot sei doch noch gekommen, doch wenn es brannte, würde es ihm so oder so nichts bringen. Dennoch begann er langsam zu paddeln. Das Rot zog ihn an, wie das Licht eine Motte.
Er schien Ewigkeiten unterwegs zu sein, ohne, dass er sich erkennbar näherte, bis sein Ziel auf einmal dicht vor ihm auftauchte. Es wirkte, wie ein Portal in einem zweitklassigen Science- Fiction Film. Dunstige Nebelschwaden traten aus der seltsamen Lichtquelle und verpufften in der Nacht. Patrick blinzelte benommen.
"Jetzt bin ich endgültig verrückt geworden", sagte er zu Elvis und streckte langsam seine Hand aus, um nach dem Portal zu greifen, dass ihn noch immer magisch in seinen Bann sog. Doch er konnte das Licht nicht berühren. Es schwebte unschuldig weiter, etwa einen halben Zentimeter über der Wasseroberfläche.
Plötzlich dröhnten dumpfe Schreie aus dem Inneren. Patrick musste sich verhört haben. Er musste halluzinieren. Er wusste, das Wurmlöcher auf der Erde nicht existierten. Es gab keine Portale. Und er war nicht der kleine Prinz, sondern nur ein einfacher Bibliothekar, der allmählich den Verstand verlor. "Zumindest sind die Schreie, die ich gerade höre ein eindeutiges Zeichen dafür", dachte Patrick.
Die Nebelschwaden verdichteten sich und kleine rote Blitze entwichen dem Lichtklumpen. Wie Maden krochen sie über den Dunst. Der Mittelpunkt klarte auf und Patrick sah in einen gigantischen Saal. Eine durchdringende Hitze überkam ihn, als würde sie direkt aus diesem sonderbaren Ort zu ihm strömen und ihn einhüllen. Sofort spürte er den Schweiß von seiner Stirn perlen und er schob Elvis instinktiv hinter sich.
Was, wenn er schmilzt?
Patrick kniff die Augen zusammen. Es war ihm unmöglich, sich aus dem festen Griff des vermeintlichen Portals zu winden und zu fliehen. Und das war es, was er in diesem Augenblick am liebsten getan hätte. Weg von hier, zurück in die kalte, düstere Nacht unter milliarden Sternen, wo die Rettungsboote in ein paar Stunden seine Leiche aufgabeln konnten, wenn sie bis dahin nicht schon untergegangen war.
Ein Schauer durchfuhr ihn bei diesem Gedanken, also richtete er seinen Fokus wieder auf die dunklen Bilder vor ihm. Geysire spritzten dampfende Fontänen in die Höhe, er konnte schemenhafte Umrisse ausmachen, die zu abgemagerten Menschen gehören mussten. Patrick schluckte.
Er war ein erwachsener Mann; so etwas durfte ihn doch nicht einschüchtern. Er hatte weiß Gott, wieviele Stunden mitten im Meer verbracht und war noch bei Sinnen. Oder doch nicht?
Kein Mensch ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren findet, der ihn versteht.
Patrick hatte nie ganz nachvollziehen können, weshalb Nietzsche so einen Schwachsinn von sich gegeben hatte. Schließlich war 'verrückt sein' kein Spaß. Leute saßen in Kliniken, weil sie 'verrückt' waren und Patrick sollte sich einen noch irreren Menschen suchen? Irrer als er selbst, der in just diesem Augenblick auf ein glühendes Portal blickte.
Er schüttelte den Kopf während er weiterhin gebannt auf die schattenhaften Menschen sah. "Warum jemanden finden, der verrückt ist, wenn ich mich auch mit dir abgeben kann?", murmelte er und warf einen Seitenblick zu Elvis, der nach wie vor neben ihm dümpelte.
Das Bild ruckelte, die Hitze wurde unerträglich, dann war es wieder eisig. Patricks Gedanken rasten. Was sehe ich mir hier an? Das Blut rauschte in seinen Ohren, betäubte seine Sinne. So musste es sich anfühlen zu ertrinken, zu dehydrieren, obwohl man umgeben von Wasser war. Er begann zu schreien, brüllte jede Energie raus, die noch in ihm steckte, bis er sich nur noch wie eine leere Menschenhülle an Elvis linken Flügel klammerte, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Und tief in seinem Unterbewusstsein begann eine leise Erinnerung.
Eine Kinderstimme, die sich in seinen Kopf einbrannte, dass es schmerzte.
"Papa", sagte der kleine Junge. "Papa, bitte!"
Patrick schüttelte wild seinen Kopf, als würde er hoffen, die unheimlichen Worte aus seinen Gedanken schleudern zu können. Doch es half nichts. Dafür tat ihm alles weh; Stellen an seinem Körper, von denen er noch nichts gewusst hatte fingen an zu zucken und zu brennen. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Patrick konnte sich nicht beruhigen; all das konnte nicht real sein. Er musste träumen.
Konnten Schmerzen im Traum so unerträglich sein?
"Es tut mir leid, Papa!", schrie der Junge mit tränenerstickter Stimme und Patrick kniff die Augen zusammen, sodass er Sterne sah, bunte Farben, die wie ein Bildschirmschoner das überdeckten, was er nicht sehen wollte, nicht hören wollte.
Und auf keinen Fall spüren wollte.
"Mein Junge", flüsterte er. "Mein Junge, komm her zu–" Ein gellender Schrei unterbrach ihn und gab ihm das Gefühl, zu ertauben. Wieder schrie er auf. "Wenn sie mich bei dem Lärm nicht hören, dann weiß ich auch nicht", dachte Patrick und freute sich insgeheim schon auf seine Rettung.
Dann durchzuckte eine neue Schmerzwelle seinen Körper bis auf die Knochen. "Patrick! Paddy! Tu doch etwas!", kreischte die vertraute Stimme einer Frau. Er nickte schwach und schlang seine Finger noch fester um den kleinen Plastikgriff an Elvis' Rücken. Das Gummitier schwankte bedrohlich, hielt seinem Gewicht aber stand.
"Ich komme, ich...ich...", murmelte er schwach. "Ich hol...jemanden!"
"Patrick!", schrie die Frau wieder. "Paddy!Paddy, schne–" Den letzten Teil verschluckte sie. Wind kam auf und zerrte an Elvis. Das rote Portal flackerte. Vorsichtig öffnete Patrick ein Auge und als er merkte, dass sich die Schmerzen gelegt hatten, auch das Zweite.
Stille legte sich über den indischen Ozean und das rote Licht schrumpfte zu einem kleinen Feuerball zusammen, bis es schließlich ganz erlosch und Patrick in der altbekannten Einsamkeit zurückließ.
Er ließ ein wenig von Elvis ab und seufzte erschöpft.
"Mein Junge", sagte er wieder und wieder, ohne es wirklich wahrzunehmen. "Mein Junge"
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