23.
Ein Woche später klingelt es an der Haustür. Endlich sehe ich Felicia wieder! Meine Freundin umarmt mich lange. Sie ist erschrocken, wie dünn ich bin. Ich bestehe auch nur mehr aus Haut und Knochen. Vierzig Kilogramm. Ich muss mich jeden Tag ein bisschen steigern. Ich darf schließlich nicht gleich so viel auf einmal essen, sonst würde ich sehr schnell zunehmen und dick werden. Ich kann es noch immer nicht glauben, was in den letzten Jahren geschehen ist. Julian hat mich, als er mich das erste Mal gesehen hat, einfach nur angestarrt. Die Reaktion ist eh von jedem gleich. Ich bin so froh und überglücklich, dass ich nicht mehr eingesperrt bin. Über mich wird fleißig in den Nachrichten gesprochen, doch eines beschäftigt mich. Wie geht es René? Ich weiß, dass er im Gefängnis sitzt und die drei anderen Männer auch, aber er ist derjenige, der mich befreit hat!
"Mama?"
"Ja, Schätzchen?"
"Kann ich jemanden besuchen?"
"Natürlich. Ich fahre dich hin, wenn du möchtest."
"Okay. Zum Gefängnis, bitte." Meine Mum schaut mich verwundert an. "Was willst du denn dort?"
"Jemanden besuchen."
"Deine Entführer etwa?!"
"Ja. René; den Jüngsten." Mama sieht mich skeptisch an, doch schließlich erfüllt sie mir meinen Wunsch. Dort angekommen frage ich nach ihm. Ich habe Glück, denn im Moment ist Besucherzeit. Als er mich erblickt, ist er wie gelähmt, dann flüstert er: "Hannah?"
"René. Ich muss mit dir reden." Ich sitze vor einer Scheibe und rede so mit ihm. Es ist irgendwie seltsam. Ich schaue ihm in seine wunderschönen braunen Augen. Oh, das darf ich eigentlich nicht denken.
"Erstmal danke, dass du mich befreit hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du das machst. Und wo zum Henker warst du in diesen ewigen fünf Jahren?" Ich möchte sofort auf den Punkt kommen.
"In Deutschland. Zu Hause. Die Polizei hat unser Haus durchsucht, aber nichts mehr von dir gefunden, also haben sie uns auch nicht weiter verdächtigt. Wenn wir genau zu dem Zeitpunkt für immer geflüchtet wären, wäre das äußert auffällig gewesen. Es tut mir so unendlich leid, Hannah! Ich habe von Anfang an ein schlechtes Gewissen gehabt bei dieser Sache. In Deutschland hatte ich dich wenigstens im Blick, aber als du in Österreich warst, habe ich nichts von dir gewusst, geschweige denn gehört. Nach fünf Jahren hat es mir gereicht. Dafür hab ich so lange gebraucht. Ich könnte mich umbringen, so sehr hasse ich mich dafür."
"René, ich hab dir verziehen. Bitte hab jetzt kein schlechtes Gewissen. Das ist Vergangenheit, und ich will alles vergessen." René schaut mich traurig an. "Alles?"
Ich lächle ihn an. "Nur dich nicht." Nun lächelt er ebenfalls. "Wenn du hier raus bist, heirate ich dich." René reißt seine Augen auf. "Was?!"
"Auch wenn ich dich unter etwas seltsamen Umständen kennengelernt habe, trotzdem liebe ich dich ... Mehr als Julian." René atmet tief ein und wieder aus. Ich weiß, dass das jetzt irgendwie unfair gegenüber Jul ist, doch ich habe rausgefunden, dass ich meinen Entführer mehr mag. Auch wenn es komisch ist.
"Du kannst doch nicht sagen, dass du mich liebst, nach all dem was ich dir angetan habe!"
"Doch. Ich werde in der nächsten Zeit mit ihm Schluss machen."
"Nein! Das kannst du ihm doch nicht antun! Endlich bist du wieder da, und nun trennst du dich von ihm? Du wirst ihm das Herz brechen!" Ich seufze.
"Bitte mach es nicht komplizierter als es schon ist. Es ist meine Entscheidung, okay?" Ich hasse es, durch eine so dicke Glasscheibe mit ein paar Löchern rufen zu müssen. Ein Gefängniswärter kommt und kündet an, dass die Besucherzeit zu Ende ist. Ich verabschiede mich von René und folge dem Mann nach draußen.
"Wie lange muss er noch hier bleiben?"
"Ist das nicht Ihr Entführer?", fragt er mich stattdessen verwundert.
"Ja, aber ich muss es trotzdem wissen."
"Oh, ich verstehe. Sie haben Angst, dass sie erneut in die Hände dieser Männer kommen könnten, aber keine Sorge. Wir treiben den Vieren diese Flausen aus."
"Nein, das ist es nicht. Ach egal." Danach steige ich wieder ins Auto meiner Mum und gemeinsam fahren wir wieder nach Hause. Meine Eltern verwöhnen mich, einfach, weil sie so froh sind, dass ich hier bin. Sie haben es nicht besonders gerne, wenn ich allein nach draußen gehe, doch es würde echt blöd ausschauen, wenn ich überall einen Bodyguard mitschleppen würde. Jede Woche besuche ich René. Ein Polizist hat mir mitgeteilt, dass wenn sich René gut benimmt, er früher raus darf. Ein Jahr geht das so dahin. Inzwischen arbeite ich in einer kleinen Firma als Sekretärin. Ich verdiene zwar nicht viel, doch es reicht mir. René macht keine Faxen und legt sich nie mit den Gefängniswärtern an. Er will nicht mehr dort eingesperrt sein, deswegen versucht er überfreundlich zu sein und alles zu machen, was sie von ihm verlangen. Vor einem Jahr, als ich René gesagt habe, dass ich mit Julian Schluss mache, bin ich drei Tage später zu ihm gefahren und wollte es hinter mich bringen. Nicht mein Freund hat aufgemacht, sondern eine junge Frau mit langen blonden Haaren und eisblauen Augen. Sie hat hochnäsig auf mich hinuntergesehen und ihre Hände in die kurvigen Hüften gestemmt.
"Was willst du hier?"
"Ich will zu Jul."
"Er ist beschäftigt."
"Er ist mein Freund, also darf ich ja wohl zu ihm, oder?"
"Dein Freund?! Das ist er schon lange nicht mehr, Mädchen. Als du noch nicht da warst, sondern gefangen, haben wir uns verliebt. Oh, er hat die ganze Zeit von dir gesprochen, aber jetzt nicht mehr. Wir werden bald heiraten, also kannst du dich verpissen. Ciao!"
Und die Tür wurde zugeschlagen. Traurig bin ich vor Julians Haus gestanden. Er hat mich also betrogen. Na ja, ich darf mich nicht aufregen; ich hab das Gleiche getan. Trotzdem enttäuscht bin ich nach Hause zurückgekehrt und hab mich in meinem Zimmer verschanzt. Später habe ich Feli mein Herz ausgeschüttet, doch sie hat nur gemeint, dass ich mir eine richtige Trennung erspart hätte. Nun ist es ganz vorbei, ohne dass wir darüber geredet haben. Okay, natürlich gibt es immer verschiedene Möglichkeiten. Also bin ich seit neun Monaten Single. Mit René will ich erst zusammen sein, wenn er frei ist. Ich weiß jetzt schon, dass es für Aufruhr sorgen wird, wenn die damals Entführte mit ihrem eigenen Entführer zusammen ist, doch ich will nicht mehr ohne ihn! Ich brauche ihn, und wenn er nicht hier ist, fehlt irgendwas. Ich hoffe nur, dass er so bald wie möglich entlassen wird ...
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