19.
Nach fünf Jahren beschließt Anton, mit mir einen Ausflug in die Schweiz zu machen. Was wir dort machen? Wandern in einem Ort namens Rhonetal. Komischer Name, doch der Grauhaarige hat darauf bestanden - und schließlich habe ich ja gelernt, zu folgen. Das Wandern ist ziemlich anstrengend gewesen; zumindest für mich, weil ich schon Jahre keinen Sport mehr gemacht habe. Aber es ist auch toll gewesen, weil ich endlich wieder Berge und etwas von der Welt gesehen habe.
Natürlich haben auch die Schweizer Bilder von mir in den Zeitungen gesehen und meinen Namen in den Nachrichten gehört, deswegen hat Anton ziemlich aufpassen müssen, doch es hat sich sowieso keiner um uns geschert. Die Leute sind an uns vorbeigelaufen, was zwar gut für meinen Entführer war, jedoch nicht für mich. Ich sehe auch ziemlich anders aus. Meine Haare sind viel kürzer, mein Körper ist schmaler und ich sehe krank aus durch meine bleiche Haut und den dunklen Ringen unter den ausdruckslosen Augen.
Hin und wieder hatte man Murmeltiere und die verschiedensten Vögel pfeifen und zwitschern hören können.
Am Abend sind wir wieder in Wien angekommen. Sofort bin ich in mein Zimmer gesperrt worden. Es hat mir heute gut getan, ein wenig Sport zu treiben und frische Luft zu schnappen. In Gedanken versunken liege ich in meinem Bett und spiele mit einer Haarsträhne. Anton hat sie schon länger nicht mehr abrasiert, sodass sie mir bis zur Schulter reichen.
"In deinem Terminkalender gibt es nun etwas Neues", verkündet Anton eines Tages mit stolzer Miene, als ich gerade im Garten das Blumenbeet umgrabe. Ich stoppe kurz, um mich an der Nase zu kratzen, dann drehe ich mich zu ihm um und frage: "Und wie lautet es?"
"Autowaschen. Es kommt nur ungefähr einmal im Monat vor, also ist es nicht so schlimm. Natürlich ist mir das zu wenig. Es gibt ab jetzt auch noch Kochen und Massieren. Damit meine ich, dass du mich verwöhnst. An den Füßen, am Kopf, am Rücken ..." Angeekelt wende ich mich ab. Gott sei Dank hat er es nicht gemerkt.
"Morgen ist zuerst Gemüsebeet, Autowaschen, danach Kochen dann und dann gibt es erst eine Pause für dich. Das hört sich doch gut an, oder?"
"Mh-mh." Der Mann hinter mir lacht laut auf. Plötzlich hört man, wie etwas knirscht. Als würde ein Fahrzeug über Kies fahren. Mein Entführer springt erschrocken auf und flucht. "Scheiße, du musst weg!" Er packt mich um die Taille und befördert mich in die kleine Gartenhütte. "Wehe, du gibst einen Laut von dir", zischt er mir zu. Kurz darauf ertönt eine weibliche Stimme, die so klingt, als gehöre sie zu einer älteren Frau. Gerade noch rechtzeitig schlägt er die Tür zu.
"Mama, was für eine Überraschung. Ich hab völlig vergessen, dass du heute kommst."
Mama?! Ich versuche, aus dem verstaubten Fenster zu schauen. Ich klettere auf einen alten Holztisch und von dort weiter auf eine kaputte Kaffeemaschine, die mich sogar aushält. Okay, ich habe nur mehr vierzig Kilo, aber trotzdem wundert es mich. Ich spähe hinaus und entdecke eine alte Frau (ich schätze sie so um die siebzig) mit weißen Haaren und vielen Falten im Gesicht. Irgendwie sieht sie Anton ziemlich ähnlich, wobei sie viel netter aussieht.
"Ach, mein Sohn. Es ist Donnerstag! Da besuche ich dich doch jede Woche! Sonst würdest du mit dem Garten und dem Haus nicht zurechtkommen", erwidert sie und umarmt Anton. Das ist mir noch nie aufgefallen. Mein Entführer hat also schon eine Hilfe im Haus, oder was? Und mich jetzt auch noch? Deswegen darf ich an einem Donnerstag nie aus meiner Zelle raus, und ich hab gedacht, dass das mein freier Tag ist. Eigentlich hätte ich um Hilfe schreien können, doch es würde doch nur wieder gleich enden: Schläge von Anton, bis ich bewusstlos am Boden liege, kein Essen und Trinken, ewig kein Licht mehr und so weiter, also halte ich lieber meine Klappe.
"Ja, stimmt. Tut mir leid."
"Seit wann bist du denn eigentlich so selbstständig? Und überhaupt: Seit wann interessiert dich Gartenarbeit? Die Blumen- und Gemüsebeete sind sehr ordentlich." Oh, vielen Dank, liebe Mutter von Anton!
"Na ja, ich hab's einfach mal probiert und rausgefunden, dass es Spaß macht. Es ist ähm ... sehr schön, wenn man sein eigenes Gemüse essen kann ..." Seine Mutter tätschelt ihm den Oberarm und scheint stolz zu sein.
"Endlich wirst du erwachsen, mein Sohn. Dein Vater wäre sehr glücklich darüber", sagt sie. In Antons Augen blitzt kurz Schmerz auf, doch so schnell wie er gekommen ist, verschwindet der Ausdruck auch wieder.
"Mama, wollen wir nicht reingehen um ein Tässchen Tee zu trinken?", schlägt Anton seiner Mutter vor und legt ihr behutsam einen Arm um die zierliche Schulter.
"Wie du meinst. Wenn du ab jetzt die Haus- und Gartenarbeit alleine machen willst - bitteschön."
"Ich denke, ich werde es schaffen", antwortet er und wirft einen Blick auf die Hütte, in der ich festsitze. Na toll. Die nächsten zweieinhalb Stunden darf ich also zwischen Spinnen und ihren Netzen, Gerümpel und Mäusen eingesperrt sein. Als mich mein nun erwachsen gewordener Entführer rauslässt, bin ich so erleichtert, dass ich mein Zimmer für sehr gemütlich halte. Ich werde auch gleich darauf unter die Erde gesperrt. Ich wasche mir mein Gesicht und meine Hände, um den Schmutz vom Gartenumgraben abzubekommen. Anton hat mir noch etwas zu essen da gelassen. Eine klare Suppe und ein Stück Torte, die wahrscheinlich seine Mutter gemacht hat. Erdbeer, mhh!
Am nächsten Tag erledige ich meine Aufgaben. Gemüsebeet, Autowaschen und dann Kochen. Ich staubsauge das Auto und putze es außen mit einem Schwamm und einem Wasserschlauch. Heute ist ein ziemlich heißer Tag, also erlaube ich mir selbst, den kalten Wasserstrahl auf meine Beine zu richten.
"Hey, was soll das werden?! Du bist nicht mein Auto!", ruft da auch schon Anton und reißt mir den grünen Schlauch aus der Hand. Hab ich dir das erlaubt?" Ich schüttle meinen Kopf und murmle ein 'Tut mir leid'.
Ich habe keine Übung darin, eine Mahlzeit anzurichten, doch Schnitzel schaffe ich sogar. Anton ist nicht besonders begeistert, doch er isst es trotz schwarzer Unterseite. "War das gestern deine Mutter?", frage ich ihn, während er sich eine Gabel voll in den Mund schiebt.
"Ja. Hast du gelauscht?"
"Na ja, man hat alles gehört, ohne dass man recht zuhören hätte müssen. Diese Gartenhütte ist nicht besonders schalldicht ...", erwidere ich. Anton wirft mir einen bösen Blick zu. Danach werde ich wieder einmal in mein Zimmer gesperrt und verbringe dort den restlichen Tag.
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